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Soziale Entdecker in Windeln

Allgemein

Soziale Entdecker in Windeln
Wenn Menschen sich in unbekannten Situationen befinden, orientieren sie sich am Verhalten und an den emotionalen Signalen anderer. Neurowissenschaftler haben jetzt herausgefunden, dass schon Babys auf unbekannte Objekte besonders aufmerksam reagieren, wenn die Objekte von einem Erwachsenen erschrocken angeschaut werden.

Stellen Sie sich vor, Sie machen Urlaub in Andalusien. Eines Tages sind die Straßen von Hunderten maskierten Menschen in Kutten und Spitzhauben bevölkert. Wie würden Sie auf diese unheimliche Invasion reagieren? Vermutlich würden Sie zunächst herausfinden wollen, ob Sie sich in einer gefährlichen Situation befinden oder nicht. Den wichtigsten Anhaltspunkt bieten Ihnen hierbei die Reaktionen Ihrer Mitmenschen. Haben diese sich ebenso erschreckt wie Sie? Haben sie vielleicht sogar erfreut reagiert oder aber gar keine emotionale Reaktion gezeigt?

Das Verhalten, sich an den Reaktionen anderer zu orientieren, wenn man sich in einer unbekannten Situation befindet, nennt man „ soziales Referenzieren“. Soziales Referenzieren ermöglicht soziales Lernen, das heißt Lernen durch Beobachtung. Die Reaktionen anderer können lebenswichtig sein, wenn sie sich auf gefährliche Dinge oder Situationen beziehen. So lernen auch Affen, sich von Schlangen fernzuhalten, wenn Artgenossen auf diese ängstlich reagieren. Affen, die im Labor großgezogen wurden und nie die Reaktionen ihrer Artgenossen auf Schlangen beobachten konnten, zeigen dieses vorsichtige Verhalten nicht. Das Lernen durch Beobachtung ist evolutionär betrachtet eine äußerst nützliche Errungenschaft, denn es ermöglicht den einzelnen Mitgliedern einer Gemeinschaft, gefährliche Situationen zu erkennen, ohne diese Situationen selbst unmittelbar erlebt zu haben. Allein durch die Beobachtung anderer kann somit gelernt werden, dass bestimmte Tiere (zum Beispiel Schlangen) oder Speisen (zum Beispiel giftige Beeren) vermieden werden sollten.

LEBENSWICHTIGE INFORMATIONEn

Babys befinden sich sehr häufig in Situationen, die ihnen unbekannt sind. In ihrer Wahrnehmung der Umwelt sind sie dadurch sehr von den Reaktionen der Menschen in ihrer Umgebung abhängig. Es ist allerdings noch unklar, wie sich die Fähigkeit zu sozialem Referenzieren entwickelt. Bisherige Studien haben gezeigt, dass sich zwölf Monate alte Babys von einem neuen Spielzeug eher fernhalten, wenn jemand zuvor erschrocken oder angeekelt auf das Spielzeug reagiert hat. Bisher ist man davon ausgegangen, dass jüngere Babys noch nicht zu sozialem Referenzieren in der Lage sind. Erst gegen Ende des ersten Lebensjahres, so die Lehrmeinung, seien Kinder zu „triadischen“ Interaktionen in der Lage. In triadischen Interaktionen beziehen sich zwei Personen gemeinsam auf etwas in der Umgebung, zum Beispiel ein Spielzeug, und sind sich über den gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus bewusst. Es wäre allerdings auch schon für jüngere Säuglinge nützlich, die Emotionssignale anderer richtig interpretieren zu können. Auch wenn ein Baby noch nicht selbst in der Lage ist, eine Kampf- oder Fluchtreaktion zu zeigen, kann es vom sozialen Lernen profitieren und lebenswichtige Informationen aufnehmen. Wie könnte man also feststellen, ob schon ganz junge Babys für emotionale Signale Erwachsener sensibel sind? Im Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften haben Forscher untersucht, wie Babys im zarten Alter von drei Monaten wahrnehmen, worauf ein Emotionsausdruck gerichtet ist. Mit Hilfe von ereigniskorrelierten Potenzialen (EKPs) wurden die neuronalen Aufmerksamkeitsprozesse der Kleinen gemessen. Dafür wird den Babys eine Mütze aufgesetzt, an der spezielle Sensoren angebracht sind. Die Sensoren zeichnen die elektrische Gehirnaktivität auf. EKPs haben den Vorteil, dass sie keinerlei Verhaltensreaktion erfordern. Auch wenn die Versuchsperson völlig passiv auf einen Bildschirm schaut, lässt sich zeitlich sehr genau abbilden wie das Gehirn die Bilder verarbeitet. Deshalb ist die Methode besonders gut für die Untersuchung junger Babys geeignet, die in Verhaltensstudien noch keine oder nur sehr eingeschränkte motorische Reaktionen zeigen können.

In den Studien von Stefanie Höhl wurden drei Monate alte Säuglinge untersucht. „Wir wollten herausfinden, welche Signalwirkung der Gesichtsausdruck einer Person für die Verarbeitung unbekannter Objekte bei Babys hat“, beschreibt Höhl ihren Ansatz. Den Kindern wurden Gesichter gezeigt, die entweder erschrocken oder neutral auf kleine Spielzeuge schauten, die neben dem Gesicht präsentiert wurden. Gleich darauf wurden die Spielzeuge noch einmal ohne das Gesicht gezeigt. Gleichzeitig wurden die Hirnströme der Babys gemessen.

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Die zentrale Frage war, ob Babys die erschrockenen Gesichter als Warnsignale wahrnehmen und entsprechend besonders viel Aufmerksamkeit auf die als gefährlich signalisierten Spielzeuge richten. Tatsächlich zeigte sich, dass die Babys mit erhöhter Aufmerksamkeit auf erschrocken angeschaute Spielzeuge im Vergleich zu neutral angeschauten Spielzeugen reagierten. Dieser Befund ist erstaunlich, da bisher angenommen wurde, dass Kinder erst viel später einen Emotionsausdruck auf etwas in der Umgebung beziehen können. Babys benötigen offenbar kaum Erfahrungen mit ängstlichen Gesichtsausdrücken um entsprechende Reaktionen zu zeigen. Aus früheren Studien weiß man, dass Babys erst im Alter von etwa sieben Monaten häufiger mit ängstlichen und wütenden Gesichtern konfrontiert werden. In diesem Alter beginnen die meisten Kinder nämlich, sich selbst fortzubewegen, und begeben sich dadurch häufiger in gefährliche Situationen, die wiederum Besorgnis oder Verärgerung bei ihren Bezugspersonen auslösen können. Mit drei Monaten haben die Säuglinge allerdings kaum ängstliche Gesichter sehen können, was darauf hindeutet, dass die beobachtete Fähigkeit auch angeboren sein könnte. Die erste Studie ließ noch unklar, ob der Effekt tatsächlich spezifisch für das gezeigte Spielzeug ist.

BABYS DEUTEN DIE BLICKRICHTUNG

Denkbar ist auch, dass die Kinder durch den erschrockenen Gesichtsausdruck selbst aufgeregt wurden und auf jedes folgende Objekt mit erhöhter Aufmerksamkeit reagiert hätten. In diesem Fall hätten die Kinder aber keine nützliche Information über die spezifische Umgebung aufgenommen. In einer zweiten Studie wurde daher nach jedem Gesicht, das erschrocken oder neutral auf ein Spielzeug blickte, ein neues, unbekanntes Spielzeug gezeigt. Die Kinder zeigten in dieser Studie keine unterschiedliche Hirnreaktion. Das deutet darauf hin, dass die Reaktion der Kinder sehr wohl spezifisch für das Objekt ist, das von einem Erwachsenen auch tatsächlich als gefährlich signalisiert wurde. Die erhöhte Aufmerksamkeit wird nicht auf ein zufällig anwesendes anderes Objekt übertragen.

Eine Frage blieb allerdings noch offen: Haben die Kinder die Blickrichtung der Person genutzt, um den Gesichtsausdruck mit dem Objekt zu verknüpfen, oder genügt dafür eine gleichzeitige Darbietung von Gesicht und Objekt? In einer dritten Studie wurde daher untersucht, ob die Kinder auch dann einen Emotionsausdruck mit einem Spielzeug verknüpfen, wenn beide zwar gleichzeitig gezeigt werden, aber der Erwachsene den Blick von dem Spielzeug weg gerichtet hat. In dieser Studie zeigten die Kinder keine unterschiedliche Reaktion auf die Spielzeuge. Babys verknüpfen einen Gesichtsausdruck also nur mit einem spezifischen Objekt, das zeitgleich mit dem Gesicht gezeigt wird und auf das der Blick der Person gerichtet ist. Wenn der Erwachsene zwar erschrocken aussieht, aber nicht klar ist, wovor sich das Baby in Acht nehmen soll, zeigt es auch keine besondere Aufmerksamkeitsreaktion. Somit konnte gezeigt werden, dass junge Babys nicht nur für Gesichtsausdrücke sensibel sind, sondern diese auch sehr spezifisch mit Dingen in der Umgebung verknüpfen können. Diese Spezifität ist extrem wichtig, denn wenn ein Emotionsausdruck wahllos mit Dingen in der Umgebung assoziiert werden würde, hätte das viele Nachteile. Es würde nicht nur weniger genaue Information über die Umgebung gesammelt, sondern häufig auch noch falsche. Daher macht es Sinn, dass Babys schon früh sehr genau darauf achten, worauf ein Emotionsausdruck gerichtet ist.

Gehen wir noch einmal zurück zu unserem Gedankenexperiment zu Beginn. Vermutlich wissen Sie, was Sie in der Karwoche in vielen Dörfern und Städten Andalusiens erwartet: Es finden dann die traditionellen Prozessionen der Semana Santa statt, die bei Touristen sehr beliebt sind, und an denen oft Hunderte in Spitzhauben und Kutten bekleidete Gläubige teilnehmen. Falls in Ihrer imaginären Reisegruppe aber auch Kinder mit von der Partie sind, die nicht vorgewarnt wurden, gibt es wahrscheinlich zumindest fragende Gesichter. Wie Erwachsene wenden sich Kinder intuitiv anderen Menschen zu, wenn sie eine Situation nicht selbst einschätzen können. Die Vorläufer dieses lebenswichtigen Verhaltens lassen sich weit zurückverfolgen, sowohl evolutionär als auch bis in die frühkindliche Entwicklung der ersten Lebensmonate. ■

von Stefanie Höhl

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