„Das Lernen durch Beobachtung spielt eine entscheidende Rolle in der menschlichen Entwicklung, im Alltag und in der Gesellschaft“, erklären Michael Hill vom California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena und seine Kollegen. „Viele unserer Entscheidungen werden durch die Wahl und die Konsequenzen beeinflusst, die wir bei anderen beobachten.“ So kaufen wir eher bei einem Imbiss, an dem schon eine Menschenschlange steht, weil wir vermuten, dass dies ein gutes Essen anzeigt. Unsere Vorfahren wiederum erhöhten ihre Überlebenschancen, wenn sie den Fluchtweg wählten, über den sie zuvor andere Menschen erfolgreich entkommen sahen. Wo dieses Lernen durch Beobachtung aber im Gehirn stattfindet und ob es sich in seinen neuronalen Mechanismen vom Lernen durch eigene Erfahrung unterscheidet, war bisher unbekannt. Hill und seine Kollegen haben dies nun erstmals bis auf die Ebene der einzelnen Neuronen untersucht. Möglich wurde dies, weil zehn Epilepsie-Patienten an ihrer Studie teilnahmen, denen aus diagnostischen Gründen feine Elektroden ins Gehirn eingepflanzt worden waren.
Für das Experiment spielten die zehn Probanden ein simples Kartenspiel. Dabei konnten sie jeweils eine Karte von einem von zwei Kartenstapeln ziehen. Vor Beginn des Spiels verrieten die Forscher ihnen, dass einer der Stapel 70 Prozent gute Karten enthielt, der andere aber nur 30 Prozent. Jeder der Teilnehmer spielte selbst, beobachtete aber auch während mehrerer Durchgänge, wie andere spielten und von den Kartenstapeln zogen. „Im Laufe der Zeit konnten sie so herausfinden, in welchem Stapel mehr gute Karten lagen und ihre Spielstrategie entsprechend anpassen“, erklärt Hill. Während dieses Lernprozesses zeichneten die Forscher die Aktivität in drei Hirnarealen auf, die für ihre Beteiligung an Lernprozessen bekannt sind: in der Amygdala, einem Teil des präfrontalen Cortex sowie dem vorderen Teil des cingulären Cortex. Alle drei Bereiche spielen für die Entscheidungsfindung, aber auch für das Belohnungssystem und die emotionale Reaktion auf das soziale Lernen eine Rolle.
Feuern beim Beobachten und bei Schadenfreude
Dabei zeigte sich: Alle drei Hirnareale reagierten zwar, während die Probanden überlegten, welche Kartenstapel der Bessere sein könnte. Doch nur eine kleine Gruppe von Neuronen im anterioren cingulären Cortex feuerte spezifisch dann, wenn die Probanden andere beim Kartenspiel beobachteten. „Wenn ich jemanden anderen dabei beobachte, wie er eine Karte zieht, dann verändern diese einzelnen Neuronen in meinem Gehirn ihre Feuerrate – und zwar je nachdem, welche Ergebnis ich erwarte“, erklärt Hill. „Wenn ich vermute, dass der Andere gewinnen wird, feuern diese Neuronen stärker. Wenn ich dann aber sehe, dass er verloren hat, kodieren diese Neuronen auch diesen Vorhersage-Irrtum.“ Damit haben die Forscher den Ort in unserem Gehirn lokalisiert, in dem das beobachtenden Lernen stattfindet: Wir stellen beim Zusehen eine Hypothese über den vermutlichen Ausgang auf und merken uns dann, ob sie stimmte oder nicht. Aus diesen Erfahrungen ziehen wir unsere Schlüsse und passen unserer eigenen Handlungen daran an.
Interessanterweise spürten die Forscher in diesem Hirnareal des cingulären Cortex auch den Sitz eines zutiefst menschlichen Gefühls auf: der Schadenfreude. Denn die Neuronen in diesem Bereich feuerten immer dann besonders stark, wenn ein anderer Spieler verlor und der Proband selbst gewann. Umgekehrt verringerten sie ihre Aktivität, wenn die andern gewannen und der Proband verlor. „Natürlich wissen wir nicht genau, was diese Neuronen dabei kodieren“, sagt Hill. „Es ist aber faszinierend, dass etwas wie Schadenfreude sogar auf der Ebene der einzelnen Neuronen in unserem Gehirn nachweisbar ist.“
Michael Hill erklärt seine Ergebnisse im Interview. (Video: Michael Hill)