Bell hat mit seiner Ungleichung eine Möglichkeit geschaffen, ein früheres Gedankenexperiment von Einstein experimentell zu überprüfen. Einstein hatte im Jahr 1935 zusammen mit seinen Kollegen Boris Podolsky und Nathan Rosen gezeigt, dass die Quantenmechanik es ermöglicht, zwei Teilchen derart miteinander zu verschränken, dass fortan eine Art telepathische Beziehung zwischen ihnen besteht: Eine Messung eines Zustandes eines der beiden Teilchen beeinflusst simultan den entsprechenden Zustand seines “Zwillingsbruders” ? und zwar unabhängig davon, wie weit die beiden Teilchen inzwischen voneinander entfernt sind. Besonders letzteres verursachte Einstein große Bauchschmerzen, da seine Spezielle Relativitätstheorie keine Informationsübertragung mit Überlichtgeschwindigkeit zulässt. Eine Theorie, die wie die Quantentheorie die Existenz solch einer “spukhaften Fernwirkung” ? wie Einstein die Verschränkung nannte ? vorhersagt, konnte seiner Meinung nach nicht richtig sein.
Im Jahr 1982 führte der französische Physiker Alain Aspect ein Experiment zur Überprüfung der Bellschen Ungleichung durch. Er fand eine Verletzung der Ungleichung, was für die Richtigkeit der Quantentheorie und für die Existenz der spukhaften Fernwirkung spricht. Inzwischen sind zahlreiche vergleichbare Experimente durchgeführt worden, die Aspects Ergebnis immer wieder bestätigten.
Damit haben Physiker nun die Wahl zwischen drei Übeln. Denn Bell hatte in seiner Ungleichung gezeigt, dass die Quantentheorie genau dann falsche Vorhersagen macht, wenn drei Voraussetzungen richtig sind: Erstens haben die am Experiment beteiligten Experimentatoren einen freien Willen. Welche Eigenschaft der Teilchen gemessen wird, darf nicht vorbestimmt sein. Zweitens haben die Teilchen all ihre Eigenschaften auch dann, wenn keine Messung vorgenommen wird. Dies entspricht Einsteins Glaube an versteckte Variablen. Drittens können Auswirkungen nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit übertragen werden.
Wenn also die Quantentheorie richtig ist, dann muss mindestens eine der drei Vorraussetzungen falsch sein. Mit der Nichtexistenz eines freien Willens können sich nicht viele Physiker anfreunden, während sich die meisten mit der Nichtexistenz von versteckten Variablen arrangiert haben. Dagegen hat eine Gruppe um Nicolas Gisin von der Universität Genf aus Ergebnissen ihrer Experimente berechnet, dass die Auswirkungen der Verschränkung zwischen zwei Teilchen mit mindestens zehnmillionenfacher Lichtgeschwindigkeit übertragen werden. Dies widerspricht jedoch nicht der Speziellen Relativitätstheorie, die verbietet, dass Informationen schneller als das Licht übertragen werden. Eine Informationsübertragung ist mittels einer Verschränkung nicht möglich.
Nicht alle Physiker sehen die Verletzung der Bellschen Ungleichung und damit die Richtigkeit der Quantenmechanik als bewiesen an. Der Grund: In allen bisherigen Experimenten konnte nur ein geringer Bruchteil der am Experiment beteiligten Teilchen vermessen werden. Denkbar wäre, dass aus unbekannten Gründen ausgerechnet dieser Bruchteil die Bellsche Ungleichung verletzt, während alle Teilchen, die den Experimentatoren durch die Lappen gehen, sie nicht verletzen.
Verbesserte Experimente, die dies klären sollen, werden derzeit geplant. Denkbar wäre also, dass Gott doch nicht würfelt, dass wir einen freien Willen haben und dass gleichzeitig physikalische Teilchen auch dann Eigenschaften haben, wenn wir diese nicht messen. Und auch Einstein könnte seine Bauchschmerzen vergessen.
New Scientist, 18. Juni, S. 32