Bislang arbeitet die Versicherungswirtschaft nach Angaben ihres Branchenverbandes GDV in Berlin noch nach einem vereinfachten Verfahren, bei dem alle Beteiligten über einen Kamm geschoren werden. Dieses System greift immer dann, wenn mehr als 50 Fahrzeuge involviert sind. Bei besonders widrigen Umständen, die wie Glatteis oder Nebel der Rekonstruktion erschweren, wird bereits ab 20 Fahrzeugen pauschal abgerechnet.
In solchen Fällen bestimmen alle beteiligten Versicherungen eine so genannte Lenkungskommission, die eine gesamtschuldnerische Haftung aller Beteiligten unterstellt. Für die Betroffenen entfällt dadurch der Nachweis, wer den konkreten Schaden an seinem Wagen verursacht hat. Außerdem bleibt der Schadensfreiheitsrabatt unangetastet und können Beteiligte auf eine schnellere Entschädigung hoffen. Doch das System hat einen Haken. Denn in aller Regel wird bei Fahrzeugschäden von einer Mithaftung des Fahrers ausgegangen, so dass dieser auf einem Teil seiner Reparaturkosten sitzen bleibt oder gegen die Versicherung vor Gericht ziehen muss. Die Folge sind zahlreiche Regalmeter wissenschaftlicher Gutachten und nur selten eine klare, unumstrittene Entscheidung.
Doch schon bald könnte der Computer den Nebel über so mancher Unfallanalyse lichten und Ordnung in das Chaos von Bremsspuren, Glassplittern und Trümmersammlungen bringen. Denn am Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung (IGD) in Darmstadt ist jetzt ein Programm entwickelt worden, mit dem sich Massenkarambolagen wie auf der A7 präzise rekonstruieren lassen.
Als Basis dafür dienen den Software-Technikern nach eigenen Angaben alle Spuren, die die Polizei am Unfallort aufgenommen hat. Wird der Rechner mit diesen Daten gefüttert, liefert er wenig später eine dreidimensionale Simulation, bei der sich der Betrachter per Mausklick durch Raum und Zeit bewegen und den Unfall so aus jeder Perspektive und in jedem Stadium analysieren kann. Auf Knopfdruck entsteht außerdem eine Video-Sequenz, die – auf Wunsch auch in Zeitlupe – den Unfall nachzeichnet und etwa vor Gericht die Beweisführung erleichtern könnte.
Bislang läuft das Programm nur als Pilotprojekt, bei dem in Zusammenarbeit mit der Autobahnpolizei Mühlhausen eine Massenkarambolage mit 124 Autos auf der A8 zwischen Stuttgart und Ulm virtuell aufbereitet wurde. Die Ergebnisse sind nach Angaben aus Darmstadt aber so vielversprechend, dass man mit einer baldigen Marktreife der Software rechnet.
Dabei haben die Entwickler jedoch nicht nur den Gutachterstreit vor Gericht im Sinn. Vielmehr wollen sie die Erkenntnisse ihrer Simulationen auch für das Gefahrentraining von Polizei und Rettungskräften einsetzten. Und wenn Unfallforscher aus den nachgestellten Massenkarambolagen Schlüsse ziehen, mit denen solche spektakulären Crashs künftig vermieden werden können, dann ist man in Darmstadt auch nicht böse.