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MEHR SCHULE, WENIGER GEWALT

Gesellschaft|Psychologie

MEHR SCHULE, WENIGER GEWALT
Ganztagsschule – ja oder nein? Eine Studie belegt: Schüler, die auch am Nachmittag Unterricht haben, entwickeln sich besser und sind weniger aggressiv.

Vormittags Mathematik und Fremdsprachen pauken, in der Mittagspause jonglieren oder Einrad fahren und nachmittags Streit schlichten üben – für die Fünftklässler der Maria-Theresia-Mittelschule in Günzburg ist das ein ganz normaler Tag. Seit die Schule 2004 in einigen Klassen den Ganztagsbetrieb eingeführt hat, bietet sie neben dem Kernunterricht zahlreiche Arbeitsgemeinschaften und Freizeitmöglichkeiten. Die Zusatzangebote wie Internetkurse, Billard, Judo oder Kommunikationstraining sollen die Kinder nicht nur beschäftigen. Die Ganztagsbetreuung soll vielmehr dabei helfen, soziale Kompetenzen zu erwerben, sich für andere zu engagieren und mehr Spaß am Lernen zu entwickeln.

Dass dieses Konzept funktioniert und Ganztagsschulen sich tatsächlich positiv auf das Sozialverhalten und die Lernfreude der Schüler auswirken, hat nun die „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ (StEG) gezeigt. Im Rahmen des Forschungsprojekts untersuchten Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung, des Deutschen Jugendinstituts, der Universität Gießen und des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der Universität Dortmund: Wie haben sich Ganztagsschulen in Deutschland entwickelt, und welche Effekte hat die Ganztagsbetreuung auf die Persönlichkeit und die Zensuren der Schüler? Ausgangspunkt war der „Pisa-Schock“ im Jahr 2000. In der internationalen Schulleistungsstudie der OECD mit dem Kürzel PISA zeigten die deutschen Kinder in allen drei getesteten Bereichen – Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften – unterdurchschnittliche Leistungen. Daher beschloss das Bundesministerium für Bildung und Forschung, den Ausbau von Ganztagsschulen im Land finanziell zu unterstützen, mit dem Ziel, sozial schlechter gestellte Schüler besser zu fördern und die Bildungsangebote bundesweit zu optimieren.

300 Schulen, 60 000 BEfragtE

Um zu prüfen, ob das Konzept Ganztagsschule funktioniert, untersuchten die Wissenschaftler für die StEG zwischen 2005 und 2010 mehr als 300 Schulen in 14 Bundesländern – darunter auch die Maria-Theresia-Mittelschule in Günzburg. Die Forscher befragten insgesamt rund 60 000 Schüler, Eltern, Rektoren, Lehrkräfte und Kooperationspartner zur Qualität der Ganztagsangebote, zu pädagogischen Gestaltungsgrundsätzen, zur Zufriedenheit der Schüler mit Unterricht und Freizeitangeboten sowie zu sozialen Kompetenzen, persönlicher Lernmotivation und Schulnoten der Kinder.

Die Auswertung der Daten hat gezeigt, dass sich Ganztagsschulen insgesamt positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung der Schü-ler auswirken. „Schüler, die an Ganztagsangeboten teilnehmen, neigen weniger zu Gewalt, gehen freundlicher mit ihren Mitschülern um und stören seltener den Unterricht“, sagt Natalie Fischer, Projektkoordinatorin der StEG und Diplom-Psychologin am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung. Der Hauptgrund: Ganztagsschüler identifizieren sich stärker mit ihrer Schule, erklärt Fischer. Zudem müssten sich die Kinder und Jugendlichen durch die Nachmittagsangebote länger mit ihren Mitschülern auseinandersetzen. Dies fördere den Umgang miteinander und verbessere die sozialen Kompetenzen. „Vor allem Jungen übernehmen mehr soziale Verantwortung, wenn sie etwa ein Angebot mitgestalten dürfen und sich dadurch ernst genommen fühlen“, erklärt die Psychologin. Und sie ergänzt: „Wenn das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern stimmt, die pädagogische Qualität der Angebote hoch ist und die Aktivitäten die Schüler motivieren, verbessern sich auch die Schulnoten.“

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Kommt DIE FAMILIE ZU KURZ?

Obwohl sich Ganztagsschulen in anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Griechenland oder Schweden bereits vor vie-len Jahrzehnten bewährt haben, hegen Natalie Fischer zufolge in Deutschland viele Eltern noch immer die Befürchtung, das Familienleben könnte darunter leiden, wenn das Kind erst spät am Nachmittag nach Hause kommt. Die StEG beweist jedoch, dass diese Angst unbegründet ist. Durch die Ganztagsangebote verbessere sich das Familienklima, meint Natalie Fischer, vor allem, wenn die Eltern berufstätig sind und entlastet würden. „Unsere Ergebnisse haben zudem gezeigt, dass Gespräche und Freizeitaktivitäten in der Familie bei Ganztagsschülern genauso oft stattfinden wie bei Halbtagsschülern“, erklärt die Psychologin.

Außerhalb der Familie sieht es freilich anders aus: Vielerorts leiden Vereine oder kirchliche Organisationen unter dem Ganztagsangebot. Denn an Vereinsaktivitäten, die am Nachmittag stattfinden, können Ganztagsschüler kaum teilnehmen. Welche Dimensionen das hat, ergab das Forschungsprojekt „Ganztagsschule in ländlichen Räumen“ der Agrarsozialen Gesellschaft Göttingen und des Lehrstuhls für Sozialpädagogik und außerschulische Bildung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Niemand bleibt SITZEN

Doch insgesamt sehen die an beiden Studien beteiligten Forscher die Ganztagsschule als Erfolgsmodell. So auch die Rektorin der Maria-Theresia-Mittelschule in Günzburg, Karin Virag: „Ganztagsschulen sind unsere Zukunft. Das zeigt schon die Tatsache, dass wir in den letzten drei Jahren in den Ganztagsklassen keine Sitzenbleiber hatten. Allerdings müssen die Schulen so gestaltet sein, dass sie flexibel auf die Bedürfnisse der Schüler und Eltern reagieren können.“

Um Ganztagsschulen in Deutschland flächendeckend einzuführen, fehlen – jenseits des notwendigen politischen Konsenses – derzeit die finanziellen Mittel. In den kommenden Jahren will der Bund jedoch die öffentlichen Bildungsausgaben kontinuierlich steigern. Das Budget 2008 betrug nach vorläufigen Berechnungen rund 215 Milliarden Euro, entsprechend 8,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Bis 2015 wollen Bund und Länder diesen Anteil auf 10 Prozent erhöhen. Woher das dazu erforderliche Geld kommen soll, ist allerdings nicht geklärt. ■

von Caroline Leibfritz

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