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Blutige Fingerabdrücke aus der Playstation

Allgemein

Blutige Fingerabdrücke aus der Playstation
Neue mathematische Methoden erkennen „ molekulare Fingerabdrücke” in einem Blutstropfen, was die Früh- erkennung von Krankheiten revolutionieren könnte. Eine herkömmliche Playstation 3 beschleunigt die dafür notwendigen Berechnungen um ein Vielfaches.

„Ihre Blutwerte sind in Ordnung!” Solche Aussagen von meinem Arzt hatte ich schon öfters gehört. Er bezog sich dabei auf die Ergebnisse einer Routineuntersuchung meines Blutes, das ich ihm einige Tage zuvor überlassen hatte. „Aber was heißt das eigentlich?”, hatte ich ihn gefragt. Die Antwort war ebenso simpel wie unbefriedigend: „Wir ermitteln die Konzentration von etwa 30 verschiedenen Stoffen beziehungsweise Eiweißen in Ihrem Blut, wie zum Beispiel Ihren Blutzucker oder den Cholesterinspiegel. Diese vergleichen wir mit Referenzwerten. Bei Ihnen sind alle Werte im Toleranzbereich, also sind Sie gesund.”

Etwas skeptisch verließ ich daraufhin die Arztpraxis und begann zu grübeln: Konnten denn nur 30 Werte wirklich ausreichen, um über den Zustand eines so komplexen Systems wie den menschlichen Körper zu entscheiden? Diese Unzufriedenheit – oder besser: Neugierde – war einer der Hauptgründe für die Wahl meines Promotionsthemas. Mein ehrgeiziges Ziel war es, eine neue Diagnose-Methode zu entwickeln, mit der es möglich sein würde, anhand von nur wenigen Blutstropfen Aussagen über den Gesundheitsstatus eines Menschen zu treffen und Krankheiten zu erkennen, lange bevor sie ausbrechen. Und das nicht nur anhand von 30 Messwerten, sondern durch die Analyse aller im Blut auftretenden Moleküle, also Proteine, Hormone, Lipide und so weiter, denn diese spielen bei fast allen Prozessen im menschlichen Körper eine große Rolle: vom Haarwachstum bis zu Allergien oder der Entstehung von Krebstumoren. Meine Hypothese war, dass nahezu jede Krankheit eine bestimmte Anzahl von Molekülen beziehungsweise deren Konzentration auf eine charakteristische Art und Weise verändert und dadurch ihren eindeutigen Fingerabdruck im Blut hinterlässt. An dieser Stelle setzte meine Forschung an. Die Strategie war relativ schnell klar und umfasste drei wesentliche Schritte: Zunächst brauchte ich sogenannte Molekülprofile von einer Gruppe gesunder Menschen und einer Gruppe Patienten, die an einer bestimmten Krankheit leiden. Ein Molekülprofil zeigt an, welche Moleküle in welchen Konzentrationen im untersuchten Blut vorhanden sind.

Im zweiten Schritt sollten die gesammelten Daten analysiert und die relevanten Informationen extrahiert werden. Im dritten und letzten Schritt werden dann Unterschiede zwischen den Profilen der beiden Gruppen ermittelt, um die besten Unterschiede zu einem Fingerabdruck für diese Krankheit zusammenfassen zu können. Damit wäre ich in der Lage, unbekannte Profile nach diesem Fingerabdruck zu durchsuchen und so das Vorhandensein einer Krankheit zu erkennen. Den ersten Schritt, das Erzeugen der Molekülprofile, übernahmen klinische Partner an der Charité Berlin und dem Universitätsklinikum Leipzig. Sie benutzten dazu eine Technik, die Massenspektrometrie genannt wird. Dabei werden die in einer Blutprobe vorhandenen Moleküle nach ihrer Masse aufgetrennt und gezählt, wie viele Moleküle einer bestimmten Masse vorkommen. Aus diesen Zahlen werden dann sogenannte Massenspektren berechnet, die in ihrer Form ein wenig einem Aktienkurs in einem Koordinatensystem ähneln. Das Interessante in diesen Spektren sind die kleinen und großen Spitzen beziehungsweise Ausschläge nach oben, die Peaks genannt werden. Jeder Peak repräsentiert ein Molekül, wobei der X-Wert die Masse repräsentiert und der Y-Wert angibt, wie oft dieses Molekül in der Probe vorhanden war.

Leider ergab eine erste Analyse der erzeugten Massenspektren drei größere Probleme: Zum einen enthält ein komplexes Gemisch wie Blut so viele verschiedene Moleküle, dass sich die daraus resultierenden Peaks teilweise überlagern und die ursprünglichen Peaks schwer wiederherzustellen sind. Zum anderen enthalten die Daten sehr viel Rauschen, das man sich wie Hintergrundgeräusche in einem überfüllten Restaurant vorstellen kann, welche teilweise so laut sind, dass manche Äußerungen seines Gesprächspartners nicht zu verstehen sind. Das Spektrum enthält also neben den „ echten” Peaks auch zufällig auftretende sogenannte Rausch-Peaks, die kein Molekül repräsentieren und zudem noch „echte” Peaks überlagern könnten. Zu guter Letzt sind viele Peaks mit Messfehlern behaftet, das heißt, ihre Position auf der X-Achse ist gegenüber dem wahren Wert leicht verschoben, was die Vergleichbarkeit zwischen mehreren Spektren erschwert. Im zweiten Schritt mussten daher zunächst die genannten Probleme in den Daten korrigiert und die wesentlichen Informationen, die Peaks und ihre Eigenschaften, herausgelesen werden, bevor die eigentliche Analyse stattfinden konnte. Dazu habe ich einen Algorithmus entwickelt, der selbst kleinste Peaks in einem Spektrum identifizieren kann und diese zur weiteren Analyse in einer Datenbank abspeichert. Die Datenmengen, die dabei durchsucht werden sind nicht unerheblich, und entsprechen pro Spektrum zirka zwei Gigabyte, was in etwa dem Text von zwei VW-Bus-Ladungen Büchern entspricht. Ein normaler Bürocomputer benötigt dafür etwa drei Stunden Rechenzeit – zu lange für einen Einsatz in der Praxis.

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Zur Beschleunigung benutzte ich nach einigen Tests eine Playstation 3, eine moderne Spielekonsole, die sechs sogenannte Vektor-Prozessoren enthält. Mit dieser speziellen Prozessorart können nicht nur zum Beispiel zwei Zahlen multipliziert werden, sondern in der gleichen Zeit gleich zwei Gruppen von Zahlen (Vektoren). Zwar musste ich dafür den ursprünglichen Algorithmus komplett neu entwickeln, um ihn an die Architektur der Playstation anzupassen, konnte mit der neuen Version aber deutlich schneller rechnen und die Rechenzeit von 3 Stunden auf circa 15 Minuten reduzieren.

In den abgespeicherten Peakdaten mussten nun die oben beschriebenen Fehler korrigiert werden. Ich stellte allerdings schnell fest, dass es mit nur einem Spektrum nicht möglich war, die Fehler überhaupt zu erkennen und besann mich auf das „Gesetz der großen Zahlen” aus der Statistik. Dies besagt im Wesentlichen, dass – unter bestimmten Voraussetzungen – wenn man eine fehlerbehaftete Messung genügend oft wiederholt, sich der Durchschnittwert aller Wiederholungen dem wahren Wert annähern wird. Auf unser Problem bezogen bedeutet das, wenn ich einen bestimmten Peak in vielen Spektren beobachten könnte, könnte ich den jeweiligen Durchschnittswert der einzelnen Peakeigenschaften, wie zum Beispiel Position oder Höhe, bilden und damit dem wahren Wert sehr nahe kommen.

Die Idee des entwickelten Verfahrens ist einfach skizziert: Ich legte viele Spektren der gleichen Patientengruppe quasi übereinander und suchte nach Gruppen von Peaks, sogenannten Clustern, die unter Einbeziehung eines leichten Messfehlers sozusagen „übereinander” liegen und sich ähnlich sind. Enthält ein Cluster Peaks aus nahezu jedem Spektrum, das heißt dieser bestimmte Peak kommt in fast allen Spektren vor, kann der Messfehler wie oben beschrieben korrigiert werden. Andererseits können Peaks, die an der gleichen Stelle in nur wenigen Spektren vorkommen und damit höchstwahrscheinlich Rausch-Peaks sind, einfach gefunden und entfernt werden, da sie relativ kleine Cluster bilden. Wie kommt man nun an diese Cluster?

WIE IN EINEM CHINA-RESTAURANT

Dazu entwickelte ich ein Clustering-Verfahren weiter, das in der Literatur „Chinese Restaurant Problem” genannt wird. Die Idee: In einem großen Restaurant stehen sehr viele Tische, mit jeweils sehr vielen Stühlen. Der erste Kunde setzt sich an den ersten freien Tisch. Jeder weitere Kunde kommt herein und schaut sich um. Entdeckt er einen Tisch, an dem ihm ähnliche Leute sitzen, setzt er sich dazu. Ansonsten setzt er sich an einen freien Tisch. In unserem Fall stehen die Kunden für die Peaks aller betrachteten Spektren und die besetzten Tische, die am Ende der Prozedur entstanden sind, repräsentieren die gesuchten Cluster. Mit diesen Informationen konnte ich nun den dritten Teil angehen, denn durch das Clustering konnte ich relativ verlässliche Aussagen darüber treffen, welche Peaks in einer Gruppe von Spektren von Bedeutung waren. Die Aufgabe bestand also darin, für jeden Peak-Cluster der einen Spektren-Gruppe (der Gesunden) zu überprüfen, ob er in der jeweils anderen Spektren-Gruppe (der Kranken) vorhanden ist, und wenn ja, wie ähnlich sich die Peaks in den beiden Clustern sind. Aus dieser Liste wird anschließend der tatsächliche Fingerabdruck für eine Krankheit erstellt, welcher sich aus der besten Kombination der gefundenen Unterschiede zusammensetzt.

Damit wird es möglich, das Molekülprofil beziehungsweise Massenspektrum eines Patienten gezielt auf diese Krankheit zu durchsuchen. Ich konnte mit dieser Methode bereits Fingerabdrücke für fünf verschiedene Krebsarten erstellen. Zwei davon waren in ersten klinischen Tests erfolgreich und zeigten verglichen mit anderen Methoden eine deutlich höhere Erkennungsrate, unter anderem deswegen, weil ich durch den statistischen Ansatz auch kleinste Peaks finden und berücksichtigen kann, was andere Verfahren nicht tun.

Offen bleibt noch die Frage, welche Moleküle beziehungsweise Vorgänge im menschlichen Körper sich hinter den Fingerabdrücken verbergen. Ich bin mir aber sicher, dass wir auch darauf in nicht allzu ferner Zukunft Antworten finden werden. ■

von Tim Conrad

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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