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Spannung liegt in der Luft

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Spannung liegt in der Luft
Zwischen dem Erdboden und der oberen Atmosphäre fließt permanent ein 1000 Ampere starker elektrischer Strom. Gewitter sollen die Batterien des „Globalen Stromkreises“ sein. Doch neue Forschungsergebnisse passen nicht so recht in dieses Bild.

In diesen Wochen erreicht die Aktivität der Gewitter auf der Nordhalbkugel der Erde ihren jahreszeitlichen Höhepunkt. Den meisten Forschern, die sich mit den elektrischen Eigenschaften der Erdatmosphäre beschäftigen, gelten die Gewitter als Generatoren eines riesigen Stromkreises. Das „Schaltbild“ dieses Stromkreises überdeckt den gesamten Bereich zwischen Erdboden und Ionosphäre – der leitenden Atmosphärenschicht, die in einer Höhe von etwa 80 Kilometern beginnt. Doch während Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen erfolgreich an den Details der elektrischen Atmosphären-Phänomene arbeiten, gerät das Gesamtbild des „Globalen Stromkreises“ immer mehr ins Wanken.

Das elektrische Feld in der Atmosphäre kann man seit etwa 250 Jahren nachweisen. In Erdbodennähe hat es den überraschend hohen Wert von 100 bis 300 Volt pro Meter. Demnach müsste zwischen dem Kopf und den Füßen eines stehenden Menschen eigentlich eine elektrische Spannung von mehreren Hundert Volt liegen.

Doch das ist nicht der Fall. Denn im Vergleich zu Luft ist der menschliche Körper ein ausgezeichneter elektrischer Leiter. Genauso wie ein Draht, den man parallel zu einer Glühbirne schaltet, zu einem Kurzschluss führt, verursacht ein stehender Mensch einen Kurzschluss im elektrischen Feld der Atmosphäre. Dabei durchfließt ihn ein winziger Strom in der Größenordnung von einigen Billionstel Ampere. Als Folge dieses Kurzschlusses verändert sich das Atmosphärenfeld in seiner Umgebung: Am Kopf liegen nicht mehrere Hundert Volt, sondern etwa Null Volt wie am Erdboden (siehe Grafik „Mensch unter Spannung“).

Luft ist zwar ein schlechter Leiter, aber trotzdem kein perfekter Isolator. Denn in ihr sind immer einige Ionen – elektrisch geladene Gasmoleküle – vorhanden. Zu der positiv geladenen Ionosphäre fließt deshalb vom ihr gegenüber negativen Erdboden permanent ein Strom von etwa 1000 Ampere – bezogen auf die gesamte Erdoberfläche. Umgerechnet auf den Quadratmeter sind das gerade mal zwei Billionstel Ampere. Dieser sogenannte Schönwetterstrom müsste eigentlich innerhalb weniger Minuten versiegen, wenn die Spannungsdifferenz zwischen Ionosphäre und Erdboden nicht fortwährend nachgeladen würde.

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Ein großer Teil der Forscher geht heute davon aus: Die Generatoren, die die Ionosphäre unaufhörlich aufladen, sind die etwa 2000 Gewitter, die ständig irgendwo auf der Erde wüten. Daraus ergibt sich das idealisierte Schaltbild eines Globalen Stromkreises. Gemäß diesem Bild fasst man eine Gewitterwolke als elektrischen Dipol auf, der an einem Ende positiv und am anderen negativ geladen ist (siehe Grafik „Das Standardmodell“).

Am unteren Minuspol dieser „Wolken-batterie“ liegt in der Regel eine Spannung von minus 10 bis 100 Millionen Volt. In einem Stromkreis fließen negative Ladungsträger (Elektronen oder negativ geladene Ionen) immer vom negativeren Spannungspotenzial zum positiveren – so auch in der Atmosphäre. Weil die unteren Atmosphärenschichten den Strom aber nur schlecht leiten, wird hier der gewaltige Spannungsunterschied durch Funkenüberschlag in Form von Blitzen überbrückt. Der Schönwetterstrom transportiert die Ladung dann hinauf zur Ionosphäre. Von hier fließt der Strom wieder hinab zum oberen Pluspol der Wolke, an dem eine Spannung von plus 10 bis 100 Millionen Volt liegt. Damit ist der Stromkreis geschlossen. Nebenbei bemerkt: Gemäß der technischen Definition fließt Strom immer vom höheren zum niedrigeren Potenzial. Praktisch kann dies bedeuten, dass positive Ladungsträger in Richtung des Stromes fließen oder negative Ladungsträger entgegen der technischen Stromrichtung.

Blitzentstehung:

die Chemie entscheidet

Wie die Wolkenbatterie aufgeladen wird, ist in groben Zügen seit Langem bekannt: Es ist ein ähnlicher Mechanismus, der dafür sorgt, dass man beim Anfassen der Türklinke einen leichten Schlag bekommt, wenn man zuvor über einen Teppich geschlurft ist. Die Ursache dafür ist die Reibung verschiedener Materialien aneinander. Denn in einer Gewitterwolke herrscht reger Gegenverkehr: Kleine leichte Teilchen werden von Aufwinden nach oben getragen, während schwerere nach unten fallen. Oft sind die aufsteigenden Teilchen winzige Eiskristalle und die fallenden Graupelteilchen. Zahlreiche Laborexperimente haben bestätigt, dass bei Kollisionen dieser beiden Teilchenarten elektrische Ladungen ausgetauscht werden.

Mit dieser Erklärung hat sich Pavel Jungwirth von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag nicht zufriedengegeben. Er wollte genauer wissen, wie die Ladungen übertragen werden, wenn sich Eis- und Graupelteilchen für einen kurzen Moment berühren. Dazu hat er zusammen mit israelischen Kollegen in Modellrechnungen simuliert, was bei Kollisionen der beiden Teilchenarten auf molekularer Ebene geschieht.

Die leichten Eiskristalle gefrieren aus reinem Wasserdampf. Die Graupelteilchen dagegen entstehen aus gefrorenen Wassertropfen, die sich um Schwebeteilchen gebildet haben und häufig Salze enthalten. Bei normalen atmosphärischen Bedingungen ist das hauptsächlich Ammoniumsulfat. Im Wassertropfen spaltet sich das Salz in positive Ammonium-Ionen und negative Sulfat-Ionen auf.

Jungwirths Rechnungen zeigen nun, dass beim Gefrieren der Graupelteilchen an deren Oberfläche eine dünne Schicht aus flüssigem Wasser zurückbleibt. Weil sich die positiven Ammonium-Ionen innerhalb dieser Schicht bevorzugt an der Oberfläche aufhalten, wechseln hauptsächlich sie bei Kollisionen mit den reinen Eiskristallen zu diesen hinüber (siehe Grafik „Die Eis-Graupel-Connection“). Dafür sorgt das Gefälle in der Salzkonzentration. Ein Ammonium-Ion benötigt für das Hinüberwechseln zum Eisteilchen 150 Billionstelsekunden. Zurück bleibt ein Graupelteilchen, das nun negativ geladen ist, weil ihm eine positive Ladung fehlt.

„Bei der Kollision eines Eiskristalls mit einem Graupelteilchen wird unseren Rechnungen zufolge im Durchschnitt eine Ladungsmenge von etwa 30 Billiardstel Coulomb übertragen“, erklärt Jungwirth. Ein Coulomb entspricht der Ladung, die ein Strom der Stärke ein Ampere in einer Sekunde transportiert. „ Damit es blitzen kann, muss die Gewitterwolke ungefähr 10 Coulomb ansammeln. Das entspricht etwa 300 Billiarden Kollisionen zwischen Eiskristallen und Graupelteilchen und dauert typischerweise 20 Minuten.“

Es spricht für die Modellrechnungen von Jungwirths Team, dass die Forscher damit ein weiteres, bisher nicht vollständig verstandenes Phänomen erklären können: In der Nähe von Waldbränden kehrt sich die Polarität von Blitzen um. Während die meisten Wissenschaftler davon ausgehen, dass Blitze bei gewöhnlichen atmosphärischen Bedingungen hauptsächlich negative Ladungen zum Boden transportieren, wurden in der Nähe von Waldbränden hauptsächlich positive Blitze gemessen. „Einige Wissenschaftler schlagen dafür meteorologische Erklärungen vor“, sagt Jungwirth. „Unsere ist die erste chemische Erklärung.“

Bei Waldbränden entweichen unter anderem Kaliumchlorid und Kaliumnitrat in die Atmosphäre. Jungwirths Rechnungen zeigen, dass Graupelteilchen, die diese Stoffe enthalten, bei einer Kollision mit Eiskristallen bevorzugt negative Ionen abgeben. Die Konsequenz: Die nun positiv geladenen fallenden Graupelteilchen laden die Gewitterwolke unten positiv auf, sodass positive Blitze zur Erde geschleudert werden.

Die „falsch gepolten“ positiven Blitze zeigen also, dass der Globale Stromkreis allenfalls in ganz grober Vereinfachung mit einem einfachen elektrischen Stromkreis vergleichbar ist, in dem der Strom brav im Kreis fließt. Die Wirklichkeit ist weitaus komplexer.

Blitzschlag: Elmsfeuer bedeuten Gefahr

Ein anderer Aspekt der Blitzforschung ist das Forschungsthema von Nickolay Aleksandrov. Den Physiker am Moskau-Institut für Physik und Technik in Dolgoprudny interessiert, wie Blitze ihr Ziel finden. Wenn man weiß, warum ein Blitz sich für einen bestimmten Einschlagspunkt „entscheidet“, kann man daraus Konsequenzen für den Blitzschutz und die Konstruktion von Blitzableitern ziehen. Insbesondere berechnet Aleksandrov in Computermodellen den Einfluss, den die sogenannten Korona-Entladungen auf einen sich anbahnenden Blitz haben.

„Korona-Entladungen kennt man vielleicht eher unter dem Namen Elmsfeuer“, erläutert Aleksandrov. „Sie entstehen an hohen, spitzen Objekten, wenn ein starkes elektrisches Feld in der Luft liegt.“ Elmsfeuer sind bläulich züngelnde Lichterscheinungen. Ihren Namen verdanken sie Seefahrern, die sie nach ihrem Schutzpatron, dem heiligen Erasmus von Antiochia (Sankt Elmo) benannt haben, weil sie das Leuchten an der Spitze ihrer Schiffsmasten für ein gutes Omen hielten.

Damit lagen sie – vorsichtig ausgedrückt – nicht so ganz richtig, wie Aleksandrov weiß: „Ein Elmsfeuer bedeutet zwar nicht notwendigerweise, dass ein Blitzeinschlag unmittelbar bevorsteht – aber die Gefahr ist groß.“ Umgekehrt kann man sich auch nicht darauf verlassen, dass kein Blitzrisiko besteht, wenn keine Elmsfeuer sichtbar sind. „Die meisten Korona-Entladungen leuchten so schwach, dass sie nicht wahrgenommen werden.“

Eine Korona-Entladung ist sozusagen der gescheiterte oder zumindest nicht sehr erfolgreiche Versuch, durch die schlecht leitende Luft eine elektrische Verbindung zwischen einem Objekt auf der Erde und einer Gewitterwolke herzustellen, um dadurch den gewaltigen Spannungsunterschied auszugleichen (siehe Kasten „ Elmsfeuer und Raumladungswolken“). Doch dazu ist der Strom, den die Korona-Entladung erzeugt, viel zu klein. „Der Korona-Strom beträgt weniger als ein tausendstel Ampere“, sagt Aleksandrov.

Ein Blitz erreicht dagegen Stromstärken bis zu 250 000 Ampere. Doch bevor der eigentliche Hauptblitz die Lücke zwischen Erdboden und Wolke überwinden kann, muss ein Plasmakanal gebildet werden, der die beiden Pole miteinander verbindet. Im Plasma haben sich Atome in Ionen und Elektronen getrennt. Zunächst bahnt sich von der Wolke aus ein Leitblitz ruckweise seinen Weg durch die Luft und transportiert dabei elektrische Ladungen nach unten. Dessen Gegenstück, die sogenannte Fangentladung, steigt ihm vom Boden aus entgegen – bevorzugt von spitzen Objekten aus. Sobald sich beide verbunden haben, ist der Kanal für den Hauptblitz geschaffen.

Aleksandrovs Rechnungen zeigen nun, dass die Erzeugung der Fangentladung von einer Ionenwolke erschwert wird, der Raumladungswolke (siehe Kasten „Elmsfeuer und Raumladungswolken“ ). Sie bildet sich mit den Korona-Entladungen um spitze Objekte herum. Wenn aber die Spannung weiter wächst – weil die Gewitterwolke näher kommt oder sich weiter auflädt –, formieren sich Ionen zu kleinen Plasmafäden. Diese „Streamer“ können sich zu einem größeren Plasmaschlauch vereinigen und so eine Fangentladung bilden, die die Ladungswolke überwindet.

Dazu muss aber nach Aleksandrovs Berechnungen ein starkes elektrisches Feld vorhanden sein, das zudem innerhalb von Sekundenbruchteilen weiter rapide ansteigt. Genau diese Bedingung liefert ein sich nähernder Leitblitz in einem Radius von einigen 10 bis 100 Metern um seinen „Kopf“ herum. „In der Regel starten dann von mehreren Objekten auf dem Boden Fangentladungen“, ergänzt Aleksandrov. „Nur eine von ihnen gewinnt den Wettkampf und bestimmt damit den Einschlagspunkt des Blitzes. Typischerweise dauert das etwa eine Tausendstelsekunde.“

Ein Ziel von Aleksandrovs Forschungen ist, diesen Prozess zu beeinflussen und damit den Blitzschutz zu verbessern. Im Visier hat er dabei die Raumladungswolke. Denn sie schirmt eine sich bildende Fangentladung vor dem elektrischen Feld des Leitblitzes ab und verstellt ihr somit den Weg nach oben. Ist diese Ladungswolke dicht genug, kann sie die Vereinigung von Fangentladung und Leitblitz verhindern. Der Blitz wird sich dann ein anderes Ziel suchen.

Eine naheliegende Idee ist es deshalb, ein Gebäude vor Blitzeinschlag zu schützen, indem man es mit solch einer Ladungswolke umgibt. „Die Raumladung, die sich um einen gewöhnlichen stabförmigen Blitzableiter bildet, reicht dazu bei Weitem nicht aus. Der Blitzableiter hat ausschließlich die Aufgabe, das Gebäude dadurch zu schützen, dass er den Blitz auf sich zieht“, erklärt Aleksandrov.

Blitzableiter mit mehreren Spitzen erzeugen eine dichtere und damit effektivere Raumladung. „Solche Mehrpunktsysteme werden seit Jahrzehnten benutzt. Unsere Rechnungen zeigen aber, dass der Schutzradius der von ihnen gebildeten Raumladung relativ klein ist. Deshalb sind sie in erster Linie zum Schutz von hohen schlanken Objekten wie Masten oder Türmen geeignet.“ Allerdings räumt Aleksandrov ein: „Die Frage nach der Wirksamkeit dieser Mehrpunktsysteme ist Gegenstand einer hitzigen Debatte unter Experten. Es gibt dazu bisher zu wenig Felduntersuchungen.“

Blitzaufladung: Wolkenbatterie oder fallende Schwebeteilchen?

Auch das „Schaltbild“ vom Globalen Stromkreis ist umstritten. Bereits die Frage nach dessen Gesamtbudget schafft Probleme. Wie die „falsch gepolten“ positiven Blitze zeigen, ist der Globale Stromkreis nur grob mit einem einfachen elektrischen Stromkreis vergleichbar. Neben den Gewitterwolken, die den Stromkreis aufladen sollen – das heißt, dafür sorgen sollen, dass der Schönwetterstrom erhalten bleibt –, gibt es falsch gepolte Ströme wie die oben erwähnten Blitze über Waldbränden, die ihn entladen, aber auch weitere aufladende Ströme.

„Zu den entladenden Elementen gehören positive Blitze, doch auch Blitze innerhalb von Wolken“, sagt Earle Williams vom Massachusetts Institute of Technology im amerikanischen Cambridge, der sich seit über 25 Jahren mit Blitzforschung beschäftigt. „Aufwinde innerhalb von Gewitterwolken können sie dagegen weiter aufladen.“ Ebenfalls eine Aufladung erzeugt vermutlich die Wechselwirkung des Erdmagnetfelds mit dem Sonnenwind. „Sprites hingegen gehören zu den entladenden Elementen“, sagt Williams. Sprites sind Lichterscheinungen über Gewitterwolken, die sich bis in eine Höhe von 100 Kilometern erstrecken. Sie wurden erstmals 1989 vom Boden aus gesichtet. Ein Jahr später konnte ihre Existenz auf Videoaufnahmen bestätigt werden, die NASA-Astronauten vom Space Shuttle aus aufgenommen hatten.

Viele Forscher halten trotz dieser Komplikationen die Gewitter für eine der wichtigsten oder gar für die Hauptaufladungsquelle des Globalen Stromkreises. „Eines der überzeugendsten Argumente dafür ist die sogenannte Carnegie-Kurve“, sagt Williams. Die Carnegie-Kurve – benannt nach einem Forschungsschiff, das sie erstmals in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts aufzeichnete – zeigt tageszeitliche Schwankungen des Schönwetterfelds, das den Schönwetterstrom erzeugt (siehe Grafik „ Gewitteraktivität und Schönwetterfeld“). Das Schönwetterfeld erreicht seinen Maximalwert jeden Tag zwischen 14 und 20 Uhr Weltzeit. Die gängige Erklärung dafür: Während dieser Zeit läuft der Generator des Globalen Stromkreises auf Hochtouren. Denn am frühen Nachmittag lokaler Zeit ist die Gewitteraktivität am größten. Gegen 14 Uhr Weltzeit kommt es über Afrika und Europa zum Maximum. Wenige Stunden später – während die Gewitteraktivität auf diesen beiden Kontinenten noch nicht abgeklungen ist – erreicht sie in Nord- und Südamerika ihren Höhepunkt. Den weitaus größten Beitrag liefern dabei die tropischen Regionen. Der Beitrag von Asien ist deshalb geringer als die Beiträge von Afrika und Südamerika. Lediglich Australien liefert bezogen auf seine Landfläche noch einen relativ großen Beitrag zur globalen Gewitteraktivität. Über den Weltmeeren gibt es dagegen weitaus weniger Gewitter.

Ein genauerer Vergleich zwischen globaler Gewittertätigkeit, Blitzhäufigkeit und Carnegie-Kurve deutet jedoch darauf hin, dass neben den Blitzen weitere Aufladungsquellen existieren müssen. Untersuchungen von Serge Chauzy und Serge Soula vom Laboratoire d‘ Aérologie, Toulouse, zeigen, dass negativ geladene Niederschläge ebenfalls eine beträchtliche Ladungsmenge zum Boden transportieren.

Earle Williams und sein Kollege Stan Heckman hingegen kommen aufgrund von Beobachtungsdaten zu dem Schluss, dass Korona-Ströme den Hauptbeitrag zur Aufladung des Globalen Stromkreises liefern. Korona-Ströme umfassen nicht nur die selten sichtbaren Elmsfeuer, sondern Myriaden winziger Ströme, die unterhalb einer elektrisch aufgeladenen Wolke von allen spitzen Objekten ausgehen. Dazu gehören Blätter und Zweige. Sogar von jedem Grashalm und jedem Kopf- oder Barthaar steigt ein winziger Korona-Strom auf, sagen die beiden Wissenschaftler.

„Hier irrt Earle“, meint allerdings Wolfgang Kundt von der Universität Bonn. „Die Gleichungen der Elektrodynamik zeigen, dass die beobachteten Felder nicht zu einer Aufladung des Globalen Stromkreises durch Korona-Ströme passen, sondern zu einer Entladung!“ Kundt hat vor allem die theoretisch erschlossenen Eigenschaften des Globalen Stromkreises auf Stimmigkeit untersucht und dabei Ungereimtheiten entdeckt. „ Beispielsweise ist die angeblich zwischen Erdboden und Ionosphäre liegende Spannung von 250 000 Volt nie gemessen, sondern aufgrund zweifelhafter theoretischer Argumente erschlossen worden. Die Existenz von Sprites und Gamma-Blitzen verlangt kurzzeitig einen 400 Mal höheren Wert.“ Gamma-Blitze werden seit über zehn Jahren von NASA-Satelliten beobachtet. Man vermutet, dass sie unterhalb der Ionosphäre entstehen, aber oberhalb der Troposphäre – also einer Höhe von zehn Kilometern.

Kundts eigene Rechnungen zeigen, dass die Aufladung durch Gewitter um den Faktor 1000 zu klein ist, um den Schönwetterstrom aufrechterhalten zu können. „Man kommt zu diesem Ergebnis, wenn man die Multipolstruktur der Gewitterwolken richtig berücksichtigt“, sagt der Physiker (siehe Grafik „Viele Pole am Himmel“). „Typischerweise haben diese Wolken nämlich keine Dipol-, sondern eine Fünf- bis Sieben-Pol-Struktur. Die ersten guten Messungen dazu stammen von einem Team um Maribeth Stolzenburg von der University of Oklahoma in Norman. Es hat vor zehn Jahren an Ballonen hängende Messkapseln durch die Wolken geschickt. Die Ergebnisse widersprechen früheren Flugzeugmessungen, die vermutlich falsch gedeutet wurden. Zudem ergaben Stolzenburgs Messungen nur eine Gesamtspannung bis zu einer Million Volt zwischen Wolke und Erdboden, nicht 100 Millionen Volt!“

Die Rechnungen von Kundt und seinem Kollegen Gernot Thuma vom Bonner Max-Planck-Institut für Radioastronomie zeigen, dass fallende, negativ geladene Aerosole genügend Ladung transportieren könnten, um die Spannung zwischen Erdboden und Ionosphäre permanent so weit nachzuladen, dass der Schönwetterstrom erhalten bleibt.

„Diese Schwebeteilchen werden zum Teil von Aufwinden emporgetragen. Auch aus dem Weltraum fällt dauernd ein Staubregen ein“, erklärt Kundt. Die negative Ladung bekommen die Aerosole Kundt zufolge überwiegend von Elektronen, die beim Zusammenstoß der Kosmischen Strahlung mit Luftmolekülen entstehen. Der Globale Stromkreis würde demnach hauptsächlich aus einer Art Gegenverkehr innerhalb der Atmosphäre bestehen: Negativ geladene Aerosole, die schwer genug sind, dass sie fallen, laden ihn auf. Positive Ionen, die im Schönwetterfeld sinken, und negative Ionen, die aufsteigen, entladen ihn.

Weil der Nachweis des Ladungstransports durch die Staubteilchen äußerst schwierig ist, hat Kundts Theorie jedoch einen schweren Stand. „Bei der Beschäftigung mit seinen netten Ideen scheint Wolfgang manchmal zu vergessen, sich um die Ermittlung eindeutiger Beweise für seine Theorie zu kümmern“, stichelt Earle Williams. Und Kundt kontert: „Earle kann sehr uneinsichtig sein. Trotz neuer Argumente neigt er dazu, auf seinem alten Standpunkt zu beharren.“

Spannung liegt hier auch im übertragenen Sinn in der Luft. Sie wird sich erst entladen können, wenn weitere präzisere Messdaten der elektrischen Atmosphäreneigenschaften verfügbar sind. Eines jedoch ist jetzt schon klar: Das schöne simple Bild vom Globalen Stromkreis hat ausgedient. ■

AXEL TILLEMANS, promovierter Physiker und freier Wissenschaftsjournalist im nordrhein-westfälischen Titz, berichtet in bdw häufig über Geo-Themen.

Axel Tillemans

COMMUNITY Internet

Blitze und Gewitter:

www.wissen.swr.de/warum/blitze/ themenseiten/t1/s1.html

www.muk.uni-hannover.de/~finke/blitz/lightning0.html

www.vde.com/VDE/Ausschuesse/ Blitzschutz/Aktuelles/2005-Oeffentlich/Entstehung+Gewitter.htm

thunder.msfc.nasa.gov/primer/

science.howstuffworks.com/lightning.htm

Schutz vor Blitzen:

www.physik.uni-muenchen.de/leifiphysik/web_ph08/umwelt_technik/02_blitze/ interesse.htm

Gesundheitliche Folgen eines Blitzschlags:

science.nasa.gov/newhome/headlines/essd18jun99_1.htm

Ladungstransport in der Luft:

www.federmann.co.at/vfhess/Kapitel/ 3_2.html

Schönwetterstrom: science.nasa.gov/newhome/headlines/essd15jun99_1.htm

Sprites:

science.nasa.gov/newhome/headlines/essd10jun99_1.htm

Bilder und Filme von Blitzen und Sprites (Beobachtungen vom Space Shuttle):

www.ghcc.msfc.nasa.gov/skeets.html

Ohne Titel

Im Gegensatz zu den 100 bis 300 Volt pro Meter des Schönwetterfelds erreicht die Feldstärke unter einer Gewitterwolke Werte von mehreren 1000 Volt pro Meter. Doch das reicht bei Weitem nicht aus, um die Luft in beträchtlichem Maß zu ionisieren – also neutrale Moleküle in positiv geladene Ionen und negativ geladene Elektronen aufzuspalten. Diese freien Ladungsträger wären aber nötig, um einen Stromfluss in Gang zu setzen.

In der Nähe von spitzen Objekten wie Schiffsmasten oder Kirchtürmen ist die Situation jedoch anders. Direkt oberhalb der Spitzen erhöht sich die in der Umgebung herrschende Feldstärke um ein Vielfaches, weil hier die sonst zwischen Wolke und Erdboden in etwa parallel verlaufenden elektrischen Feldlinien in einem Punkt aufeinandertreffen.

Dieses starke elektrische Feld beschleunigt die wenigen freien Elektronen, die unter natürlichen Bedingungen immer in der Atmosphäre vorhanden sind – sie werden unter anderem fortwährend von der Kosmischen Strahlung erzeugt. Diese Elektronen schlagen beim Zusammentreffen mit Luftmolekülen weitere Elektronen aus ihren Kollisionspartnern heraus. Es entsteht eine Korona-Entladung, auch Elmsfeuer genannt. Ihr bläuliches Leuchten kommt dadurch zustande, dass sich einige der Elektronen wieder mit Luftmolekülen vereinigen.

Aber bereits in wenigen Zentimetern Abstand von der Spitze nimmt die Feldstärke wieder drastisch ab. Deshalb enthält die Luft hier – und natürlich auch auf der Strecke bis zur Wolke hinauf – nur den geringen Anteil der immer vorhandenen freien Ladungsträger. Ein beträchtlicher Stromfluss kann deshalb nicht zustande kommen.

Zusammen mit den Korona-Entladungen entsteht immer auch eine Raumladungswolke. Denn sobald sich aufgrund eines starken elektrischen Felds in der Nähe einer Spitze Elektronen von Luftmolekülen getrennt haben, bewegen sie sich in Richtung des jeweils entgegengesetzt geladenen Pols: Die positiven Luft-Ionen wandern nach oben zum negativ geladenen Pol der Gewitterwolke, die Elektronen verschwinden in der positiv geladenen Spitze.

Der springende Punkt ist: Weil Luftmoleküle einige 10 000 Mal schwerer sind als Elektronen, sind sie viel langsamer. Während die Elektronen praktisch sofort verschwinden, halten sich die Ionen recht lange in der Nähe der Spitze auf. Da zudem durch das elektrische Feld in der Nähe der Spitze fortwährend neue Ionen erzeugt werden, bleibt die Spitze dauerhaft von einer positiv geladenen Raumladungswolke aus Ionen umgeben.

Ohne Titel

· Die bei Gewitter auftretenden bläulich züngelnden Elmsfeuer signalisieren Gefahr: Sie können Blitze auf sich ziehen.

· Die Salzbeimischung in Graupelteilchen entscheidet, ob sich eine Gewitterwolke positiv oder negativ auflädt.

· Die Vorstellung eines elektrischen Stromkreises, der die gesamte Atmosphäre durchzieht, kann nicht stimmen.

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Ge|schichts|for|schung  〈f. 20〉 wissenschaftl. Erforschung der Geschichte, Teil der Geschichtswissenschaft

Lü|gen|dich|tung  〈f. 20; Lit.〉 volkstüml. Erzählung unmögl. od. stark übertriebener Begebenheiten, z. B. die Geschichte des Barons v. Münchhausen

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