Wenn man das Stammzelljubiläum feiern will, muss man genau sein: 1981 konnten zunächst nur embryonale Stammzellen von Mäusen isoliert und in einer Petrischale vermehrt werden. Es dauerte bis noch weitere zehn Jahre, bis man die als pluripotent angesehenen Stammzellen auch aus einer menschlichen Keimblase entfernen und anschließend im Laboratorium in vivo wachsen lassen und studieren konnte.
Das gab Biomedizinern die Möglichkeit, nach den genetischen Komponenten der Wunderzellen zu suchen, die ihnen ihre Pluripotenz verleihen. 2006 – also vor zehn Jahren – gelang es den beiden japanischen Wissenschaftlern Shinya Yamanaka und Kazutoshi Takahashi, den von vielen Forschern als sensationell und eigentlich unbegehbar angesehenen Weg zu finden, über den differenzierte Zellen in ihre pluripotente Vorläufer zurückgeführt werden können. Man spricht dabei von der Reprogrammierung der Körperzellen zu induzierten embryonalen Stammzellen (iPS). Mit dieser Methode gibt es zudem viel weniger ethische Probleme, als wenn einem Embryo direkt Stammzellen entnommen werden und somit das werdende Leben gefährdet, meistens beschädigt oder gar vernichtet wird.
Pioniere der Stammzellen-Forschung
Mit diesen iPS Zellen lassen sich derzeit therapeutische Modelle testen, zum Beispiel gegen die Alzheimer-Demenz. Außerdem verfügen diese iPS über die Fähigkeit, sich in ein differenziertes Gewebe zu verwandeln. Dabei entstehen Strukturen, die man als organähnlich – als Organoide – einstufen kann. Übrigens – da in diesen Tagen die Nobelpreisträger verkündet werden, darf man sich darüber wundern, dass von den beiden genannten Japanern nur Shinya Yamanaka nach Stockholm eingeladen wurde. Das war 2012.
Was die erfolgreichen Pioniere der Forschung zu embryonalen Stammzellen angeht, so teilen sich in den Geschichtsbüchern zwei Biologen und eine Biologin den Ruhm: Martin Evans, Matthew Kaufman und Gail Martin, die zudem den heute gebräuchlichen Namen „embryonische Stammzellen“ vorgeschlagen und als Erste benutzt haben. Aber den Nobelpreis hat nur einer von ihnen bekommen, und zwar 2007 der Brite Martin Evans. Den Grund dafür erfährt man wohl erst in ein paar Jahrzehnten. Vorher bleiben die Unterlagen und Begründungen, die zur Entscheidung geführt haben, geheim und hinter verschlossenen Türen. Wikileaks wäre hier vielleicht ganz hilfreich.
Wie sieht die Revolution aus?
Unabhängig davon hat die Verfügbarkeit von embryonalen Stammzellen den Entwicklungsbiologen kräftig geholfen, Einsichten ins Werden von Säugetieren zu bekommen, wie es heißt. Sätze dieser Art kann man zwar immer wieder lesen, allerdings ohne dass der Außenstehende von konkreten Problemen oder speziellen Fragen erfährt, die Stammzellforscher bei diesem Thema in Angriff nehmen. Aktuell bemühen sie sich zum Beispiel, Knochengewebe aus Stammzellen zu produzieren, aber wie dieser Prozess im wachsenden Organismus vor sich geht, versteht man deshalb nicht unbedingt. In der Zeitschrift „Nature“ vom 28. Juli 2016 (Band 535, S. 502-503) heißt zum Stand der Stammzellenforschung, „die Geschichte der embryonalen Stammzellen macht klar, wie Grundlagenforschung zu revolutionären Fortschritten führt“, aber wie die Revolution faktisch ausgesehen haben soll, erfährt der Leser nicht, den die vielen Revolutionen der Wissenschaftsberichterstattung eher nervös machen. Gibt es kein anderes Wort für große Fortschritte mit überraschenden Einsichten?
Wie dem auch sei: Die Menschheit darf jetzt – was sonst – auf die Zukunft hoffen, die dank dem inzwischen 35 Jahre alten Verfahren zur Gewinnung von Stammzellen den Menschen „endlose Gelegenheiten bietet, um zu erkunden, wie eine einzelne Zelle sich wandelt, um einen multizellulären erwachsenen Organismus entstehen zu lassen“, heißt es in Nature. Das klingt wie ein faszinierendes Thema. Nur dass es einem schon bekannt vorkommt. Die Biologen im 19. Jahrhundert haben dieselben Fragen gestellt, sobald sie verstanden hatten, dass Lebewesen aus Zellen bestehen. „Omnis cellula e cellula“, wie man damals noch auf Latein sagte. Und viel mehr weiß man heute, auch nicht zu sagen.