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Kühler Kopf

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Kühler Kopf
Wer einen Herzstillstand überlebt, behält oft schwere Gehirnschäden zurück. Jetzt schützen Intensivmediziner die empfindlichen Nervenzellen mit Kälte.

Ein schöner Sommertag in der Stadt – im Park flanieren Spaziergänger, die Einkaufsstraßen quellen über. Plötzlich kippt ein Mensch in der Menge um: Horst P. (Name von der Redaktion geändert), der eigentlich ein Geburtstagsgeschenk für seine Frau besorgen wollte. Von einer Sekunde auf die andere hat sein Herz den Dienst versagt – nach 58 Jahren tadelloser Arbeit. Ein Umstehender belebt Horst P. wieder: Er massiert sein Herz und bläst Atemluft in seinen Mund. Schnell ist auch ein Notarztwagen vor Ort. Mit Blaulicht und Sirenengeheul kommt Horst P. bewusstlos auf die Intensivstation des Universitätsklinikums. Dort wird er auf eine Luftkissenmatratze gebettet, aus der kalte Luft unter und über den Körper wirbelt. Langsam sinkt seine Körpertemperatur – 24 Stunden lang. Tage später erwacht Horst P. aus dem Koma. Nach acht Wochen kann er das Krankenhaus verlassen. Nur eine leichte Sprechstörung erinnert noch an die Minuten, als sein Gehirn ohne Sauerstoff war.

Horst P. hat Glück gehabt. Er hat den plötzlichen Herztod überlebt – das ist nur bei 15 Prozent der 80000 Deutschen pro Jahr der Fall, die einen Herzstillstand außerhalb des Krankenhauses erleiden. Viele der Überlebenden bleiben gelähmt, können nicht mehr sprechen oder haben ihr Gedächtnis verloren. Denn nur fünf Minuten ohne Blutversorgung genügen, um Nervenzellen ein für allemal zu zerstören. Das Gehirn von Horst P. hat kaum Schaden genommen, weil die Kälte es schützte. Er wurde in einem Klinikum behandelt, das an einer großen europäischen Studie an Herzstillstand-Überlebenden teilnahm. Sie testete das Konzept der „Hypothermie“: Möglichst kurze Zeit nach dem Herzstillstand senken die beteiligten Mediziner die Körpertemperatur ihrer Patienten auf 33 Grad – mit kühler Luft, die aus einer Spezialmatratze strömt. Erst 24 Stunden später dürfen die Patienten wieder auf die normale „Betriebstemperatur“ von 37 Grad erwärmt werden. Ihre Ergebnisse stellte die Studiengruppe kürzlich in der Fachzeitschrift New England Journal of Medicine vor. Mit Hypothermie konnten die Ärzte nicht nur die Zahl der Überlebenden erhöhen. Diejenigen, die das Krankenhaus verlassen konnten, behielten auch deutlich weniger neurologische Störungen zurück: 55 Prozent der Hypothermie-Patienten konnten mit einem „günstigen neurologischen Resultat“ nach Hause oder in eine Rehabilitationseinrichtung entlassen werden. Eine gleichzeitig veröffentlichte Studie aus Australien zeigte mit 49 Prozent ähnlich ermutigende Ergebnisse. In der Vergleichsgruppe ohne Kühlung waren es nur 36 beziehungsweise 26 Prozent. Die Australier verwendeten spartanischere Kühlmethoden als die Europäer: Sie wuschen ihre Patienten schlicht kalt ab und packten sie mit Eisbeuteln ein. Dass Kälte die Nervenzellen schützen kann, bemerkten Mediziner zuerst bei verunglückten Kindern, die beim Spielen auf einem zugefrorenen See eingebrochen waren. Selbst diejenigen, die erst nach einer halben Stunde und länger aus dem eiskalten Wasser gezogen wurden, überlebten oft gänzlich ohne Spätfolgen. Trotzdem spielt Hypothermie in der Notfallmedizin bisher keine große Rolle: „Das Gehirn wird viel zu oft vergessen“, kritisiert Matthias Fischer, Intensivmediziner am Universitätsklinikum Bonn. Die gängige Wiederbelebungspraxis konzentriert sich auf Herz und Kreislauf. Dabei sind gerade die Nervenzellen in den ersten 24 Stunden nach einer erfolgreichen Wiederbelebung besonders empfindlich: Der Sauerstoffmangel während des Herzstillstands hat ihren Energiehaushalt zum Erliegen gebracht. Wenn auf einmal wieder genügend Sauerstoff zur Verfügung steht, bilden sich freie Radikale, die die ohnehin lädierten Zellmembranen angreifen. Auch Kalzium und der Botenstoff Glutamat, die beim Zusammenarbeiten der Neuronen eine wichtige Rolle spielen, werden im Überschuss produziert und führen zu unkontrollierten Entladungen. All das strapaziert die Zellen, viele sterben ab – für immer, denn einmal zugrunde gegangene Neuronen können im Gegensatz zu den Zellen der meisten anderen Körpergewebe kaum mehr ersetzt werden. „Kälte wirkt diesen Prozessen effektiver entgegen als jedes bekannte Medikament“, kommentiert Fischer, der an der europäischen Studie beteiligt war. Auch andere Menschen, die im Koma liegen – zum Beispiel nach einem Schlaganfall oder einem Verkehrsunfall mit Schädel-Hirn-Trauma – könnten von Hypothermie profitieren. Die Kälte senkt den zu hohen Druck in der Schädelhöhle, der nach einem Hirninfarkt oder einer mechanischen Verletzung entsteht. Allerdings gibt es hier noch keine breit angelegten Studien. Für den Umgang mit Herzstillstand-Patienten könnten die beiden Studien jedoch bahnbrechend sein. Innerhalb der nächsten beiden Jahre wird das Kühlen höchstwahrscheinlich in die Richtlinien des ILCOR (International Liaison Committee on Resuscitation), eines Zusammenschlusses der größten notfallmedizinischen Fachgesellschaften, aufgenommen. Bis es überall in Deutschland zur Routine wird, können allerdings noch Jahre vergehen. Je einfacher die Kühlungsmethoden, umso früher könnten sie sich durchsetzen, meint Fischer: „Es wäre schon ein Fortschritt, wenn der Notarzt im Rettungsfahrzeug das Fenster offen ließe, damit der Patient durch den Luftzug abkühlt.“

Evelyn Hauenstein

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