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Kaugummi macht klug, Urlaub dumm…

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Kaugummi macht klug, Urlaub dumm…
Kann man das Gehirn trainieren wie einen Muskel? Was Ratgeberbücher seit langem versprechen, halten jetzt auch Wissenschaftler für machbar.

Siegfried Lehrl sitzt über endlose Zahlenkolonnen gebeugt. Immer wenn dreimal dieselbe Ziffer nebeneinander steht, unterstreicht der Psychologe an der Universität Erlangen sie. Lehrl macht keinen wissenschaftlichen Selbstversuch, sondern bereitet sich auf seinen Arbeitstag vor: „Wenn ich mich lasch fühle oder einen schwierigen Text verfassen muss, bringe ich vorher meinen Geist mit kleinen Übungen auf Trab.“ Seit er das praktiziert, schreibt er in der gleichen Zeit doppelt so viel. Und es fällt ihm deutlicher leichter, sich zu einem Anfang aufzurappeln. Hochleistungssportler wärmten sich schließlich auch erst auf, bevor sie in den Wettkampf gingen, meint Lehrl. Die Übungen sollen das Gehirn besser durchbluten und mit Sauerstoff versorgen. Lehrl hat mit Kollegen ein Programm entwickelt, das die kleinen grauen Zellen auf Vordermann bringen soll. Um das „ Gehirnjogging“, wie er es salopp nennt, populär zu machen, hat der Psychologe die Gesellschaft für Gehirntraining gegründet. Zahlreiche Volkshochschulen, Krankenhäuser und Altersheime bieten Kurse an. Schlauer werden wollen wir alle. In Buchläden füllen einschlägige Ratgeber die Regale, mancher Unternehmensberater bietet Veranstaltungen an, die den Geist von Firmenmitarbeitern anregen sollen. Im angelsächsischen Raum gibt es spezialisierte Unternehmen – Mind Gym in London etwa bietet 70 verschiedene Kurse an, um das Denken zu schulen. Auf ihrer Website wirbt die Firma mit einem Zitat der Oxforder Neurobiologin Susan Greenfield: „Es ist ein bisschen wie im Fitness-Studio. Wenn man sein Gehirn trainiert, wächst es.“ Kann man wirklich den Kopf trainieren wie den Körper? Reinhold Kliegl, Psychologe an der Universität Potsdam, steht den Angeboten kritisch gegenüber: „Was die Firmen anbieten, bringt wohl nichts.“ Meist sei der Gewinn durch das Training zu spezifisch. Die Teilnehmer könnten dann zwar bestimmte Aufgaben schneller lösen, mehr aber auch nicht. Von einer allgemeinen Steigerung der Intelligenz könne daher keine Rede sein. Wolf D. Oswald, Gerontologe an der Universität Erlangen, äußert sich ebenfalls skeptisch über Ratgeberliteratur und die Seminare von Unternehmensberatern: „Zumindest konnte bisher wissenschaftlich kein Erfolg nachgewiesen werden.“ Bei allem Gehirntraining, so Oswald, stellt sich zunächst die Frage, was eigentlich verbessert werden soll: die Kreativität, das Gedächtnis, die Konzentrationsfähigkeit, die Intelligenz?

Und was bedeuten die Begriffe: Ist Intelligenz die Fähigkeit, Probleme zu lösen, abstrakt zu denken oder sich geistig schnell an neue Bedingungen anzupassen? Und wie lässt sich das messen? „ Am wichtigsten ist die Unterscheidung von kristallisierter und fluider Intelligenz“, erklärt Oswald. Als kristallisierte Intelligenz wird alles bezeichnet, was mit Wissen und Information zu tun hat. Sie ist – neben Glück – nötig, um bei Günter Jauch eine Million zu gewinnen. „Die kristallisierte Intelligenz können wir im Lauf unseres Lebens ständig steigern, indem wir dazulernen“ , sagt Oswald. Anders die fluide Intelligenz: die Fähigkeit, unbekannte Probleme zu lösen und sich neuen Situationen anzupassen, ohne dass dabei auf besonderes Wissen zurückgegriffen werden muss. Diese Fähigkeit verringert sich ab dem 30. Lebensjahr. Den Rückgang kann man mit Gehirntraining verlangsamen, sagt der Psychologe, der auch Sozial- und Wirtschaftswissenschaften studiert hat. Zumindest für die älteren Semester kann Oswald das belegen. Im Rahmen des Projektes SIMA (Selbstständig im Alter) startete er 1992 eine Studie mit 375 Teilnehmern zwischen 75 und 93 Jahren, die bestimmte Trainingsprogramme absolvierten. Am besten schnitt dabei die Gruppe ab, deren Probanden täglich ein paar Minuten mathematische Aufgaben lösten und psychomotorische Übungen absolvierten – etwa einen Luftballon vor dem Spiegel von einem Finger der linken Hand zu einem der rechten zu bugsieren. Nur diese Kombination von geistigem und körperlichem Training, so meint Oswald, sichert über Jahre hinweg ein gutes Gedächtnis, ermöglicht ein selbstständiges Leben und führt zu weniger Demenz- Erkrankungen. Die Kopfarbeit fördert die noch vorhandenen Hirnfunktionen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Übungen Spaß machen. Im Gegenteil: „Wichtig sind Aufgaben, bei denen man sich quälen muss“ , betont Oswald. Damit trainiert man seine Schwachpunkte. Das Bewegungstraining schult nicht nur Wahrnehmung und Koordination, sondern verbessert auch den Stoffwechsel im Gehirn. Denn Denken ist Schwerarbeit: Das menschliche Hirn macht nur zwei Prozent des Körpergewichts aus, verbrennt aber 20 Prozent des Sauerstoffs, den wir verbrauchen. Beim Zuckerkonsum – als Indikator für den Energieverbrauch – geht sogar rund die Hälfte auf Rechnung der kleinen grauen Zellen. Der Erlanger Gerontologe hält bis heute Kontakt zu den 180 noch lebenden Versuchsteilnehmern. Im letzten Jahr ermittelte er die Faktoren, die ein selbstständiges Leben gefährden: Neben Schlaganfall und Depression spielen demzufolge mangelnde körperliche und geistige Aktivität eine große Rolle. Gehirntraining wirke auch der Alzheimer-Krankheit entgegen, sagt der Alternsforscher. Eine Langzeitstudie des St. Luke’s Medical Center in Chicago, die das Verhalten von 801 katholischen Priestern, Nonnen und Mönchen zwischen 1994 und 2001 erfasste, bestätigt das. 111 von ihnen erkrankten in dieser Zeit an dem mentalen Leiden. Das Alzheimer-Risiko für diejenigen, die regelmäßig lasen, reisten oder Kreuzworträtsel lösten, lag um 47 Prozent niedriger als das für ihre denkfaulen Altersgenossen. Use it or lose it, lautet Oswalds Fazit. Benutze dein Gehirn oder verliere es. Ein gewisser Abbau an fluider Intelligenz ist zwar unvermeidbar. Aber wie groß er ausfällt, kann man beeinflussen. In Deutschland und Österreich gibt es knapp 3000 SIMA-Gruppen, erklärt der Erlanger, der selbst täglich psychomotorische Übungen praktiziert. Die Teilnehmer sind ab 50 Jahre alt. In den Kursen von Siegfried Lehrls Gesellschaft für Gehirntraining tummeln sich vor allem jüngere Altersklassen. Selbst Schüler hoffen auf einen besseren Lernerfolg. Die Zentrale des bewussten Denkens ist Lehrl zufolge der „Kurzspeicher“, in dem Informationen aufgenommen und bearbeitet werden. Je schneller er ist und je mehr Daten er fasst, desto rascher können wir denken. Wie viel er insgesamt fasst, hängt von der „Gegenwartsdauer“ ab. Sie bestimmt, „wie lange wir die Zeit anhalten können“. Die Gegenwartsdauer sorgt dafür, dass wir am Ende eines Satzes den Anfang noch parat haben. Eine fünfstellige Zahl können sich viele merken, wenn sie sie einmal gehört haben. Hat sie aber zehn Stellen, straucheln die meisten. Dann dauert das Sprechen der Zahlenfolge länger als die Gegenwartsdauer. Die Kapazität des Kurzspeichers reicht nicht mehr, und viele können keine einzige Ziffer wiedergeben.

Beim Gehirnjogging wird die Gegenwartsdauer geübt: Der Trainer liest Ziffern vor, die Teilnehmer sollen sie sich merken und sie wiederholen. Eselsbrücken sind verboten. Mit solchen Denkhilfen lassen sich zwar längere Zahlenketten memorieren. Doch das soll nicht an einer verbesserten Gegenwartsdauer liegen, sondern am niedrigeren Informationsinhalt der Ziffernreihe. Das Langzeitgedächtnis zu trainieren, halten beide Wissenschaftler für weniger wichtig. An Ereignisse, die Jahrzehnte zurückliegen, können sich viele Menschen auch im hohen Alter meist haarklein erinnern – aber oft nicht an kürzlich Erlebtes. Schuld daran ist weniger ein löcheriges Gedächtnis als ein verkümmerter Kurzspeicher, der die neuen Informationen aufnehmen, sortieren und teilweise ans Langzeitgedächtnis weitergeben soll. Wie in den SIMA-Kursen von Prof. Oswald streuen auch beim Gehirnjogging à la Lehrl die Trainer immer wieder Bewegungsübungen ein. In Ruhe neigen wir dazu, geistig wie körperlich träge zu werden, sagt Lehrl. Und ein „optimales körperliches Aktivierungsniveau“ ist eine wichtige Voraussetzung für geistige Höhenflüge. Versuchspersonen hatten bis zu 20 Prozent besser abgeschnitten, wenn sie nicht still dagesessen hatten, sondern auf einem Standfahrrad gemächlich vor sich hin gestrampelt waren, als sie über Testaufgaben grübelten. Schon die „Peripatetiker“ des alten Griechenlands sind spazieren gegangen, während sie nachdachten. Da man in der Schule oder bei Vorlesungen nicht einfach herumlaufen kann, empfiehlt Lehrl wenigstens die Kiefer zu bewegen und Kaugummi zu kauen. Selbst dadurch werde man wacher. Das habe er in sechs Studien bewiesen. In einer davon etwa hätten Medizinstudenten mit Kaugummi zwischen den Zähnen nach der Vorlesung noch 30 Prozent mehr von deren Inhalt gewusst als ihre Kommilitonen mit leerem Mund. Ohne geistiges Training schlafft der Mensch schnell ab. Lehrl: „Wenn wir nicht gefordert werden, sinkt der Intelligenzquotient schon nach fünf Tagen im Schnitt um fünf Punkte.“ Nach drei Wochen Faulenzerurlaub oder Krankenhausaufenthalt sei er gar um bis zu 20 Punkte niedriger. Oswald widerspricht vehement. Wenn der Intelligenzquotient sich so schnell ändere, mache das ganze Konzept keinen Sinn: „Der IQ ist ein stabiles Maß.“ Die Schwankungen einer Person bei Intelligenztests fallen äußerst gering aus, meint Oswald. Lehrl, der an der Psychiatrischen Klinik der Erlanger Universität arbeitet, kontert mit einer ganzen Liste von Faktoren, die den IQ massiv drücken können: Unterzuckerung, Wassermangel, Vergiftung mit Kohlenmonoxid, Bluthochdruck, Schwerhörigkeit, Schilddrüsenfehlfunktionen. Selbst Fehlsichtigkeit kann die Intelligenz drastisch verringern. Das haben kürzlich Untersuchungen an rund 50 Patienten ergeben, die sich einer Star-Operation unterzogen. Obwohl Oswald und Lehrl an derselben Hochschule lehren und sich in vielen Punkten einig sind, ist ihr Verhältnis eher kühl. Lehrl will von einer Zusammenarbeit nichts wissen: „Wir entstammen verschiedenen Kulturen.“ Er käme mehr aus der Medizin, Oswald eher aus der geisteswissenschaftlichen Richtung. Oswald kritisiert, Lehrl stelle Steigerungen der Aufmerksamkeit als solche der Intelligenz hin. Jemanden in einen wachen, aufnahmebereiten Zustand zu versetzen, heiße aber nicht, ihn schlauer zu machen: „Das kann auch eine Tasse Kaffee schaffen, wenn sich der Proband müde fühlt – oder eine Halbe Bier, wenn er überdreht ist.“ Und wer will schon behaupten, dass ein Helles helle macht?

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Ab dem 30. Lebensjahr nimmt die Fähigkeit ab, unbekannte Probleme zu lösen. Durch gezieltes Üben lässt sich der Rückgang verlangsamen. Bewegungstraining fördert das Denken. Ob man in jungen Jahren mit Gehirntraining seinen Intelligenzquotienten erhöhen kann, ist umstritten.

Wolfgang Blum

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