“Der traditionellen Sicht nach wurden die Säugetiere durch den Erfolg der Dinosaurier unterdrückt”, erklärt Erstautor David Grossnickle von der University of Chicago. “Deshalb kam ihre Evolution erst richtig in Gang, als die Dinosaurier ausstarben.” Durch das Massenaussterben am Ende der Kreidezeit fiel die Konkurrenz durch die Urzeitechsen weg und damit wurden ökologische Nischen für die Säugetiere frei. Tatsächlich gehören die meisten Säugetierfossilien aus der Kreidezeit zu einem ähnlichen Typus: kleine, rattenähnliche Vierbeiner, die vorwiegend Insekten fraßen. Paläontologen schlossen daraus, dass die Säugetierfauna damals eher artenarm war und erst nach dem Massenaussterben eine explosive Entwicklung und Artbildung einsetzte. Doch in den letzten Jahren haben Forscher einige Fossilien entdeckt, die nicht in dieses Bild passen, darunter einige frühe Huftiere von immerhin Hundegröße. “Das spricht dafür, dass unser Bild vom Timing und der Dynamik der Säugetier-Artbildung unvollständig ist”, sagen Grossnickle und seine Kollegen. Um diese Diskrepanzen zu klären, haben die Forscher die Artenvielfalt und die Ernährungsgewohnheiten der frühen Säugetiere nun erneut untersucht. Sie analysierten dafür Form und Merkmale von Backenzähnen hunderter Säugetierfossilien aus der Zeit vor und nach dem Ende der Kreidezeit.
Vorteil durch Siegeszug der Blütenpflanzen?
Das überraschende Ergebnis: “Die Säugetiere hatten bereits begonnen, sich zu diversifizieren, noch bevor die Dinosaurier ausstarben”, berichtet Grossnickle. Die Zahnformen der Kreidezeit-Säuger sprechen dafür, dass es bereits 10 bis 20 Millionen Jahre vorher nicht nur Insektenfresser gab, sondern auch Allesfresser, auf Früchte spezialisierte Arten, Grasfresser und sogar räuberische Fleischfresser. “Dieser Anstieg ist am auffälligsten bei den Beuteltieren und in der eurasischen Fauna”, so die Forscher. Ihrer Ansicht nach widerlegen diese Befunde klar die Theorie einer “Unterdrückung” der Säugetier-Ausbreitung durch die Dinosaurier. Was diesen frühen Säugern trotz Dinosaurier-Konkurrenz zu ihrem Aufstieg in der späten Kreidezeit verhalf, ist allerdings bisher unklar. Die Wissenschaftler vermuten, dass die Entwicklung und Ausbreitung der ersten Blütenpflanzen dabei eine wichtige Rolle gespielt haben könnte. “Die Blütenpflanzen könnten den Säugetieren neue Samen und Früchte geliefert haben”, erklärt Grossnickle. “Und wenn die Pflanzen eine Koevolution neuer Bestäuberinsekten förderten, könnte diese Insekten ebenfalls eine Nahrungsquelle für die frühen Säugetiere gewesen sein.”
Die Zahnanalysen enthüllten noch einen weiteren Widerspruch zur gängigen Theorie: Entgegen bisherigen Annahmen erlebten auch die frühen Säugetiere während des Massenaussterbens größere Verluste. “Ich hatte eigentlich erwartet, schon unmittelbar nach dem Massenaussterben mehr Säugetierarten zu finden – nicht dagegen eine Abnahme”, sagt Grossnickle. Doch weitere Untersuchungen bestätigten diesen ersten Eindruck: Zu Beginn des Paläogens schrumpfte die morphologische Vielfalt der Zahnformen deutlich, viele Formen, die auf eine spezialisierte Ernährung hindeuten, verschwanden plötzlich, wie die Forscher berichten. Ihrer Ansicht nach spricht dies dafür, dass die Allesfresser und andere Säugetiere mit einer eher vielseitigen Lebens- und Ernährungsweise das Aussterben nahezu unbeschadet überstanden, Arten mit einem sehr engen Nahrungsspektrum dagegen nicht. “Das Aussterbeereignis war wahrscheinlich selektiv für ökologische Spezialisten und Beuteltiere”, so die Wissenschaftler. “Erst im mittleren Paläozän kam dann die ökomorphologische Diversifizierung der Säugetiere wieder in Gang.”
Die neuen Erkenntnisse werfen nicht nur ein neues Licht auf die Evolution unserer fernen Vorfahren, sie sind auch für die heutige Situation relevant: “Die Tierformen, die das Massenaussterben vor 66 Millionen Jahren überlebten, meistens Generalisten, könnten uns verraten, welche Tierarten das aktuelle Aussterben in den nächsten hundert oder tausend Jahren überstehen werden”, so Grossnickle.