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Maden in den Sack

Allgemein

Maden in den Sack
Schmeißfliegen-Maden sind nicht nur exzellente Wundchirurgen, sie verfügen auch über eine umfangreiche „ Apotheke” mit Medikamenten gegen Eiter und Fäulnis.

„Wir haben einen Wundverband geschaffen, der lebt und intelligent reagiert.” Stolz präsentiert Wim Fleischmann von der Unfallchirurgischen Abteilung des Krankenhauses Bietigheim einen unscheinbaren weißen Beutel. Dieser „Biobag” enthält Maden der Schmeißfliege Lucilia sericata in einem Geflecht aus Polyvinylalkohol. Seine Aufgabe: die Therapie schlecht heilender Wunden, bei denen andere Therapien versagt haben. Die Tiere nagen das faulende Gewebe ab, ohne das gesunde zu beschädigen. Die Wunde, die zuvor stank und gelb bis schwarz gefärbt war, wirkt danach sauber und zartrosa. Bislang war die Behandlung mit Maden eine exotische – und eklige – Heilmethode.

Doch zunehmend erforschen Wissenschaftler die Geheimnisse der Maden und machen aus ihnen marktfähige Produkte. Der von Fleischmann und der belgischen Firma Polymedics in Ohmstede entwickelte Biobag senkt nicht nur den Ekel. Bei der bisher üblichen „offenen Madentherapie” leiden einige Patienten unter so starken Schmerzen, daß sie Schmerzmittel brauchen oder sogar die Behandlung abbrechen müssen. Der Grund sind spitze Haken am Kopf der Maden. Diese Dornen verletzen die äußeren Hautschichten. Davor schützt die 0,5 Millimeter dicke Polyvinylalkohol-Membran, ohne die Maden beim Säubern der Wunde zu behindern. „Mit dem Biobag haben unsere Patienten keine Schmerzen mehr”, versichert Fleischmann.

Als Mediziner ist ihm ein weiterer Effekt des Biobag wichtig: Der Sack hält die Maden an Ort und Stelle. „Viele unserer Patienten haben Infektionen mit Wundkeimen, die gegen Antibiotika resistent sind. Wenn eine Made aus der Wunde entweicht, sich verpuppt und als Fliege die Bakterien durchs ganze Krankenhaus trägt, könnte dies eine Epidemie von multiresistenten Keimen auslösen”, sagt Fleischmann. Obendrein sinke natürlich die Effektivität der Therapie, wenn Maden die Wunde verlassen.

Mit dem Biobag hofft Fleischmann die Patienten, vor allem aber auch das Pflegepersonal für die Therapie zu gewinnen. John Church, Altpräsident der Internationalen Biotherapie-Gesellschaft und Madenpionier Englands, ist überzeugt: „Patienten lieben die Madentherapie.” Doch die meisten Pfleger sträuben sich gegen die Maden. Fleischmann sagt: „Viele Ärzte haben mir schon versichert, daß sie die Maden gerne einsetzen würden. Doch sie können die Behandlung nicht gegen das Pflegepersonal durchsetzen.”

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Mehrere Forschungsgruppen wollen darum ohne Maden auskommen. Wie die Wissenschaftler feststellten, säubern die Tiere die Wunden nicht nur mechanisch. Sie liefern sich in den Wunden chemische Gefechte mit den Eitererregern und anderen Keimen. Sie tun es zum eigenen Schutz, denn die Bakterien, die in der nährstoffreichen Wundsuppe prächtig gedeihen, könnten die Maden bedrohen. „Die Maden mußten daher in der Evolution Methoden entwickeln, um das Bakterienwachstum einzudämmen”, sagt Kosta Mumcuoglu, Präsident der Internationalen Biotherapie-Gesellschaft, von der Hebräischen Universität in Israel.

Als erste Abwehrmaßnahme fressen die Maden die Bakterien. Wie Mumcuoglu herausfand, zerstört der Madendarm die Keime vollständig: Der Kot ist beinahe steril. Außerdem scheiden die Maden antibakterielle Substanzen aus, vor allem Peptide mit neuartigen pharmazeutischen Eigenschaften. Die Wirkstoffe haben gegenüber den heute verwendeten Antibiotika einen entscheidenden Vorteil: Gegen die Madensubstanzen bilden die Bakterien kaum Resistenzen. Während Antibiotika die Biochemie der Keime blockieren, reißen die antibakteriellen Peptide der Maden Löcher in die Hülle der Bakterien – eine Strategie, die auch Pharmafirmen interessiert. Die Forscher haben noch mehr heilende Effekte der Insekten kennengelernt: Die Tiere greifen in die menschliche Biochemie ein, stimulieren das Immunsystem und regen das Wachstum der Hautzellen an. Mumcuoglu kann bisher nur raten, wie sie das machen: Wirken einige der vielen Wachstumsfaktoren, die die Maden für ihr eigenes Wachstum produzieren, aus purem Zufall auch auf die menschlichen Zellen? Stimulieren die Tiere das Immunsystem des Patienten, um Hilfe im Kampf gegen die Bakterien zu bekommen? Mumcuoglu ist überzeugt, daß die bisherigen Entdeckungen erst die Spitze des Eisberges sind. „Wir bringen zwei mehrzellige Organismen zusammen. Da sind die Wechselwirkungen sehr kompliziert”, sagt Mumcuoglu. Auch Fleischmann ist von der Komplexität der Maden-Wund-Beziehung fasziniert: „Das Madensekret ändert sich mit den Bedingungen. Bei hoher Bakterienbelastung nimmt die antibakterielle Wirkung zu. Mit den Tieren im Biobag haben wir einen intelligenten Wundverband.” Schon arbeitet der Mediziner am nächsten Produkt: dem sogenannten Hatchbag (vom englischen „to hatch”, schlüpfen). Der Hatchbag enthält keine Maden, sondern Eier. Sie werden in einen künstlichen „Schlaf” versetzt, damit die Maden nicht zu früh schlüpfen. Der Hatchbag macht damit die ausgefeilte Logistik überflüssig, die beim Biobag nötig ist, damit die Maden spätestens zwei Tage nach dem Schlüpfen auf der Wunde sind. Den Hatchbag mit den Eiern könnte ein Apotheker getrost in seinen Schrank stellen. „Wir sind schon ziemlich weit”, meint Fleischmann. „Bereits aus der Hälfte der reaktivierten Eier schlüpfen Maden.” Der Chirurg glaubt an den Erfolg seiner kleinen Helfer: „Vielleicht holt man sich bei einer Verletzung in der Apotheke bald nicht mehr ein Pflaster, sondern einen Hatchbag.” Für die alltäglichen Wehwehchen wäre das allerdings zu aufwendig.

Marcel Falk

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