In verschiedenen Archiven, in Privatbesitz und in der internationalen Sekundärliteratur spürte sie die Gedichte auf. Sie sind, soweit sich das bei den oft anonymen Texten feststellen lässt, zu zwei Dritteln von Frauen geschrieben worden, für die Schreiben nicht zum Beruf gehörte. Meistens wurden sie zu bestimmten Anlässen, wie Weihnachten, dem Tod einer Freundin oder dem Namenstag, geschrieben. Die Schreiberinnen setzten sich in den Texten vor allem mit der Heimat und ihren Angehörigen auseinander. Die Beziehungen zwischen den Lagerinsassinnen, zwischenmenschliche Spannungen oder Fragen der Sexualität kamen in den Gedichten so gut wie gar nicht vor. Zentrale Themen waren Folter, Terror, Krankheit und Tod, die Peiniger selbst und das Lager Ravensbrück blieben jedoch meist schemenhaft. Jaiser führt dies darauf zurück, dass das Erlebte über das menschliche Fassungsvermögen hinausging und als teuflisches System abstrahiert wurde.
Natur und Gott wurden in dieser Welt selbst für gläubige Katholikinnen fragwürdig. Es kommen zwar Glaubensfiguren vor und viele Texte greifen auf liturgische Formen zurück. Doch anders als in üblichen Gebeten wird Gott zur Befreiung aufgefordert und angefleht. Oft ist auch das Gefühl der Gottverlassenheit und der Gottesferne zu spüren.
Die Natur erscheint häufig in den Gedichten, besonders der Himmel wird beschrieben. Das könnte daher rühren, dass viele Gedichte in den Köpfen der Frauen während des stundenlangen Appellstehens im Freien entstanden. Doch die Natur wird in dieser Lyrik selten friedlich erlebt. Regen, Schnee und Kälte wurden als Bedrohung der ohnehin gefährdeten Existenz gesehen.
Der einzige Trost für die Frauen im KZ war das Schreiben. So wie Nahrung die physische Kraft erhält, gaben die selbst verfassten Gedichte den Frauen ein Stück weit Individualität und Würde zurück.
Literaturhinweis: Constanze Jaiser: „Poetische Zeugnisse. Gedichte aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück 1939-1945“. Stuttgart / Weimar 2000.