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Endspurt der Genetiker

Allgemein

Endspurt der Genetiker
Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms wird früher fertig als geplant. Beim größten Marathon in der Geschichte der Biologie hetzen die Forscher im Sprint dem Ziel entgegen, ohne die letzten Runden gelaufen zu sein. Deutsche Genetiker sind allerdings kaum dabei.

Bis 2005 hatte sich die weltweite Gemeinschaft der Genpuzzler Zeit lassen wollen, um alle Buchstaben der menschlichen Erbinformation zu entziffern. Doch dann kam die Ankündigung des Privatforschers Craig Venter und seiner Firma Celera. Er will das menschliche Genom ebenfalls sequenzieren, aber für zahlende Kunden – und das in Rekordzeit. Venter bedroht und beschleunigt zugleich das ungewöhnlichste Projekt der modernen Biologie, und er offenbart ein deutsches Dilemma. Ungewöhnlich ist das Genomprojekt nicht nur wegen seiner Dimensionen – über drei Milliarden Dollar wurden dafür angesetzt –, sondern auch wegen seiner Koordination und Begleitforschung. Weltweit sprechen sich Wissenschaftler ab, wer welche Aufgaben übernimmt. Deutschland hat zum Beispiel Teile der Chromosomen 7, 11 und 21 sowie des Geschlechtschromosoms X übernommen (siehe Beitrag „Das Krankheits-Puzzle”). So wird Doppelarbeit verhindert, die in der modernen Biologie sonst oft geschieht, weil die Experten sich nicht gerne in die Karten schauen lassen.

Ungewöhnlich ist auch die Begleitforschung. Fünf Prozent der Gelder gehen in Projekte, die sich mit den moralischen Fragen und gesellschaftlichen Konsequenzen der Entschlüsselung des Genoms beschäftigen. Diese Projekte werden nicht nur von staatlichen Unternehmen, sondern auch von der Industrie gesponsert. Eines der wichtigsten Prinzipien der öffentlich geförderten Genomprojekte ist die Pflicht, alle Ergebnisse offenzulegen. Wer aus dem Ressourcen-Center von Prof. Annemaria Poustka in Heidelberg Genmaterial bekommt, muß dafür keinen Pfennig bezahlen. Er darf mit den Ergebnissen, die er damit erlangt, allerdings auch kein Geld verdienen oder sie in einer Schublade verschwinden lassen, um sich Patentrechte oder andere Vorteile zu sichern. Er muß seine Resultate in die gemeinsame Datenbank einbringen, um anderen Wissenschaftlern die Möglichkeit zu geben, damit weiterzuarbeiten. Dieses Prinzip war in Deutschland nicht immer selbstverständlich. 1997 kam es sogar zu einem internationalen Streit. Auslöser war eine Forderung des Vereins zur Förderung der Humangenomforschung, in dem sich die großen deutschen Chemie- und Pharmaunternehmen zusammengeschlossen haben. Mit dem Förderverein unterstützen sie die deutsche Genomforschung an Instituten und Universitäten. Dafür wollten sie eine Gegenleistung: Alle mit ihrer Unterstützung gewonnenen Ergebnisse sollten sechs Monate unter Verschluß bleiben, damit die Patentabteilungen der Unternehmen sie auf ihre kommerzielle Verwertbarkeit prüfen können. Erst nach internationalen Protesten der anderen Partner lenkten die Unternehmen ein.

Celera, das mit den Gendaten Geld verdienen möchte, arbeitet natürlich vollkommen anders: Die Firma verkauft die Ergebnisse ihrer Entschlüsselungsarbeit an Interessenten, behält aber die Rechte an den Daten für eine kommerzielle Verwertung. Bereits in den ersten fünf Wochen ihrer Sequenzierarbeit hat die Gesellschaft nach eigenen Angaben etwa 6500 vorläufige Patentanträge ausgefüllt. Für Francis Collins, den internationalen Direktor der Human Genome Organization (HUGO), der Gemeinschaft der Staatsforscher, ist das eine komplett andere Ideologie. Das Wissen über menschliche Gene muß Allgemeingut sein, bleibt das Motto der öffentlich geförderten Gruppen. Die Konsequenz: In den USA und Großbritannien fallen die Arbeitsgruppen vom Dauerlauf- ins Sprinttempo. Tag und Nacht laufen dort die Sequenzier-Maschinen auf vollen Touren. Schon bis zum kommenden Mai will HUGO eine sogenannte „Arbeitsfassung” der menschlichen Erbinformation vorlegen. Diese Daten werden zwar einigermaßen komplett, aber noch ungenau sein. Die Rohfassung für das kleinste Chromosom, die Nummer 22, stellte HUGO bereits im letzten Oktober vor. Der Zweck dieses Manövers: Wenn alle Gendaten bekannt sind, wird es für Konkurrent Celera schwer, menschliche Gensequenzen für sich zu beanspruchen und die öffentliche Genomforschung mit Patentanträgen zu behindern. Während in Großbritannien und den USA immer mehr Geld für die Sequenzierung zur Verfügung steht, sieht es in Deutschland völlig anders aus: das Bundesministerium für Bildung und Forschung kürzte die Mittel. „Wir haben jetzt nur noch 40 Millionen Mark pro Jahr”, klagt Dr. Johannes Maurer, Leiter der Geschäftsstelle des Koordinierungskomitees. „Damit haben wir insgesamt weniger zur Verfügung als die amerikanischen Kollegen allein als Steigerung bekommen haben.”

Obendrein müssen die deutschen Sequenzierer das knappe Geld auch noch für völlig verschiedene Projekte aufteilen: Unter den 50 hiesigen Arbeitsgruppen im Genomprojekt sind viele, die nicht die Struktur, sondern die Funktion von Genen untersuchen – für solche Projekte stehen in anderen Ländern zusätzliche Fördermittel zur Verfügung. „Unser Anteil am Genomprojekt ist neben dem der USA und Großbritanniens verschwindend gering”, stellt Prof. André Rosenthal vom Institut für Molekulare Biotechnologie in Jena fest. „Daß wir hier das zweitgrößte Sequenzier-Zentrum in Europa einrichten konnten, nach dem englischen Sanger-Center, haben wir nicht den Fördermitteln des BMBF zu verdanken”, sagt Rosenthal. „Dafür haben wir selbst weltweit Forschungsgelder eingeworben.”

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Prof. Hans Lehrach aus Berlin, einer der Direktoren des deutschen Genomprojektes, sieht im erzwungenen Verzicht der hiesigen Forscher auf den Endspurt sogar die Gefahr, daß für die künftige Arbeit wichtige Erfahrungen im Umgang mit der notwendigen Technik fehlen: „Das automatisierte Sequenzieren ist ja nur der Anfang. Wenn wir verstehen wollen, wie Hunderte von Genen zusammenarbeiten, dann müssen wir auch die Entschlüsselung ihrer Funktion automatisieren.” Für Lehrach wiederholen sich in der Genomforschung die Fehler, die vor 30 Jahren in Deutschland mit der fehlenden Mikrochip-Forschung gemacht wurden: „So wie wir heute Chips und Computer im Ausland kaufen, so werden wir wohl auch unsere Gendaten für die Krebsforschung in Zukunft wahrscheinlich bei großen Forschungskonzernen teuer erwerben müssen.”

Wie liest man Gene?

Das Genomprojekt ist im Prinzip nichts als ein gigantischer Datentransfer. Tausende von Wissenschaftler holen die biologischen Informationen aus den Kernen der menschlichen Körperzellen heraus, entziffern sie und übertragen sie in einen anderen Datenspeicher, den Computer.

Vier Arbeitsschritte sind nötig, um Gene lesen zu können – egal, ob von Darmbakterien, Bierhefe oder Menschen. Die Forscher müssen die Körperzellen knacken und die DNA-Stränge mit der Erbinformation heraus- holen, die DNA-Stränge klonieren, also in kleine Stücke unterteilen und vervielfältigen, die drei Milliarden Bausteine der Erbgutkette in der richtigen Reihenfolge ablesen und die Daten in einen Computer übertragen und analysieren.

Der erste Schritt ist der brutalste. Wer zum Beispiel Lebergewebe analysieren möchte, braucht dazu eine Art Moulinette, um das Organ zu zerhäckseln. Mit Alkohol, Lösungsmitteln und Salz entfernen die Wissenschaftler Zellbruchstücke, Fette und Eiweiße. Sie waschen die Erbinformation, bis sie als kleiner weißer Klumpen auf dem Boden des Reagenzglases liegt. Für die weitere Analyse sind die menschlichen Original-DNA-Stränge allerdings zu groß. Mehrere hundert Millionen Nukleotide, die biochemischen Buchstaben der Erbinformation, liegen auf einem Strang. So lange Abschnitte können auch die modernsten Analysegeräte nicht am Stück entziffern. Darum „klonieren” die Forscher die DNA. Klonieren bedeutet, Erbinformation zu vervielfältigen.

Für Genomprojekte klonieren die Forscher DNA mit Hilfe von Bakterien oder Hefezellen. Dazu zerschneiden sie die Erbgutstränge mit speziellen Enzymen zu handlichen Teilstücken, die sie in künstliche Bakterien- oder Hefechromosomen einsetzen. Die Mikroben akzeptieren diese Kunstgebilde und vervielfältigen sie bei ihrer normalen Vermehrung gleich mit. Der nächste Schritt ist die Hauptaufgabe des Human-Genom-Projekts: das Sequenzieren, das Entziffern des genetischen Textes. Er ist in vier Molekülbuchstaben geschrieben, mit den Laborkürzeln A, T, G und C. Um ihre Reihenfolge sichtbar zu machen, bedienen sich die Forscher eines biochemischen Tricks:

In den Körperzellen wird die Erbinformation vor jeder Zellteilung von speziellen Enzymen, den Polymerasen, verdoppelt. Beim Sequenzieren führen die Wissenschaftler diese Verdopplung im Reagenzglas durch – genauer: in vier Reagenzgläsern. In jedes Gefäß geben sie der Polymerase einen DNA-Abschnitt als Kopiervorlage, einen Gensatz, und alle vier Buchstaben zum Abschreiben. Außerdem füllen sie in das erste Gefäß zusätzlich defektes A, ins zweite defektes T und so weiter. Die Polymerase schreibt nun jeden Gen-satz von Anfang an. Sobald sie einen defekten Buchstaben erwischt, muß sie den Satz abbrechen. Das geschieht zufällig und an verschiedenen Stellen.

Auf diese Weise gibt es von jedem Satz verschieden lange Teilstücke, die sich im letzten Buchstaben unterscheiden – zum Beispiel:

ATTAGCTAGTC ATTAGCTAGT ATTAGCTAG ATTAGCTA Nun muß man aus diesen Satzfetzen einen lesbaren Text machen. Die Forscher schicken dazu die Stückchen durch ein feinporiges Gel. Darin bewegen sich die kleinen Stücke schneller als die großen. Außerdem wurde jeder Buchstabe mit einer anderen Farbe markiert. Auf dem fertigen Gel stehen Hunderte von farbigen Strichen untereinander. Die Wissenschaftler – oder heute meist ein Automat – können daraus von oben nach unten die Reihenfolge der letzten Gen-buchstaben in jedem Stück Erbgut ablesen. Im Beispiel oben wäre es CTGA. Den Rest erledigen die Computer. Sie setzen die einzelnen Genschnipsel-Informationen wieder zum kompletten Erbgut zusammen. Ein menschliches Genom besteht immerhin aus etwa drei Milliarden Buchstaben. Und nur mit Hilfe der Rechner können die Forscher die Aufgaben der Zukunft lösen: Wie arbeiten die über 100000 menschlichen Gene zusammen? Wie wird aus genetischer Information ein Mensch, und wie entstehen aus Gendefekten Krankheiten?

Thomas Willke

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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