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Der wahre Wert des Fleisches

Allgemein

Der wahre Wert des Fleisches
Der Kunde hat die Wahl: Preiswerte Steaks oder glückliche Kühe. Der Verbraucher wünscht sich Fleisch von Tieren, die artgerecht gehalten und gefüttert, schonend transportiert und geschlachtet wurden. Die dafür notwendige Fläche würde Deutschland drastisch verändern – und der Preis für „unser täglich Fleisch“ die Eßgewohnheiten.

Steak, Schnitzel und Salami schmekken den Deutschen nicht mehr wie früher. Seit Jahren geht der Fleischverbrauch zurück (siehe Grafik Seite 46) – gleichzeitig verfällt das Image tierischer Nahrungsmittel.

„Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie das Wort ,Fleisch` hören?“ wollten im Sommer 1994 Wissenschaftler vom Institut für Agrarökonomie der Universität Kiel in einer repräsentativen Befragung wissen. Das Ergebnis: Über 80 Prozent der Interviewten nannten spontan die Begriffe BSE, Schweinepest, Massentierhaltung oder Hormone. Tierschützer beklagen das Leid der Kreatur in den „Fleischfabriken“, Umweltverbände kritisieren außerdem die ökologischen Folgen der Massentierhaltung: Die anfallende Gülle belastet die Gewässer mit Nitrat, die Böden mit Ammoniak.

Inzwischen hat auch der deutsche Bauernverband den Ernst der Lage erkannt und im Herbst 1996 eine Ethikkommission gegründet. Die soll alle Formen der Nutztierhaltung kritisch überprüfen. Daß es vom verlautbarten guten Willen aber noch ein weiter Weg ist, den die deutschen Viehzüchter zurückzulegen haben, zeigte gerade im Januar erst wieder der Skandal um die gefälschte Identität eines an BSE erkrankten Rindes, das dem Käufer heimlich aufgetischt werden sollte.

Welche Folgen hätte es aber, wenn die Wünsche der Konsumenten allesamt in Erfüllung gingen – wenn also das Fleisch auf deutschen Tischen nur noch von Tieren stammte, die artgerecht gehalten und gefüttert, die nur kurze Strecken zum Schlachthof transportiert und schonend getötet wurden? Reichte die landwirtschaftlich genutzte Fläche in Deutschland aus, um die derzeitige Fleischproduktion dann noch zu gewährleisten? Und wie teuer würde das Schnitzel werden? Die Antworten auf solche Fragen hängen von vielen Faktoren ab.

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„Eine artgerechte Haltung muß es den Tieren ermöglichen, ihre angebore-nen Verhaltensweisen auszuleben“, sagt Prof. Engelhard Boehncke vom Fachgebiet Ökologische Tierhaltung der Gesamthochschule Kassel. Die Realität sieht in den meisten landwirtschaftlichen Betriebe anders aus. Die Mastschweine dort kommen in ihrem nur vier bis fünf Monate währenden Leben, in dem sie pro Tag durchschnittlich 800 Gramm zunehmen sollen, nie ins Freie. Die Tiere leben zusammengepfercht auf Beton- oder Metallböden, so daß sie ihrem Wühltrieb nicht nachgehen können und sich in ihren eigenen Kot legen müssen. „Das Schlimmste für die Tiere ist, daß nichts passiert, weil ihre Umwelt so reizarm ist“, sagt Boehnke. Die Folge sind schwere Verhaltensstörungen. Die Schweine versuchen sich gegenseitig Schwänze oder Ohren abzubeißen. Die Reaktion der Bauern darauf: Sie schneiden schon den Ferkeln die Schwänze ab.

Mehr Platz für Rind, Schwein und Huhn ist deshalb eine Forderung, die die meisten Konsumenten unterschreiben würden. Wieviel Fläche ein Tier bei artgerechter Haltung braucht, ist aber nicht einheitlich festgelegt. Der Gesetzgeber schreibt nur Mindestgrenzen vor, die mit Tierschutz nicht viel zu tun haben: So steht einem schlachtreifen Schwein von rund 100 Kilogramm Gewicht weniger als ein Quadratmeter zu.

Um einen Anhaltspunkt zu haben, wieviel Platz man bräuchte, um nur noch „glückliche“ Kühe, Schweine und Hühner in Deutschland zu halten, kann man sich an den Bestimmungen des „Neuland“-Vereins orientieren. Der wurde in den achtziger Jahren von Verbänden wie dem Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) und dem Deutschen Tierschutzbund gegründet. Die Mitglieder von Neuland sind bäuerliche Betriebe, die sich verpflichten, Fleisch und Eier nach einheitlichen Tierschutz- und Umweltrichtlinien zu produzieren (siehe „Keine Lust auf weißes Fleisch“, bild der wissenschaft, 5/1989). Dazu gehört neben der artgerechten Haltung auch die Vorgabe eines Tier/Flächen-Verhältnisses, das eine Überdüngung des Bodens verhindern soll. Danach dürfen maximal 14 Schweine, 600 Masthähnchen oder 3 ausgewachsene Rinder auf einem Hektar gehalten werden. Darin steckt zudem die Vorgabe, daß bei mittlerer Bodenqualität die Fläche ausreichen soll, um die nötigen Futtermittel für die Tiere überwiegend selbst anzubauen.

Würden die Neuland-Richtlinien für alle Bauern Deutschlands verbindlich, bräuchte man noch aus einem anderen Grund mehr Platz: Die Zahl der Tiere müßte um etwa ein Drittel ansteigen, wenn die Fleisch-, Milch- und Eierproduktion auf ihrem jetzigen Stand bleiben soll. Denn Neuland-Bauern mästen ihr Vieh langsamer als sonst üblich. Es dauert etwa ein Drittel länger, bis die Tiere schlachtreif sind. Artgerecht gehaltene Hennen legen zudem weniger Eier und glückliche Kühe geben weniger Milch. Statt rund 130 Millionen deutsche Schweine, Schafe, Rinder und Hühner bräuchten wir dann rund 170 Millionen, um den derzeitigen Bedarf zu decken.

Würde der Neuland-Flächenschlüssel für jedes dieser Tiere gelten, dann würde der Platz, der heute für die Nutztierhaltung in Deutschland zur Verfügung steht, nicht mehr ausreichen. Gegenwärtig wird für Wiesen, Weiden und den Anbau von Futtermitteln eine Fläche genutzt, die so groß ist wie die Bundesländer Hessen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen und Hamburg zusammen (104000 Quadratkilometer). Für die 170 Millionen Tiere in Neuland-Haltung bräuchte man 19000 Quadratkilometer mehr, ein Areal – das fast die Größe von Rheinland-Pfalz hat.

Das ist allerdings nur eine sehr grobe Rechnung, die von einer durchschnittlichen Bodenqualität ausgeht. Die tatsächlich benötigte Landmenge dürfte höher liegen. Denn besonders dort, wo Bauern wenig fruchtbare Böden nutzen, können sie ihren Bedarf an Futtermitteln meist nicht vollständig selbst decken. Sie müssen Nahrung zukaufen, deren Anbau wiederum Fläche erfordert – wenn nicht in Deutschland, dann im Ausland.

Aber selbst, wenn diese Flächen zur Verfügung stünden, könnten Fleischliebhaber nicht ohne Gewissensbisse ihren jetzigen Konsum beibehalten. Denn nur die nationale Rindfleischproduktion schafft es derzeit, die hungrigen Mägen der Fleischesser allein zu füllen. Schweine-, Geflügel- und Schaffleisch muß zusätzlich aus anderen Ländern eingeführt werden. Insgesamt stammen rund 20 Prozent des Fleisches auf deutschen Tellern aus Importen. Um den gesamten Fleischbedarf aus heimischer Produktion zu decken, müßte man die Anzahl der Tiere – über die berechneten 170 Millionen hinaus – nochmals steigern. Sonst wären die Verbraucher weiterhin auf ausländische Lammkeulen, Hähnchenschnitzel und Schweinshaxen angewiesen, die aus französischer, holländischer oder polnischer Massentierhaltung kommen. Dieser Konflikt ließe den tierliebenden Konsumenten von Kotelett und Kasseler nur zwei Auswege: Entweder sie verzichten noch häufiger auf Fleisch, oder sie schaffen mehr Platz für die Nutztierhaltung in Deutschland.

Wahrscheinlich würden sie sich für die erste Möglichkeit entscheiden – vor allem aus finanziellen Gründen. Ein paar Hektar Wald könnte der eine oder andere vielleicht entbehren, damit es dem Schlachtvieh bessergeht, mehr bezahlen wollen die meisten aber nicht. Denn eine artgerechte Tierhaltung verursacht Mehrkosten, die der Bauer an die Verbraucher weitergeben muß. „Der Ladenpreis von Neuland-Fleisch liegt je nach Tierart und Produkt 20 bis 60 Prozent höher als bei Fleisch aus konventioneller Haltung“, sagt Heinrich Rahlfs, Geschäftsführer von Neuland in Niedersachsen.

Da die Fleischpreise zwischen München und Hamburg, zwischen Stadt und Land sowie zwischen Supermarkt und dem Metzger an der Ecke teils um mehr als 100 Prozent differieren, sind konkrete Angaben sehr schwierig. Anhaltspunkte für die Belastung des persönlichen Geldbeutels kön-nen ausgewählte Fleischpreise der Zentralen Markt- und Preisberichtsstelle in Bonn (ZMP) von Anfang dieses Jahres geben, im Vergleich dazu jeweils die Angaben für Neuland-Fleisch:

konventionelle Schweineschnitzel wurden für 11 bis 18 Mark das Kilo angeboten, Neuland-Schnitzel für 19 bis 23 Mark. Rinderhackfleisch aus artgerechter Haltung kostete statt 9 bis 14 Mark je Kilo 16 bis 20 Mark. Bei einer Lammkeule könnten die Kunden einiger Edelmetzger sogar sparen. Die Spanne in den konventionellen Läden reichte nach Angaben der ZMP von 18 bis 29 Mark je Kilo, Neuland-Lamm war für 22 bis 24 Mark zu haben.

Nach einer Umstellung der Tierhaltung würde sich die deutsche Küche bei ähnlichen Preissprüngen für Hähnchen, Wurst und Schinken wohl nachhaltig ändern. Während heute viele Menschen meinen, zu einer ordentlichen Mahlzeit gehöre Fleisch, würden sie dann aus finanziellen Gründen wohl mehr vegetarische Tage pro Monat einlegen.

Wenn man allerdings auf das Szenario von Prof. Arnim Bechmann setzt, muß es ganz so schlimm nicht kommen. Der Leiter des Zukunftsinstituts Barsinghausen bei Hannover, einer unabhängigen Forschungseinrichtung, hat berechnet, wie die deutsche Landwirtschaft flächendeckend auf ökologische Methoden – inklusive artgerechter Tierhaltung – umgestellt werden kann. Seine These: Der Fleischpreis kann auf dem jetzigen Niveau gehalten werden – allerdings müßte man dazu die Subventionen, die derzeit für die Vermeidung, Verwaltung und Vernichtung überschüssiger Agrarprodukte ausgegeben werden, gezielt auf Öko-Bauern umschichten.

Auf die landwirtschaftlichen Betriebe kämen ohnehin größere Umstellungen zu als auf die Verbraucher. Sollte Deutschland bei der Einführung strenger Tierschutzrichtlinien einen Alleingang wagen, müßten die heimischen Bauern – bei steigenden Produktionskosten – die Konkurrenz ihrer ausländischen Kollegen fürchten, die den Markt mit Billig-Fleisch überschwemmen würden. Doch selbst, wenn die deutschen Landwirte durch Fleischzölle geschützt würden, müßten viele zunächst kräftig in den Bau neuer Ställe investieren oder die alten nach den Richtlinien des Tierschutzes umbauen. Ein Beispiel dafür wäre die Abschaffung der Spaltenböden. Viele Bauern halten Schweine und Rinder nicht auf Stroh, sondern auf durchlöcherten Metall- oder Betonplatten, die einfach zu reinigen sind.

Tierschützer und Tiermediziner kritisieren aber, daß sich Rinder und Schweine darauf nur eingeschränkt bewegen können. Außerdem bemängeln sie, daß kein ungestörtes Liegen möglich sei, weil Kälte und Fäkaliengestank durch die Öffnungen aufsteigen. Dadurch werden die Tiere anfälliger für Krankheiten wie Erkältungen und Lungenentzündungen und müssen mit Medikamenten – etwa Antibiotika – gefüttert werden. Die Forderung der Kritiker: Rückkehr zum Stroh.

Diese Änderung würde nicht nur Geld für die Umbauten kosten, sondern auch den Arbeitsaufwand erhöhen. Das dürfte besonders den großen Betrieben zu schaffen machen, die die Abläufe unter den jetzigen Bedingungen so optimiert haben, daß sie viele Tiere mit sehr wenigen Mitarbeitern versorgen können. Sie müßten zusätzliche Arbeitskräfte einstellen und bezahlen. Kleine und mittlere Betriebe hätten dagegen bei der Umstellung meist größere Chancen, weil sie im Verhältnis zum Tierbestand mehr Menschen beschäftigen, die den zusätzlichen Aufwand besser auffangen können. In diese Richtung gehen jedenfalls die Einschätzungen von Jürgen Braun, der in seiner 1995 an der Universität Hohenheim veröffentlichten Doktorarbeit die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Umstellung auf den ökologischen Landbau am Beispiel Baden-Württembergs untersucht hat. Braun kommt in seiner abschließenden Schätzung für die gesamte Bundesrepublik zu dem Ergebnis, daß Betriebe mit großen Schweine- und Geflügelbeständen zu besonders drastischen Änderungen gezwungen wären. Diesen Eindruck teilt Heidrun Betz, Pressesprecherin des Deutschen Tierschutzbundes: „In der Schweine- und Geflügelhaltung gibt es die größten Mißstände.“

Es ist also denkbar, daß die meisten landwirtschaftlichen Großbetriebe – besonders die Schweine- und Geflügelhalter – eine Umstellung auf artgerechte Tierhaltung nicht überleben. Sie wären nicht mehr konkurrenzfähig. In der alten Bundesrepublik hätte das vor allem Auswirkungen in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, wo sich die Großproduzenten konzentrieren. Dort würde dann zumindest vorübergehend ein beträchtlicher Teil der landwirtschaftlichen Produktion wegbrechen. Die Bauern in den südlichen Bundesländern mit ihren meist kleineren Betrieben ständen besser da.

Besonders hart dürfte es aber die neuen Bundesländer treffen. Rund 90 Prozent aller Schweine werden dort in Großbetrieben mit mindestens 1000 Tieren gehalten (in den alten Bundesländern sind es nur 13 Prozent). „Einige dieser Betriebe haben sich wirtschaftlich noch nicht stabilisiert. Eine zwangsweise Umstellung auf ein arbeitsintensiveres Haltungssystem könnte sie auf dem Weg aus der Verlustzone wieder deutlich zurückwerfen“, meint Jürgen Braun.

Indes praktiziert das Bundesland Hessen schon seit 1993 eine „sanfte“ Methode, um den Tierschutz in der Landwirtschaft auch ohne großes Höfesterben durchzusetzen: Bei Neu- oder Umbauten von Ställen erhalten nur noch die Bauern öffentliche Fördergelder, die sich streng an einen Tierschutz-Katalog halten, der von hessischen Politikern, Landwirten und Wissenschaftlern aufgestellt wurde. „Wir sind die ersten, die ein solches Programm gestartet haben.

Aber inzwischen zeigen auch andere Bundesländer Interesse“, betont Willi Müller-Braune vom Hessischen Landesamt für Regionalentwicklung und Landwirtschaft.

Die Methode hat einen großen Nachteil: Bis die Mehrzahl der Bauern ihren Betrieb umgestellt hat, werden Jahre ins Land gehen. Einen sehr viel schnelleren Wandel könnten die Konsumenten erreichen, indem sie tun, was sie vorgeben zu wollen – und nur noch Fleisch von artgerecht gehaltenen Tieren kaufen. Bisher sind moralische Grundsätze aber meist vergessen, wenn es an die eigene Geldbörse geht.

Frank Fleschner

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