Nach mehr als einem Jahrhundert des Rätselratens haben Biologen nun erstmals die weiterentwickelte Form eines außergewöhnlichen Meerestiers beobachtet, von dem bisher nur die Larven bekannt waren. Die Facetotecta genannte Klasse von Lebewesen kommt in allen Weltmeeren vor, doch noch nie hat ein Forscher ein erwachsenes Exemplar zu Gesicht bekommen. Dank einer Hormonbehandlung ist es dänischen und japanischen Forschern nun gelungen, die Larven der Tiere zumindest zu einem höherem Reifestadium heranwachsen zu lassen. Heraus kam eine überraschend primitive, schneckenartige Lebensform, was darauf hindeutet, dass die erwachsenen Tiere wahrscheinlich nur als Parasiten existieren können.
Bereits 1899 hatten Forscher Facetotecta-Larven, die von der Arktis bis in die Tropen vorkommen, wissenschaftlich beschrieben, doch die Suche nach der ausgewachsenen Form war jahrzehntelang erfolglos geblieben. Einen großen Schritt zur Lüftung dieses Geheimnisses schafften nun Henrik Glenner und seine Kollegen, als sie an der Küste Japans Planktonproben sammelten und daraus Facetotecta-Larven gewannen. Die Forscher behandelten die Larven, die sich rund 40 verschiedenen Arten zuordnen ließen, mit einem bei Schalentieren verbreiteten Hormon, das die Reifung anregt. So konnten sie die Larven zwar nicht zu erwachsenen Tieren heranreifen lassen, jedoch in eine Art Nach-Larven-Stadium versetzen.
Doch das Lebewesen, das dabei entstand, überraschte die Wissenschaftler in seiner Einfachheit: Die Tiere warfen ihr Außenskelett ab und zum Vorschein kam ein weiches, schneckenähnliches Meerestier mit verkümmerter Muskulatur und degenerierten Augen. Es erinnerte die Forscher an die Erscheinungsformen einer verwandten Gruppe von Meerestieren, die im Erwachsenenalter als Parasiten leben. Die Wissenschaftler vermuten daher, dass die erwachsenen Exemplare von Facetotecta gleichfalls parasitär leben. Wie und auf oder in welchen anderen Meereslebewesen, ist jedoch noch völlig unklar.
Henrik Glenner, Jens Hoeg (Universität in Kopenhagen) et al.: BMC Biology, Online-Vorabveröffentlichung ddp/wissenschaft.de ? Ulrich Dewald