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Alptraum ewige Jugend

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Alptraum ewige Jugend
1200 Jahre lang leben oder gar ewig – das ist für visionäre Biologen kein Problem mehr, das ist machbar. Doch wie würde eine Gesellschaft mit lauter agilen Uralten aussehen? Ein Essay von Jens Bergmann.

Im 22. Jahrhundert besiegt der Mensch den Tod. Regelmäßige Zellauffrischungskuren lassen ihn ewig jung bleiben. Die ersten Generationen sind mit dieser unendlichen Perspektive noch überfordert. Millionen fliehen in den Selbstmord oder betäuben sich mit Drogen. Später lernen die Menschen, mit der Unsterblichkeit zu leben: Sie entwickeln eine ungezügelte Eigenliebe. Bis auf wenige Sektenmitglieder, die ein sogenanntes Familienleben praktizieren, leben Männer und Frauen allein und treffen sich nur gelegentlich. Die Reproduktion ist streng geregelt: Je nach Genotyp bekommen die Menschen das Recht, ein bis drei Kinder zu zeugen. Müttern und Vätern, die ihre Quote ausgeschöpft haben, wird eine Kapsel implantiert, die 40 bis 50 Jahre später zu einem zufälligen Zeitpunkt detoniert und innerhalb von fünf Tagen schmerzfrei zum Tod führt. Die so zur Sterblichkeit verurteilten Menschen werden als „Befristete“ bezeichnet.

Das phantastische Szenario stammt von Tom Kirkwood, Pro-fessor für Biologische Gerontologie an der Universität Manchester. Im letzten Kapitel seines jüngst erschienenen – und sonst streng an Fakten orientierten – Buchs „Zeit unseres Lebens“ beantwortet er die Frage: Was ist, wenn der Menschheitstraum von ewiger Jugend in Erfüllung geht?

Grundsätzlich hält Kirkwood es für möglich, unsere Lebens-spanne deutlich auszudehnen. Denn biologisch, so seine Kernthese, ist Altern weder unvermeidbar noch notwendig. Allerdings wäre es für die Natur sehr aufwendig, komplizierte Organismen wie den Menschen dauerhaft „instand zu halten“. Für den Bestand der Art reicht es völlig, wenn das Individuum genug Zeit hat, um Nachwuchs zu zeugen und aufzuziehen. Der Mensch konnte sich aber mit seinem unausweichlichen Ende nie so recht abfinden. Muß er bald nicht mehr, versprechen Woodring Wright und Jerry Shay vom Southwestern Medical Center in Dallas. Die Zellbiologen sind überzeugt, daß unser Alter genetisch programmiert – und beeinflußbar ist. Mit der Geburt beginnt in jeder Körperzelle eine innere Uhr zu ticken. Wenn sie abgelaufen ist, stirbt die Zelle. Gesteuert wird die Lebensdauer nach Überzeugung der „Programm -Theoretiker“ durch Schutzkappen an den Chromosomenenden. Diese Telomere (griechisch: Endteile) werden bei jeder Zellteilung kürzer. Wenn das Minimum erreicht ist – der Zähler quasi auf Null steht –, stirbt die Zelle. Keimzellen, also Samen- und Eizellen, sind dagegen gefeit. Sie verfügen über einen Reparaturmechanismus, der das Enzym Telomerase herstellt und die Zellen für immer jung hält. Wright und Shay ist es im Labor gelungen, mit Hilfe von Telomerase Chromosomen-Enden zu verlängern. Auch alternde Körperzellen lassen sich dank des Enzyms verjüngen, versprechen die beiden Wissenschaftler.

„Schon in 20 Jahren“, so Wright, „werden wir in der Lage sein, die Lebensspanne beliebig zu manipulieren.“ Eine wohl zu vollmundige Versprechung. Denn Versuche haben gezeigt: Das vermeintliche Lebenselixier Telomerase fördert die Bildung von Tumoren. Außerdem ist es unwahrscheinlich, daß ein einziger „ Schalter“ für den Alterungsprozeß des komplexen Systems Mensch verantwortlich ist. Doch auch zurückhaltende Wissenschaftler wie Dietrich Schachtschabel vom Marburger Institut für interdisziplinäre Gerontologie und angewandte Sozialethik (IGS) gehen davon aus, daß das Geheimnis der Vergänglichkeit bald gelüftet sein wird. „Schon in wenigen Jahren werden Gene identifiziert sein, die für den biologischen Alterungsprozeß des Menschen verantwortlich sind“, sagt er. Dann werde es Versuche geben, diesen Prozeß – und später die genetischen Informationen selbst – mit pharmakologischen Mitteln zu beeinflussen. Darf Medizin so weit gehen?

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„Es wird Diskussionen geben“, prophezeit Schachtschabel. „Ich bin jedoch überzeugt, daß ausprobiert werden wird, was machbar ist.“ Wissenschaft und Industrie, aber auch Menschen, die an Alterskrankheiten wie Parkinson leiden, und ihre Angehörigen werden erheblichen Druck ausüben.“

Zur Zeit liegt unsere maximale Lebensdauer bei etwa 120 Jahren; dank des sozialen und medizinischen Fortschritts nähern sich im-mer mehr Menschen diesem Wert. Der Humangenetiker John Harris, Berater von Tony Blair in Fragen der Gentechnik, hält langfristig eine durchschnittliche Lebensdauer von 1200 Jahren für erreichbar. Etwas bescheidener ist Michael Fossel, Neurobiologe an der Michigan State University: Er hat eine Spanne von 693 Jahren errechnet. In seinem Buch „Das Unsterblichkeits-Enzym“, malt er eine rosarote Zukunft und schwärmt von einer harmonischen Gesellschaft agiler Methusalems. Eine friedliche Welt soll das sein, weil für Kriminalität hauptsächlich die unter 40jährigen verantwortlich sind. Und er träumt von einem Öko-Paradies, weil sehr alte Menschen daran interessiert sind, die Umwelt zu schützen. Die Kleinfamilie wird allerdings aussterben – niemand hält es Hunderte von Jahren mit ein und demselben Partner aus.

Doch wer hätte in dieser schönen neuen Welt Zugang zum Jungbrunnen? Der Sozialethiker Siegfried Keil, Direktor des Marburger IGS, glaubt nicht, daß alle Menschen von den Segnungen der lebensverlängernden Gentechnik profitieren werden. Er erinnert daran, wie weit wir heute von einer gerechten Verteilung der Ressourcen entfernt sind: „In Afrika sinkt die durchschnittliche Lebenserwartung seit Jahren.“ Auch für die Industrienationen, so Keil, „hätte die Manipulation unserer inneren Uhr schwerwiegende Folgen. Eine Gesellschaft, in der die Menschen im Schnitt 100 Jahre alt werden, ist demokratisch organisierbar. Eine Gesellschaft, in der die Lebenserwartung deutlich darüber hinaus ginge, wäre es vermutlich nicht.“ Schon mit dem „normalen“ demografischen Wandel tun sich die Industrieländer schwer, wie die aktuelle deutsche Debatte um Rente und Einwanderung zeigt. „Wenn es wirklich zu einer drastischen Zunahme der Lebenserwartung kommen sollte, wird auch an einer drastischen Heraufsetzung der Lebensarbeitszeit kein Weg vorbeiführen“, sagt der Darmstädter Volkswirtschaftler und Politikberater Bert Rürup voraus. „Eine Gesellschaft der Alten ist mit Sicherheit kein ökonomisches Schlaraffenland.“

Zudem würden sich die Verteilungskämpfe zwischen Jung und Alt verschärfen, sagt der Marburger Sozialhistoriker Peter Borscheid voraus. „Statt heute drei oder vier würden künftig zehn oder mehr Generationen nebeneinander leben und um Macht und Einfluß ringen. Es könnte eine Gesellschaft entstehen, in der die Jungen verzweifeln, weil die Alten nicht abtreten.“ Vielleicht liegt der Schwellenwert künftig bei 150. Wesen, die so alt werden, müßten allerdings einen hohen Preis zahlen, warnt Dietrich Schachtschabel. „Sie würden mit künstlich verlangsamtem Stoffwechsel ein gedämpftes Leben führen, bei dem das Risiko von Alterskrankheiten weitestgehend ausgeschaltet wäre.“ Und sie wären sehr anfällig für schädliche Einflüsse von außen, die man wiederum durch standardisierte, toxinfreie Nahrung und eine künstliche, „sterile“ Atmosphäre ausschalten müßte. Schachtschabel: „Eine ewige Jugend, die mir nicht besonders lebenswert erscheint.“

Mancher fordert eine Denk-pause. Die ist unwahrscheinlich – der Traum von der Abschaffung des Todes, vom endgültigen Triumph des Individualismus ist zu verführerisch. Schon in ein paar Generationen könnte unsere Welt viel seltsamer aussehen, als wir uns das heute vorstellen. Im Zukunftsszenario von Tom Kirkwood geht die Macht im Staate von den „Befristeten“ aus, denjenigen, die Todeskapseln geschluckt haben. Denn sie allein sind es, „die kein Interesse daran haben, die Gesellschaft zu ihrem eigenen langfristigen Vorteil zu manipulieren“.

Jens Bergmann

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