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Titelthema: Nachrichten aus dem Jahr 2064

Allgemein

Titelthema: Nachrichten aus dem Jahr 2064
Eine Zeitreise: Sich über die Zukunft Gedanken zu machen, ist ein reizvolles Spiel – besonders am Ende eines Jahrtausends. Aber dabei kann man ganz schön daneben liegen. Ein Rückblick auf eine Vorhersage.

„Computer – auf gehts.“ Hätte er nicht reagiert, ich hätte nichts dagegen gehabt. Aber das Spracherkennungssystem ist zuverlässig. Obwohl ich erkältet und stockheiser bin, identifiziert das Programm meine raue Stimme und den Startcode. Also gut, der Termin ist sowieso schon überschritten, ich muss sehen, dass ich weiterkomme mit meinem Artikel. Dann soll aber wenigstens die Atmosphäre stimmen.

„Computer – virtuelles Büro in die Karibik.“

Die Hologrammprojektoren in der Decke werden aktiv. Sonne, Sand und blauer Himmel überlagern die Wände in meiner Arbeitsecke. Die Klimaanlage fährt auf 24 Grad und bläst eine Brise Meeresluft ins Zimmer. Entspannt lehne ich mich zurück.

„Computer – Notizmodus. Lass mich sehen, was ich zum Thema ,100 Jahre bild der wissenschaft` gesammelt habe.“

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Der Bildschirm materialisiert über dem Strand, der Text scrollt langsam ab. Wo war ich? Ach ja, der Artikel eines früheren Kollegen, von 1997 – schon fast 70 Jahre her. Er sollte sich, 1000 Tage vor dem 1. Januar 2000, Gedanken machen, wie die Welt im 21. Jahrhundert wohl aussehen würde.

Hinterher ist man ja immer klüger. Aber in ein paar Punkten hat er sich wirklich gräulich verhauen. Schon seine Ausgangsidee: Er beschrieb in einer Vision seinen letzten Arbeitstag im Jahr 2021. Da wurde er 65 und wollte „in Rente gehen“, wie es damals hieß.

Dass er zu der Zeit sein Büro schon zu Hause haben würde, war ja nicht schwer vorauszusagen. Die elektronische Vernetzung war Alltag. Seit 2005 hatte man sie zügig umgesetzt. Nanotechnik hatte genug Kapazität von Datenspeichern bereitgestellt, Glasfaserverkabelung und die neue Generation von Kommunikationssatelliten hatten für die zuverlässige Übertragung von Informationen gesorgt.

Die meisten Schreibtischjobs in Verwaltungen und Behörden wurden schon 2010 in den eigenen vier Wänden erledigt, das Finanzamt bestand nur noch aus einem großen Rechner, die Banken sowieso. Architekten, Konstrukteure und Chemiker bastelten zu Hause an ihren Entwürfen von Hochhäusern, Müllverbrennungsanlagen und neuen Medikamenten, und sie diskutierten und korrigierten ihre Ideen in Bildschirmkonferenzen, bei denen sie sich die Datensätze zuspielten. Prinzipiell hat sich daran bis heute nicht viel geändert, außer dass sie damals noch auf Terminals und Tastaturen angewiesen waren. Die Sprachsteuerung war für komplizierte Teamarbeit noch nicht gut genug. Sie konnte zwar Diktate von Einzelpersonen aufnehmen und in gedruckten Text umsetzen, aber nicht zwischen mehreren Gesprächsteilnehmern unterscheiden. Und die Simultanübersetzung klappte auch noch nicht, wenn etwa ein Amerikaner einem Japaner etwas zu erklären versuchte und ein Deutscher gute Ratschläge dazwischenwarf.

Jede Detailänderung musste mit dem Joystick oder mit einem Sensorstift auf dem Bildschirm vorgezeichnet werden. Heute sage ich einfach dem Computer, was er tun soll: den Durchmesser einer Düse ändern oder ein Molekül gegen ein anderes austauschen. Er kapiert, führt es aus und setzt es in eine 3-D-Abbildung um, die alle Beteiligten gleichzeitig auf dem Schirm haben, wahlweise als Hologramm im Arbeitszimmer. Das ist bequem. Immerhin, ansatzweise kam das in der Prognose des Kollegen aus dem Jahr 1997 schon vor.

Bei der Einschätzung aber, wie man seinen Artikel im Jahr 2021 lesen würde, lag er ziemlich daneben. Gut, in der damaligen Euphorie über die neuen Medien, das Zusammenwachsen der verschiedenen digitalen Informationstechniken, lag es vielleicht nahe, nur noch „elektronisch“ zu denken. Aber Beruf und Privatleben sind 2021 doch erstaunlich getrennt geblieben. Wer den ganzen Tag Memos und Datensätze am Bildschirm bearbeitet hatte, der wollte in seiner Freizeit doch ein Stück Papier in der Hand halten – mit dem Unterschied, dass er sich seine Zeitung oder sein Magazin nicht mehr am Kiosk gekauft hat, sondern im Wohnzimmer hat drucken lassen, in Farbe, die Themen zusammengestellt nach den eigenen Interessengebieten, bei den besseren Geräten sogar mit der Option, die Seiten wie ein Heft zusammenzulegen. Erstaunlich, wie haltbar diese emotionale Bindung an das Blättern ist – bis heute, sonst würden wir ja die Jubiläumsausgabe zum hundertsten Geburtstag von bild der wissenschaft nicht auch auf Papier anbieten. Die hat ihre Kunden, auch wenn wir im Netz täglich einen aktualisierten Querschnitt durch alle Forschungsgebiete zusammenstellen.

Oh, gut dass ich daran denke: Ich muss die letzten Meldungen von Harro noch zu einem Artikel zusammenfassen. Er müsste eigentlich seinen fälligen Bericht aus der Marskolonie schon übertragen haben. Eine Million Menschen leben jetzt da, nach der jüngsten Statistik, und mit den Eisbrocken aus dem Asteroidengürtel haben sie auch ihr Wasserproblem in den Treibhäusern wieder im Griff.

Wo war ich? Ach ja, Fehleinschätzungen. Rückzug aus der Arbeitswelt mit 65, spätestens mit 68 Jahren. 1997 erwirtschafteten die Leute, die Arbeit hatten, das Geld für die Ruheständler. Generationenvertrag hieß das. Ließ sich aber nicht durchhalten, vor allem aus drei Gründen: Intelligente Programme und Maschinen erledigten schon kurz nach der Jahrtausendwende den größten Teil der produktiven Arbeit. Deshalb gab es zweitens – im Vereinten Europa genauso wie in allen anderen Industrieländern – immer mehr Menschen ohne Arbeit, also auch ohne Gehalt, von dem die Rentner finanziert werden konnten. Und drittens sorgte die Medizin dafür, dass die Menschen immer älter wurden und dabei fit blieben.

Die Neurobionik war zwar noch nicht so weit wie heute. Inzwischen kann ich mir für jedes kranke oder verschlissene Körperteil eine Prothese machen lassen. Meine neuen Augen mit Restlichtverstärker sind wirklich gut. Kann sich natürlich nicht jeder leisten. Die automatische Urin-, Stuhl- und Speichelkontrolle im Klo und im Bad ist aber Standard. Sie überwacht meinen Körperstatus, gibt dem Heimterminal Empfehlungen für Ernährung und Medikamente, sperrt bei Bedarf in der automatischen Küche kritische Lebensmittel – stimmt, heute Morgen hatte ich schon wieder Tee statt Kaffee – und informiert das Gesundheitszentum bei Anzeichen von Diabetes oder wenn die Tumormarker im Abwasser auf Krebszellen gestoßen sind. Wenn ich ein paar Tage später eine Nachricht bekomme und ins Zentrum gehe, haben die Ärzte dort schon gentechnisch konstruierte Antikörper für mich parat, die mit dem Krebs im Frühstadium kurzen Prozess machen.

Inzwischen ist das ja alles Routine, aber die medizinische Ferndiagnose hatten die Japaner tatsächlich schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts getestet, das voll implantierbare Kunstherz ist seit 2010 Standard, die Impfungen gegen Aids und Alzheimer immerhin seit 2013.

War das nicht das Jahr, in dem der erste Präsident des Vereinten Europas gewählt wurde? Wie hieß er noch? Kohl, Helmut Kohl, genau. 83 war er damals. Sein letztes erklärtes Ziel hat er auch noch geschafft: Er wollte länger leben als sein politisches Vorbild, ein gewisser Konrad Adenauer. Der ist 91 geworden. Und Kohl?

„Computer – Zugang Dokumentation. Prüfe die Daten von Kohl, Helmut, und ergänze die Notizen.“

Okay, immer mehr Menschen wurden also immer älter. Der einzige Ausweg aus dem Versorgungsengpass war die Grundrente für alle, ungerecht, aber unvermeidlich. Und die verbleibende Arbeit – vor allem eben in der medizinischen Versorgung – wurde auf die Jüngeren verteilt.

„Computer – Zugang Archiv. Lass mich mal die Akte Nakott anschauen, Mitarbeiter von bild der wissenschaft, Anfang des Jahrhunderts.“

Genau, da hat er mit seiner Vision zehn Jahre danebengelegen. Nicht mit 65, mit 55 Jahren war Schluss in der Arbeitswelt. Die Grundrente von 1300 Euro – so hieß das Geld, bevor 2047 die Weltwährung Terra eingeführt wurde, Terra-Credit, um genau zu sein, mit dem koreanischen Won als Leitwert – reichte für seine Hobbys: Golf spielen und Jura studieren.

Kostete ja nicht viel. Seit die Landwirtschaft der Industrieländer in den großen Agrofabriken mit gentechnischer Produktion konzentriert worden ist, gibt es jede Menge Platz für billige Freizeit- und Sportparks. Zusätzlich mussten die Regierungen Bildungsprogramme anbieten, gegen die Langeweile der jungen Alten – versorgt, aber ohne Beschäftigung. Seit 2015 gibt es immerhin mehr Menschen in Europa über 60 Jahre als in der Altersgruppe von 20 bis 60.

Die Freizeit scheint ihm nicht schlecht bekommen zu sein. Wie alt ist er jetzt? 107. Na ja, 120 zu werden ist inzwischen beinahe normal. Vielleicht sollte ich ihn anrufen und ihn fragen, was er heute über seine Prognosen von damals denkt. Oder besser: Ich fahre hin. Das kostet mich zwar wieder einen Tag, aber das macht die Geschichte lebendiger.

„Computer – einen Platz in der Magnetbahn nach Nizza, für morgen früh, und dann eine Passage nach Ajaccio. Abends zurück. Und melde mich an bei Nakott. Kopie meiner bisherigen Notizen dazu, dann weiß er, was ich von ihm will.“

Noch so eine von seinen Fehleinschätzungen. Klar, Ende des 20. Jahrhunderts war die Magnetbahn, der Transrapid, wie er in Deutschland hieß, politisch tot. Nicht finanzierbar, kein Bedarf. Aber da war wirklich noch nicht abzusehen, dass in den zwanziger Jahren Inlandflüge verboten werden mussten. Die Atmosphäre hat die Abgasbelastung nicht mehr verkraftet. Inlandflüge, das heißt Flüge innerhalb Europas. Aber auch von New York nach Los Angeles, von Peking nach Hongkong. Zwischen den Kontinenten fliegt man seitdem über der Atmosphäre, und für den Transport auf der Erde hat man die Magnetschwebebahnen dann doch gebaut. Mit Tempo 500 bin ich in zwei Stunden in Nizza, kurz vor Mittag auf Korsika.

„Antwort von Nakott ist eingetroffen. Soll ich das Hologramm einspielen?“

Was? Da hat der alte Knabe ja schnell reagiert. Eine Bestätigung für den Termin hätte mir doch gereicht.

„Computer – Holo aktivieren.“

So, so, eitel ist er auch noch. Sein Projektionsprogramm hat sein Aussehen doch bestimmt um 40 Jahre korrigiert. Und wie väterlich er mich angrinst.

„Hallo, lieber Kollege. Wie gehts? Ich freue mich, dass diese alte Geschichte von mir für Sie noch etwas hergibt, auch wenn der Anlass nicht gerade schmeichelhaft ist. Aber wer rechnet schon damit, dass er sich nach 70 Jahren noch für alte Behauptungen rechtfertigen muss. Erlauben Sie mir, Ihnen nur mit einem Zitat zu antworten. Ich habe dazu schnell nochmal in mein Archiv geschaut. Es stammt von einem Physiker und Industriemanager des letzten Jahrhunderts, einem Dr. Walter Kroy, falls Sie den Namen wissen wollen. Der sagte bei einem Vortrag im Jahr 1996 in der bayerischen Stadt München zum Thema Prognosen: ,Wir fahren in die Zukunft mit dem Blick in den Rückspiegel. Die Frontscheibe ist blind. Unser Maßstab für die Zukunft ist die Vergangenheit.` Und er erinnerte an die Chaos-Theorie. Sie wissen ja: Ein winziges, unvorhersehbares Ereignis, eine einzige Idee kann die Weltgeschichte verändern. Also, urteilen Sie gnädig. Ende.“

Klugscheißer.

Aber gut, die Reise habe ich gespart. Mal sehen, was fehlt denn noch? Über die Solarkraftwerke, die seit den zwanziger Jahren die Erde aus dem All mit Energie versorgen, habe ich jetzt immer noch nichts gesagt, auch nichts über die Evakuierung der Pazifischen Inselstaaten, die 2050 vom steigenden Meer überspült worden sind.

Was solls.

„Computer – Exit Karibik. Beende Programm.“

Morgen ist auch noch ein Tag.

(Der Artikel folgt den Regeln der neuen Rechtschreibung – mit freundlicher Hilfe der Dudenredaktion.)

Jürgen Nakott

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