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WIE ZARA GERETTET WURDE

Erde|Umwelt Gesundheit|Medizin

WIE ZARA GERETTET WURDE
Die Patientin ist erst ein paar Tage alt und lebt in Australien. Die Menschen, die ihr als Einzige helfen können, sind zwei deutsche Professoren.

Esra Ogru ist glücklich. „Ich kann es immer noch nicht fassen“ , sagt die Frau sehr leise. „Da sind viele kleine Wunder passiert und viele kleine fantastische Geschichten.“ Zara schläft gerade. Esra Ogrus Tochter hat am 18. Mai 2010 im australischen Melbourne ihren zweiten Geburtstag gefeiert – bei bester Gesundheit. Fünf Tage nach ihrer Geburt hätte das niemand für möglich gehalten. Bis auf Günter Schwarz, Professor an der Universität Köln, und sein Kollege Jochen Reiss von der Universität Göttingen. Obwohl sie zu jenem Zeitpunkt die kleine Zara noch gar nicht kannten.

Erst am 23. Mai 2008 klingelte Schwarz‘ Telefon. Am anderen Ende der Leitung war Esra Ogru. Ihr neugeborenes Kind Zara sei an der „Molybdän-Co-Faktor-Defizienz“ erkrankt, abgekürzt MoCD. Was das bedeutete, wusste Schwarz nur zu gut. Schon am zweiten Tag ihres Lebens werden die Kleinen von Zuckungen bis schweren Krämpfen heimgesucht. Von da an zerfällt ihr Gehirn so atemberaubend rasch, dass es selbst erfahrene Mediziner verstört. „Nach drei Monaten können bis zu 70 Prozent der Großhirnrinde abgestorben sein“, macht Schwarz die Dimensionen klar. Die Kinder entwickeln sich nicht, liegen apathisch und bewegungslos herum, ihr Schädel verformt sich. Die Krämpfe werden immer beängstigender. Therapiemöglichkeiten: keine. Die Eltern können nur hilflos zusehen, wie ihre Kinder langsam sterben. „Die Ärzte sagten, dass unser Baby nicht lange leben würde“, erzählt Esra Ogru. „Aber ich wollte das einfach nicht glauben.“

FIEBERHAFTE RECHERCHE

Glaube, Tat, Zufall – wie so oft in dieser Geschichte von erstklassiger Wissenschaft und einem Parforceritt durch die australischen Behörden bis hin zum obersten Gericht. Von Berufs wegen versteht Esra Ogru etwas von Medizin: Die Biochemikerin arbeitet in leitender Position in einem australischen Pharma-Unternehmen. Fieberhaft durchforsteten ihre Kollegen und sie die Literatur über die MoCD – und landeten bei einer Veröffentlichung, „von der ich sofort überzeugt war“, sagt die Australierin. Autoren waren die Professoren Schwarz und Reiss. So nahm die Rettung der kleinen Zara ihren Lauf.

Eigentlich begann die Geschichte schon um die Jahrtausendwende. Damals fingen die beiden Deutschen an, kooperativ ein Forschungsfeld zu beackern, das auf den ersten Blick wenig attraktiv erschien. Denn die MoCD gehört zu jenen Tausenden oft angeborenen Stoffwechsel-Defekten, die allesamt sehr selten sind. Sie stehen nicht im Fokus der Pharma-Industrie, weil sich die Entwicklung von Therapien wegen der wenigen Patienten nicht lohnt. Ihre Erforschung wird – wie in diesem Fall – höchstens von Einrichtungen wie der Novartis-Stiftung gefördert und ist auf die Initiative einzelner Forscher angewiesen. Sie widmen, getrieben von akademischer Neugier und persönlichem Engagement, „zumindest eines ihrer Leben diesen Krankheiten“, wie Günter Schwarz es ausdrückt.

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Der Biochemiker beleuchtete damals noch als Doktorand an der Technischen Universität Braunschweig, wie Pflanzen den sogenannten Molybdän-Co-Faktor herstellen. Das kleine organische Molekül MoCo verbindet sich mit verschiedenen lebenswichtigen Proteinen, die allesamt das Spurenelement Molybdän enthalten. Allein, ohne Bindung an ein Enzym, zerfällt der Stoff sekundenschnell wie ein Schneeball in der Mikrowelle, was eine künstliche Herstellung der Substanz bislang unmöglich machte. „ Ohne MoCo“, sagt Schwarz, „versagt auch das Enzym zur Entgiftung von Sulfit, das unser Stoffwechsel täglich aus Nahrungsbestandteilen bildet.“ Die Schwefelverbindung verteilt sich im Körper und vergiftet die Zellen – in Pflanzen, in Bakterien, in Menschen und Tieren. Nach und nach klärte der gebürtige Thüringer die Stoffwechsel-Prozesse auf, mit denen intakte Organismen MoCo herstellen. Verblüffend war: Die Reaktionen gleichen sich in allen Lebewesen. Drei Synthese-Schritte führen in einer Art Stoffwechsel-Stafette über diverse Zwischenprodukte zum fertigen Co-Faktor.

SULFIT-KATASTROPHE IM GEHIRN

Entsprechend sind verschiedene Gene an der Produktion von MoCo beteiligt, deren Struktur und Funktion Jochen Reiss am Göttinger Institut für Humangenetik aufgeklärt hat. Jedes dieser Gene kann wegen eines Erbfehlers mutiert sein. Tatsächlich trägt ein Drittel der MoCD-Patienten ein defektes MOCS2-Gen in den Zellen, das den zweiten Produktionsschritt steuert. Den Schritt davor lenkt das MOCS1-Gen, das bei zwei Dritteln der kleinen Patienten krankhaft verändert ist – so auch bei Zara. Dieses Gen codiert den Bauplan für ein Enzym, das einen Stoff namens cPMP bildet, den ersten Vorläufer von MoCo. Die kranken Babys können mutationsbedingt cPMP nicht herstellen, was schließlich zur Sulfit-Katastrophe in ihrem Gehirn führt.

Als Gene und Proteine der MoCo-Synthese analysiert waren, witterten Reiss und Schwarz eine Therapie-Chance: Wenn sich schon nicht der Co-Faktor selbst herstellen ließ, dann doch zumindest cPMP. Mit gentechnologischen Mitteln züchtete Reiss‘ Team Mäuse mit defektem MOCS1-Gen. „Diese Tiere entwickeln exakt die gleichen Symptome wie kranke Menschen“, sagt Reiss, „und sterben binnen zehn Tagen nach der Geburt.“ Weil die MoCo-Synthese in allen Lebewesen übereinstimmt, hatte Reiss damit ein ideales Modell für die menschliche Krankheit – und für eine mögliche Behandlung, die Günter Schwarz fand. Aus Bakterien isolierte der Biochemiker in reiner Form das cPMP-Molekül, das die Mäuse (und die meisten Patienten) nicht bilden können. Zweimal wöchentlich injiziert, verwerten es die Nager weiter zum fertigen Co-Faktor. Resultat: „Keinerlei Symptome“, wie Schwarz sagt, „bis die Tiere eines natürlichen Todes sterben.“

„JEDER TAG ZÄHLT“

Das alles berichteten die beiden Kompagnons der Fachwelt im Jahr 2004. Das alles las Esra Ogru am 19. Mai 2008. Die Biochemikerin verstand sofort: Diese Therapie könnte funktionieren. Als Mutter und als Kollegin redete sie auf Schwarz ein: „Und ich wusste, jeder Tag zählt.“ Obwohl tief überzeugt von seinem Behandlungskonzept, blieb der Kölner zunächst zurückhaltend. Ja, die Therapie hatte Mäuse mit MoCD geheilt. Mäuse! Über die Anwendung am Menschen besagte das wenig. Um mögliche Nebenwirkungen zu minimieren, muss das Medikament unter zertifizierten Bedingungen hergestellt und in umfangreichen Studien auf Verträglichkeit und Sicherheit getestet sein. Beides schien nicht annähernd in Sicht. „Genau das ist unser Geschäft“, konterte die Pharma-Managerin Ogru. „Wir prüfen rasch, ob das Labor-cPMP klinischen Maßstäben entspricht.“

Doch in Schwarz‘ Laborkühltruhe lagerten nur geringe Mengen des Wirkstoffs. „Unsere damalige Produktion lieferte gerade mal ein paar Millionstel Gramm in einigen Monaten“, erinnert sich Schwarz. „Eine Dauertherapie braucht viel mehr.“ Für Ogru kein Problem. Ihr Versprechen: das cPMP zu zertifizieren und rasch in die Klinik zu bringen. So ließ sich der Kölner Mediziner letzten Endes überzeugen, das cPMP herzugeben, ungeachtet aller Risiken – und begeistert von der Aussicht, ein Leben zu retten. „Die nun folgende Kaskade der Ereignisse fasziniert mich heute noch“, sagt der Biochemiker, „weil alle an einem Strang zogen, um unfassbar schnell die Hindernisse aus dem Weg zu räumen.“ Der Parforceritt durch Medizin und Behörden liest sich so:

24. Mai: Verschiffung der ersten Medikamenten-Charge nach Australien.

26. Mai: Kontakt mit dem behandelnden Arzt im Royal Children Hospital in Melbourne, zufällig einem Deutschen namens Alex Veldmann, der sofort begeistert war.

28. Mai: Ankunft des Medikaments in Melbourne.

28. Mai bis 3. Juni: Alle Beteiligten arbeiten auf der Basis der Mäusestudie einen 30- seitigen Behandlungsplan für Zara aus, inklusive der kniffligen Dosis-Findung.

2. Juni: Bestätigung, dass Zara an der häufigeren der beiden Krankheitsformen leidet, dem MOCS1-Gen-Defekt. Nur in diesem Fall kann cPMP helfen.

3. Juni: Die Reinheitsanalyse bestätigt, dass der Stoff aus dem Schwarz-Labor klinisch eingesetzt werden kann.

4. Juni: Erste Anhörung vor der Ethik-Kommission des Hospitals. Die Rechtsabteilung des Klinikums äußert Bedenken und fordert eine Anhörung vor dem höchsten Gericht von Australien, dem Supreme Court of Australia.

4. Juni (Nacht): Binnen Stunden erstellen Ärzte und Anwälte eine über 100-seitige Dokumentation über Nutzen und Risiken der Behandlung.

5. Juni, 15.30 Uhr: Der Supreme Court entscheidet in einem Eilverfahren: Die kleine Zara darf behandelt werden.

5. Juni, 17 Uhr: Zara erhält die erste Infusion mit cPMP.

Der Erfolg war durchschlagend: Binnen einer Woche hatten sich die für die MoCD wichtigen Stoffwechselwerte zu 90 Prozent normalisiert. „Absolut beeindruckend“, sagt Günter Schwarz. Schon nach zwei Tagen besserten sich die Krämpfe. Heute sind sie verschwunden. Nebenwirkungen wurden bislang nicht beobachtet. Zara geht es gut. Ihr EEG ist unauffällig. „Sie kam vom Tod zurück“, sagt Esra Ogru. Die jetzt zweijährige Zara führt ein normales Leben, abgesehen von den beiden cPMP-Infusionen morgens und abends.

sieben Kinder erfolgreich behandelt

„Mehrere Gramm cPMP haben wir bislang nach Australien geschickt“, sagt Schwarz. Er steht neben einem fast meterhohen Fermenter, dessen Äußeres an eine Rakete erinnert. Darin wachsen unter kontrollierten Bedingungen jene gentechnisch veränderten Bakterien heran, die den Wirkstoff produzieren. Durch die stetig verbesserte Technik und „jede Menge Tricks“ auch bei der anschließenden Reinigung des Stoffes, erklärt Schwarz‘ Mitarbeiter José Santamaria, kann das Kölner Team jetzt zehn Milligramm pro Liter Bakterienkultur herstellen: „Das ist viel.“ Bis Mitte 2010 wurden weitere sechs Kinder erfolgreich behandelt.

Schwarz hat inzwischen eine Firma gegründet. Ihr gehört auch Esra Ogru an. Bei Fragen der Medikamenten-Zulassung bringt sie das Know-how „ihrer“ australischen Firma mit. Zur Höhe der Kosten will Schwarz nichts sagen. Doch bis 2009 wurden Entwicklung und Produktion vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert. Inzwischen trägt die Firma alle Kosten, wobei der Kölner weitere Investoren sucht. Denn jetzt geht es um zwei Dinge: Möglichst rasch eine Studie zu vollenden, die den Erfolg der Therapie bei mehreren Patienten beweist, damit cPMP als sogenanntes Orphan-Arzneimittel auf den Markt kommt (siehe Kasten links „Gut zu wissen“). Und das Medikament so zu gestalten, dass es nur noch als Tablette genommen werden muss. Günter Schwarz ist überzeugt: „Wir werden diese Therapie zu einer Erfolgsgeschichte machen.“ ■

von Klaus Wilhelm

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INTERNET

EU-gefördertes Portal für seltene Krankheiten: www.orphanet.de

KOMPAKT

· Das Beispiel der kleinen Zara Ogru macht klar: Man muss schon sehr viel Glück haben, um eine seltene Krankheit wie die Molybdän-Cofaktor-Defizienz zu überleben.

· Europäische und amerikanische Behörden wollen die Zulassung von wenig gebrauchten Medikamenten (Orphan-Arzneimitteln) jetzt beschleunigen.

Gut zu wissen: ORPHAN-ARZNEIMITTEL

Seltene Erkrankungen werden im Englischen „orphan diseases“ genannt, denn sie sind sozusagen die Waisenkinder („orphans“) der Medizin. Arzneimittel, die gegen sie wirken, heißen entsprechend „ orphan drugs“. Für derlei Medikamente gelten in der Europäischen Union (EU) seit dem Jahr 2000 erleichterte Zulassungsbedingungen und andere Vorzüge – als Anreiz für Wissenschaftler und Pharmafirmen, auch für diese wenig profitablen Erkrankungen Therapien zu entwickeln. Beispielsweise sind die Gebühren für das Zulassungsverfahren deutlich reduziert. In der klinischen Zulassungsstudie genügen bereits wenige Patienten. Die Zulassung gilt exklusiv zehn Jahre lang, sodass keinerlei Konkurrenz aufkommen kann. Dieses Zulassungsverfahren betrifft in der EU alle Krankheiten mit weniger als 230 000 Patienten jährlich.

Bis Juli 2009 sind in der EU nach Angaben der Europäischen Arzneimittelbehörde EMEA 645 Orphan-Arzneimittel auf den Markt gekommen, deutlich mehr als in den 1990er-Jahren. Die EMEA will sich jetzt dafür einsetzen, die Zulassungsbedingungen der EU und der USA aneinander anzugleichen, damit noch schneller noch mehr Orphan-Arzneimittel auf beiden Seiten des Atlantiks Patienten helfen können.

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