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Immer mehr Zappelphilippe: Hilft die umstrittene Psychopille?

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Immer mehr Zappelphilippe: Hilft die umstrittene Psychopille?
Schon als Kleinkind hatte Stefan den Ruf eines Zappelphilipps und Störenfrieds weg – rastlos, unkonzentriert und zu heftigen Wutausbrüchen neigend, machte er sich selbst und seiner Umgebung das Leben schwer. „Unsere Familie litt Höllenqualen“, berichtet seine Mutter auf einer Internetseite für betroffene Eltern. Erst als eine Ärztin eine Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität (ADHS) diagnostizierte und Stefan das Medikament Ritalin bekam, wurde aus dem nimmermüden Aktionisten zumindest stundenweise ein Kind, das Spaß am Spiel und konzentrierten Arbeiten fand. Doch seit das Bundesgesundheitsministerium jüngst den drastisch gestiegenen Konsum des Psychomittels bei Kindern monierte, ist um das Medikament ein regelrechter Kampf entbrannt.

Der Hintergrund: Seit 1994 hat sich der Verbrauch von Ritalin und vergleichbaren Präparaten etwa verzehnfacht, allein im Jahr 2000 schluckten doppelt so viele Kinder wie im Vorjahr den Amphetaminabkömmling, der unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Schlagzeilen wie „Psycho-Pillen statt Zeit zum Kuscheln“ waren die Folge. Doch so einfach ist die Sache nicht: Bislang gibt es keine endgültige Klarheit darüber, wie ADHS entsteht. Je nach Angaben sind zwischen zwei und zehn Prozent aller Kinder davon betroffen.

Die einen gehen davon aus, dass Probleme mit den Eltern und der Umwelt so ihr Ventil fänden – sie favorisieren verhaltenstherapeutische Ansätze und lehnen eine medikamentöse Behandlung ab. Die anderen sehen eine Störung im Hirnstoffwechsel als Ursache. Für sie ist Ritalin wichtiger Bestandteil der Therapie – auch wenn dessen Wirkungsweise ebenfalls noch nicht entschlüsselt ist. Wahrscheinlich steigert die Substanz Methylphenidat die Wirkung der Nervenbotenstoffe Dopamin und Noradrenalin im Gehirn. Genau diese Weiterleitung ist bei hyperaktiven Kindern offenbar gestört und wird durch Ritalin verbessert.

Sachlichkeit in die erhitzte Debatte zu bringen, hat sich deshalb ein bundesweit einzigartiger Arbeitskreis in Hamburg vorgenommen. Elternverbände, Kinder- und Jugendpsychiater, Pädiater und Psychologen haben sich darin zusammengeschlossen. „Einerseits sind Aufmerksamkeitsstörungen eine Modediagnose, andererseits gibt es dennoch eine mangelhafte Versorgung der wirklich Betroffenen“, sagt Prof. Michael Schulte-Markwort, stellvertretender Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Hamburger Uniklinik. „Nicht jedes unruhige, lebhafte Kind ist hyperaktiv“, betont er. Doch viele Kinderärzte oder auch -psychiater seien mit einer exakten Diagnose schlicht überfordert – und griffen möglicherweise auch bei anders gearteten Störungen vorschnell zum Ritalin-Rezept.

Doch auch bei ADHS ist Methylphenidat in den Augen der meisten Fachleute nur ein möglicher Baustein in einem umfassenden Behandlungskonzept: Ausdauer- und Konzentrationstraining, Entspannungsübungen, ein von den Eltern konsequent strukturierter Alltag mit klaren Anweisungen gehören ebenfalls zum Behandlungsprogramm. Außerdem eine Kombination von Bewegungs-, Beschäftigungs- und Verhaltenstherapie. Auch bewusste Ernährung kann helfen. Prof. Josef Egger von der TU-Kinderklinik Schwabing (München) setzt auf eine individuell zu bestimmende Diät, die seinen Angaben zufolge bei rund 70 Prozent der Betroffenen anschlägt. Umfassende Studien dazu stehen jedoch noch aus.

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Ritalin könne nötig sein, um andere Therapien überhaupt erst zu ermöglichen, sagt Schulte-Markwort. Kurzfristige Nebenwirkungen wie Schlafstörungen, Appetitlosigkeit oder Stimmungsschwankungen müssen bis zu zehn Prozent der kleinen Patienten dafür in Kauf nehmen. Negative Langzeitfolgen hat das seit Jahrzehnten angewandte Medikament hingegen nicht – im Gegenteil: Eine US-Studie zeigte laut Schulte-Markwort jüngst, dass „Suchtkarrieren“ bei ehemaligen ADHS- Kindern, die nicht mit Ritalin behandelt wurden, im späteren Leben häufiger vorkamen als bei ihren medikamentös behandelten Schicksalsgenossen.

Andrea Barthelemy (dpa)
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