Der Stammbaum des Lebens beginnt nicht mit einer einzigen, ersten Zelle. Er wurzelt in einer Art Gen-Kollektiv, in dem die Vorläufer der ersten Zellen ihre Gene und Proteine durch horizontalen Gentransfer munter untereinander austauschten. Diese Theorie vertritt der Biologe Carl Woese von der University of Illinois im Fachblatt Proceedings of the National Academy of Sciences.
Woese stellt damit die Darwinsche Theorie in Frage, nach der sämtliche Lebewesen von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen. Seiner Meinung nach gibt es eine Schwelle, ab der die ersten Zellen so kompliziert wurden, dass der horizontale Gentransfer und der Austausch evolutionärer Erfindungen nicht mehr so leicht möglich war. Ab diesem Zeitpunkt, den Woese „Darwinsche Schwelle“ nannte, wurde die Weitergabe neuer Entwicklungen zu den Nachfahren, also der vertikale Gentransfer, wichtiger. Ab diesem Zeitpunkt könne man überhaupt erst von Abstammung reden.
Dem Forscher zufolge entstanden die drei grundlegenden Zelltypen, aus denen heute alle Lebensformen bestehen, nämlich Bakterien ohne Zellkern (Prokaryonten), Einzeller mit Zellkern (Eukaryonten) und die Archäen unabhängig voneinander. Damit widerspricht er der gängigen Theorie, die Eurkaryonten hätten sich durch Symbiose aus Prokaryonten entwickelt, indem sie sich andere Zelltypen einverleibten.
Bislang war dem horizontalen Gentransfer nur eine Nebenrolle in der Evolution zugebilligt worden. Woese studierte jahrelang Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den drei Zelltypen und kam zu dem Schluss, dass sie keinen gemeinsamen Ursprung haben können, manche ihrer Eigenschaften aber von einem Zelltyp zum anderen weitergegeben worden sein müssen.
Ute Kehse