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WIE MIT DER ANGST UMGEHEN?

Allgemein

WIE MIT DER ANGST UMGEHEN?
Viele Kernkraftgegner fürchten jegliche Endlagerung von radioaktivem Abfall. Um Dampf aus der Debatte zu nehmen, müssen Politiker und Wissenschaftler neue Wege einschlagen.

Sie halten sich an den Händen und bilden eine kilometerlange Kette, sie marschieren protestierend durch die Städte: Die Endlagersuche in Deutschland bewegt und mobilisiert die Menschen wie kaum ein anderes Thema seit Gründung der Bundesrepublik. Im Versuch, sich auf einen Standort zur Endlagerung hochradioaktiver Abfälle zu einigen, stehen sich Bürgerbewegungen, Umweltschutzgruppen, Wissenschaft, Politik und Industrie in wechselnden Allianzen unversöhnlich und emotional aufgeladen gegenüber. Warum bietet dieses Thema so viel gesellschaftspolitischen Sprengstoff? Und wie lässt sich der Interessenkonflikt lösen?

Diesen Fragen spürt der Technik- und Umweltsoziologe Ortwin Renn von der Universität Stuttgart nach. Als Geschäftsführer der Forschungsgesellschaft Dialogik versucht er, Lösungen für gesellschaftliche Konflikte zu finden. So hat Dialogik im Auftrag des Schweizer Bundesamts für Energie Kommunikationsstrategien für die Endlagersuche in der Schweiz entwickelt, die halfen, einen Konsens bei der Auswahl eines Standorts zu finden. „Die Endlagerung radioaktiver Abfälle wird in Deutschland seit der Inbetriebnahme des ersten Versuchskraftwerks Kahl in Unterfranken 1960 äußerst kontrovers diskutiert“, sagt Renn. „Bis Mitte der 1960er-Jahre wurde die Kernkraft überwiegend positiv gesehen. Erst die Studentenbewegung stellte das technokratische System aus Politik und Großkonzernen infrage.“

Tschernobyl brachte den Verruf

Verschärft hat sich der Konflikt Anfang der 1970er-Jahre: mit der wachsenden Ökologiebewegung, der Gründung des Club of Rome – eines unabhängigen, internationalen Gremiums, das Zukunftsfragen der Menschheit diskutiert – und der Veröffentlichung des Buchs „ Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit“ des Zukunftsforschers Robert Jungk. 1979 gab es den ersten großen Reaktorunfall im US-amerikanischen Harrisburg. Spätestens am 26. April 1986, dem Tag der Katastrophe von Tschernobyl, geriet die Kerntechnik bei vielen endgültig in Verruf. Mit den Grünen gründete sich erfolgreich eine Partei, deren einigendes Ziel bis heute der Kampf gegen die Atomkraft ist. In jüngerer Zeit sorgten Castor-Transporte, das Gesetz zur Laufzeitverlängerung, das Desaster um das marode Endlager Asse und die Havarie der Reaktoren im japanischen Fukushima dafür, dass Kernenergie und die Endlagerfrage intensiv diskutiert werden.

Ortwin Renn attestiert einen Stigma-Effekt: „Zur Kernenergie gibt es in weiten Teilen der Gesellschaft einen grundsätzlichen Vorbehalt, gegen den kein Argument etwas bewirken kann. Das führt zur Polarisierung, Politisierung und symbolischen Überhöhung der Endlagerfrage.“ Es gehe dabei nicht allein um die technische Machbarkeit oder langfristige Sicherheit, sondern um prinzipielle Perspektiven gesellschaftlicher Entwicklung: Welche Risiken wollen wir in Kauf nehmen, um uns mit Energie zu versorgen? Für diejenigen, die den Atomstaat ablehnen, ist die Endlagerung zum Negativ-Symbol für den Nachhaltigkeitsgedanken geworden: Folgenden Generationen sollen keine Probleme hinterlassen werden, die man selbst nicht lösen konnte. „Bei allen Befragungen belegt die nukleare Endlagerlösung Spitzenplätze in der öffentlichen Wahrnehmung von Bedrohlichkeit – weltweit“, sagt Renn.

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Müllhalde der Nation

Zu der negativen Grundhaltung und ideologischen Überhöhung kommt das NIMBY-Problem. NIMBY steht für „Not In My Backyard“ („ Nicht in meinem Hinterhof“): Ort und Region, in dem ein Endlager entstehen soll, sehen sich extrem benachteiligt. Die ganze Welt profitiert, doch der Ort trägt alle Nachteile, wird zur Müllhalde der Nation – so der Eindruck der Bevölkerung. Angst macht sich breit: Bauern fürchten um den Absatz ihrer Ernten, Industriebetriebe könnten abwandern, Menschen ziehen fort, Grundstückspreise fallen. „Diese Zukunftsangst schafft ein hohes Mobilisierungspotenzial“, sagt Renn. Es gründen sich Protestbewegungen wie „Republik Freies Wendland“, „ Arbeitsgemeinschaft Schacht Konrad“ oder „Bäuerliche Notgemeinschaft Lüchow-Dannenberg“. Sie kämpfen gegen Beschlüsse der Politiker, die als ungerecht und aufgezwungen empfunden werden. Das Vertrauen in die politischen Entscheidungsträger ist nachhaltig erschüttert, deren Autorität wird angezweifelt. Auch der für Laien oft unverständliche Diskurs der Wissenschaft trägt zur Verunsicherung bei. Die oft widersprüchlichen Äußerungen der Experten erscheinen nicht überprüfbar. Renn erklärt: „Bewegungen brauchen einen Kulminierungspunkt, um Menschen zu mobilisieren. Dafür eignet sich die Endlagerproblematik ausgezeichnet.“ Doch für eine Lösung der Standortfrage ist die Zuspitzung kontraproduktiv.

In dieser Atmosphäre geraten Sachargumente in den Hintergrund, die Auseinandersetzung wird emotional geführt. „Menschen sind leicht verführbar. Selbst wer in anderen Bereichen rational handelt und strukturiert denkt, folgt oft einer Argumentation, wenn sie in die gewünschte Richtung geht“, sagt der Angstforscher Borwin Bandelow, Leiter der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsklinik Göttingen. Die Angst vor der radioaktiven Katastrophe schwebt wie ein Damoklesschwert über allem. „Wenn eine Gefahr unbeherrschbar erscheint, wird die statistische Häufigkeit ihres Eintretens meist stark überschätzt“ , sagt Bandelow. Für viele Menschen spielt die nach wissenschaftlichem Ermessen extrem geringe Wahrscheinlichkeit eines Zwischenfalls in einem Endlager als Argument keine Rolle. Er kann ja jederzeit eintreten. Ortwin Renn ergänzt: „Die Zufälligkeit des Ereignisses ist der eigentliche Risikofaktor. Die Vorstellung, dass die Katastrophe zu jedem beliebigen Zeitpunkt eintreten kann, erzeugt ein Gefühl von Bedrohung und Machtlosigkeit.“ Die abstrakte Angst vor Radioaktivität kann der Mensch nur mit Vernunft bewältigen. Werden Vernunftargumente aber nicht mehr zugelassen, fordern die Menschen ein Nullrisiko und sind zu keinen Kompromissen bereit. „Herrscht die Angst in den Köpfen, kann man sich den Mund fusselig reden“, sagt Borwin Bandelow. Für die Politiker ist diese Situation ein kaum zu lösendes Dilemma, glaubt Renn: „Sie haben ihre Legitimität als alleinige Entscheidungsträger verloren und werden die Endlagerfrage nicht länger von oben herab durchsetzen können, ohne große gesellschaftliche Verwerfungen hervorzurufen.“

die kraft der argumente

Wie aber lassen sich die Ängste abbauen und die verfahrene Situation lösen? Neue Wege müssen gefunden werden, um Entscheidungen zu legitimieren. Ein umfassender Beteiligungsprozess muss alle Gruppen auf Augenhöhe an einen runden Tisch bringen. „Die Standortwahl wird von der Gesellschaft nur dann akzeptiert, wenn sie durch die Kraft der Argumente und den Einbezug aller relevanten Werte und Interessen legitimiert ist“, ist Renn überzeugt. Wichtig für die Legitimation einer Standortentscheidung ist aus seiner Sicht auch die Auswahl der Wissenschaftler, die etwa die Anforderungen für ein sicheres Endlager festlegen sollen. „Diese Forscher müssen über alle Zweifel erhaben sein“, sagt der Techniksoziologe. Außerdem sollten neben Gorleben weitere Standorte erkundet werden. Dann würde die Bevölkerung die Entscheidung für einen Endlagerstandort erheblich besser akzeptieren, und man hätte Alternativen, falls sich Gorleben doch als ungeeignet erweisen sollte. ■

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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