Heinrich Best und seine Fachkollegen haben die Zusammensetzung der Nationalparlamente in den letzten 150 Jahren untersucht und davon gesellschaftspolitische Sichtweisen, die zu verschiedenen Zeiten vorherrschten, abgeleitet. So dominierte von 1848 bis zum frühen Kaiserreich in Deutschland der Beamtenparlamentarismus. D.h. in der Frankfurter Nationalversammlung waren 1848 über 50 Prozent der Abgeordneten Staatsdiener. 1867 im konstituierenden Norddeutschen Reichstag waren immerhin noch 47 Prozent Beamte. „Das entsprach der Herausforderung der angestrebten Nations- unsd Staatsbildung“, analysiert Best. „Beamte wie Landräte und Richter galten als die Experten der Machtorganisation.“ In den Niederlanden, in Norwegen und – nach der Jahrhundertwende – in Finnland verlief diese Entwicklung ähnlich. In England jedoch durften hohe Beamte nicht für das Unterhaus kandidieren, und Frankreich fällt in dieser Phase aus der Betrachtung heraus, da hier der Prozess der Nationenbildung 1848 bereits abgeschlossen war.
In der so genannten Gründerzeit in den 1870-er und 1880-er Jahren galt es, die neuen Möglichkeiten der Industrialisierung rasch umzusetzen. Jetzt waren 48 Prozent der Reichstagsabgeordneten Gutsbesitzer und Unternehmer. „Spezialisten in der Schöpfung und Aneignung von Reichtum“, kommentiert Best diese Entwicklung. Auch in anderen Ländern verlief diese Entwicklung ähnlich.
Die nächste Phase war allerdings typisch deutsch. Ab 1890 zeichnete sich eine zunehmende politische Mobilisierung in der Bevölkerung ab. Mit dem Aufstieg der SPD kamen erstmals Parteifunktionäre in den Reichstag. Der Fraktionszwang entstand. Missliebige Verhaltensweisen einzelner Abgeordneter konnten jetzt geahndet werden – mit dem Entzug der parlamentarischen Funktion und der Existenzgrundlage.
Auch in anderen Parteien setzte sich um die Jahrhundertwende das Prinzip durch, Funktionäre als Berufspolitiker zu etablieren. Dadurch gingen, nach Meinung von Best, jedoch die Rückbindungen an die Zivilgesellschaft verloren. Seinen Höhepunkt fand die „Fremdsteuerung“ der Abgeordneten durch die jeweilige Partei in der Weimarer Republik.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stand die Eindämmung des Kommunismus und die Etablierung des Wohlfahrtsstaates im Vordergrund. Im Parlament dominierte wieder der staatstragende öffentliche Dienst. Best zufolge hat sich dies erst um 1990 geändert. Der Soziologe spricht hier vom „Ende der Konsensmodelle“. Der Anteil der Beamten unter den Abgeordneten ging auf 47,1 Prozent zurück, und der Anteil der Funktionäre hat wieder zugenommen.
Die gegenwärtige Phase der Demokratie ist, da die Nationalstaaten in der europäischen Integration an Bedeutung verlieren, durch eine Performanz-Herausforderung gekennzeichnet. Ziel ist jetzt die mediengerechte Darstellung der Politiker und ihrer Politik. Das letzte Projekt der europäischen Polit-Eliten sei ihre Selbstabschaffung, meint Best und prognostiziert mehr „Karriere-Diskontinuitäten“ bzw. eine zunehmende „Zirkulation der politischen Eliten“.
Bibliographische Angabe: Heinrich Best / Maurizio Cotta (eds.): Parliamentary Representatives in Europe 1848-2000. Legislative Recruitment and Careers in Eleven European Countries. Oxford University Press 2000.