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WAS KINDER STARK MACHT

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

WAS KINDER STARK MACHT
Manche Menschen überstehen eine schlimme Kindheit ohne seelische Blessuren. Forscher ergründen ihr Geheimnis.

Annas Jugend war nicht leicht. Ihre Mutter war alkoholsüchtig, ihren leiblichen Vater sah sie nach der Scheidung ihrer Eltern kaum. Der Stiefvater verspielte sein Vermögen, und als Anna ihm während ihrer Ausbildung ihren angesparten Lohn schenkte, in der Hoffnung, er würde sich bessern, verließ auch er die Familie – das „sinkende Schiff“, wie er zu sagen pflegte. Annas jüngere Schwester war mittlerweile drogenabhängig und bettelte die Familie ständig um Geld an. Doch Anna stabilisierte das Leben von Mutter und Schwester, machte die Lehre zu Ende und fand eine Stelle als kaufmännische Angestellte. Auch als sie mit Anfang 30 haarscharf einer Vergewaltigung entging, rappelte sie sich wieder auf und weigerte sich vehement, als traumatisiertes Opfer zu gelten. Die Schweizerische Familientherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin beschreibt Anna in ihrem Buch „Resilienz und Krisenkompetenz“ als herzliche Frau, mit einer Menschen zugewandten Art. Sie beobachtete bei ihr keine Spuren von Resignation oder irreparablen psychischen Verletzungen.

Was zeichnet Menschen wie Anna aus? Warum gelingt es manchen, nach Krisen wieder von Neuem zu beginnen und optimistisch zu sein, während andere – wie Annas Schwester – straucheln? Diese Fragen stellt sich seit einigen Jahren die „Resilienzforschung“ (von lateinisch „resiliere“, abprallen). Psychologen, Pädagogen, Mediziner und Genetiker betrachten dabei nicht die schlechten Erfahrungen, die zu einer psychischen Krise führen, sondern die Widerstandsfähigkeit des Menschen.

Erste Erkenntnisse über das Phänomen, das auch in Kindergeschichten wie Hänsel und Gretel auftaucht, lieferte vor rund zehn Jahren die Psychologin Emmy Werner von der University of California in Davis. Sie beobachtete über vier Jahrzehnte lang knapp 700 Menschen, Geburtsjahrgang 1955, die auf der Pazifikinsel Kauai lebten. Rund 200 der Studienteilnehmer hatten keine rosige Kindheit erlebt. Sie entstammten sozial schwachen Familien, wo das Geld stets knapp war. Die Eltern waren teilweise krank, die Ehen vielfach zerrüttet. Emmy Werner beobachtete, dass Kinder mit vier oder mehr Risikofaktoren häufig bis zum zehnten Lebensjahr Lernprobleme und Verhaltensstörungen entwickelten und bis zum 18. Lebensjahr oft psychisch krank oder straffällig wurden.

Das verwunderte die Fachkollegen nicht weiter. Doch was sie erstaunte war, dass ein Drittel der Kinder im späteren Leben sowohl beruflich also auch in persönlichen Beziehungen erfolgreich war. Sie lebten obendrein als zuversichtliche und zufriedene Menschen. Emmy Werner und ihre Kollegen fanden viele Gründe für die „Unverletzbarkeit“ der Kinder. Der wichtigste war eine stabile Beziehung zu einem Erwachsenen außerhalb der Familie. „Das war oft ein Lehrer, der dem Kind vermittelte: ‚Du bist etwas wert, ich interessiere mich für dich‘ „, erklärt Corinna Wustmann, Erziehungswissenschaftlerin am Züricher Marie Meierhofer Institut für das Kind. Auch die enge Beziehung zu einem Geschwisterkind half, die schlimme Vergangenheit hinter sich zu lassen. Eine Studie, in der Bielefelder Forscher die Faktoren für Unverletzbarkeit aufdecken wollten, kam trotz eines anderen Kulturkreises zu ähnlichen Ergebnissen: Bei resilienten Heimkindern zwischen 14 und 17 Jahren sorgten oft Bezugspersonen außerhalb der Familie für eine positive Entwicklung.

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jedes sechste kind lebt in armut

Mittlerweile gibt es eine ganze Liste mit Schutz- und Risikofaktoren. Zu den Risiken gehören chronische Stresssituationen in der Kinder- und Jugendzeit: Armut, Krankheit, Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, Mobbing in der Schule, aber auch Komplikationen vor, während und nach der Geburt, Scheidung oder Tod der Eltern. In Deutschland lebt jedes sechste Kind in Armut. Zwei Millionen Kinder wachsen mit einem suchtkranken Elternteil auf. Auch Kinder aus Migrantenfamilien sind gefährdet, wenn sie Traumatisierungen aus dem Heimatland oder von ihrer Flucht mitbringen. Zudem erschweren kulturelle Hürden und geringere Bildungschancen eine normale Kindheit.

Recht gut geschützt ist dagegen, wer über ein positives, ruhiges Temperament verfügt, intelligent, Erstgeborener und/oder weiblich ist – wie Anna. Stehaufmännchen zeichnen sich schon in jungen Jahren durch gute Selbstwahrnehmung, hohe soziale Kompetenz und gute Problemlösungsfähigkeiten aus. Und durch „ Selbstwirksamkeit“: Die Erziehungswissenschaftlerin Wustmann hält sie für eine besonders wichtige Eigenschaft. „Kinder, die merken, dass sie etwas bewirken können, verfallen nicht in eine passive Opferhaltung.“ Sie trauen sich, wenn nötig Hilfe zu suchen. Weil resiliente Kinder schon in sehr jungen Jahren durch ihre Eigenschaften auffallen, fahnden Genetiker nach Erbanlagen, die Resilienz erklären könnten. Bahnbrechend war eine 2003 veröffentlichte Studie der Duke University unter Leitung von Avshalom Caspi. Der Psychologe studierte in der Stadt Dunedin über 20 Jahre lang mehr als 1000 Neuseeländer. Er beobachtete: Psychische Robustheit bei Kindern, die misshandelt wurden, hing damit zusammen, welche Variante des Gens 5-HTTLPR sie hatten. Dieses Gen liefert die Blaupause für ein Molekül, mit dem das Glückshormon Serotonin im Gehirn transportiert wird. Wer die „ lange“ Variante des Gens trägt, besitzt mehr Transportmoleküle für das Serotonin und hat damit auch mehr Botenstoff im Gehirn zur Verfügung.

Viel Freiheit, aber klare Grenzen

Allerdings wurde die Dunedin-Studie stark kritisiert, weil die Ergebnisse nicht wiederholt werden konnten. Es gibt sogar gegenteilige Untersuchungen. So hat Neil Risch, Genetiker an der University of California in San Francisco, 2009 in einer Übersichtsstudie gezeigt, dass bei Kindern, die schlimme Erlebnisse durchmachten, die Gen-Variante unerheblich dafür war, ob sich später eine Depression entwickelte. Kein Wissenschaftler glaubt, dass es ein einzelnes Resilienz-Gen gibt. „Aber man kann sicher sein, dass genetische Faktoren und Umweltbedingungen Hand in Hand gehen“, meint Helge Frieling, Psychiater an der Medizinischen Hochschule Hannover. „Die Genetik steckt in Sachen Resilienz noch in den Kinderschuhen“, dämpft der Verhaltensbiologe Klaus-Peter Lesch von der Universität Würzburg große Erwartungen. „Es sind vermutlich über 700 Gene bei der Entstehung der seelischen Widerstandskraft beteiligt, derzeit kennt man 5 bis 10.“

Dass die Erforschung von Gen-Umwelt- Zusammenhängen Überraschendes erbringen kann, zeigt eine aktuelle Studie der Psychologin Jelena Obradovic von der Stanford University. Sie untersuchte 338 Kindergartenkinder teils mit unruhigem, teils mit ruhigem Temperament – eine Eigenschaft, die zu etwa 50 Prozent angeboren ist und die Stressverarbeitung im Gehirn spiegelt. Das Ergebnis: Wenn die Familie fürsorglich war und das Leben stressfrei verlief, konnten die als „schwierig“ bezeichneten unruhigen Kinder, die oft schlecht gelaunt und leicht ablenkbar waren, sogar bessere soziale und emotionale Kompetenzen entwickeln als ihre weniger sensiblen Altersgenossen. Solche Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig die Familie ist. Besser gewappnet fürs Leben sind Kinder, die in Familien mit hohem Bildungsniveau und hohem sozioökonomischem Status aufwachsen oder deren Eltern eine harmonische Paarbeziehung führen. Ein sogenannter autoritativer Erziehungsstil, bei dem Kinder viel dürfen, aber auch klare Grenzen gesetzt bekommen, ist ebenso förderlich wie ein großer Freundeskreis und hilfsbereite Nachbarn.

Zudem sind Kinder aus Familien, die religiös sind oder über ein starkes Wertesystem verfügen, resilienter als Altersgenossen, die ohne Spiritualität aufwachsen. Anne Sanders von der University of Michigan beobachtete bei einer Studie 2008, dass afroamerikanische Familien, die in Armut leben und religiös waren, sich mehr Unterstützung bei sozialen Einrichtungen holten – ein Zeichen dafür, dass diese Familien nicht resignierten. Die Eltern-Kind-Beziehung war bei ihnen positiver als bei Familien ohne religiösen Hintergrund.

„Auch ein sicherer Bindungsstil ist ein wichtiger Schutzfaktor“ , meint der Psychiater Frieling. Allerdings widerspricht die Resilienzforschung hier der klassischen Bindungsforschung: Die erste Bindungs- erfahrung zu einem Menschen, meist der Mutter, macht ein Kind in den ersten Lebensmonaten. Je nachdem, wie die Mutter auf die Bedürfnisse des Kindes wie Hunger oder Müdigkeit reagiert, entwickelt es eine sichere oder unsichere Bindung. „ Eltern wollen ja eigentlich immer das Beste für ihr Kind. Trotzdem misslingt die Bindung leicht, meist durch äußere Umstände“, sagt die Berliner Familientherapeutin Marie- Luise Conen. Sie denkt dabei an Stress bei der Arbeit und in der Beziehung oder an ein unsicheres Bindungsverhalten der Eltern. Doch die Erziehungswissenschaftlerin Corinna Wustmann ist überzeugt, dass für die Ausbildung von Resilienz nicht die frühe Bindung an sich ausschlaggebend ist, „sondern ob das Kind darüber hinaus positive Beziehungserfahrungen macht“. Die viel beschworenen ersten drei Lebensjahre eines Menschen seien zwar wichtig, aber was danach passiert, könnte die frühkindlichen Erfahrungen abschwächen oder überformen. Jugendämter, Kindergärten, Schulen und Heime sollten also aus der Forschung lernen. „In der Jugendhilfearbeit ist dies jedoch noch nicht geschehen“, bedauert Conen. Viele wären nach wie vor der Meinung, „dass Multiproblem-Familien nicht zu helfen ist“.

Wenigstens hat man in Schulen und Kindergärten begonnen umzudenken. Das Konzept der inneren Widerstandskraft wurde in den Bayrischen und Hessischen Lehrplänen aufgegriffen. In Kindergarten und Schule sollten laut der empirischen Studien klare Regeln, ein wertschätzendes Klima und ein angemessener Leistungsstandard herrschen. Der Ethik- und Religionsunterricht biete sich etwa an, um die Persönlichkeitsentwicklung zu fördern und das Selbstbewusstsein zu stärken.

FORDERN STATT IN WATTE PACKEN

„Resilienzförderung ist in der Praxis aber nur punktuell angekommen, weil soziales Lernen in der Schule zweitrangig ist“, bedauert Klaus Fröhlich-Gildhoff, Psychologe an der Evangelischen Hochschule in Freiburg. In der Schule werde beispielsweise nur benotet, aber kaum gelobt. Das heißt aber nicht, dass man Kinder in Watte packen soll, um sie psychisch stabil zu machen. „Kindern sollte man immer wieder etwas abverlangen“, meint Fröhlich-Gildhoff. So können kleine Aufgaben im Haushalt oder ein Amt in der Schule das Verantwortungsbewusstsein und das Selbstwertgefühl stärken.

Mittlerweile kümmern sich einige Initiativen um die Förderung der kindlichen Widerstandskraft. Allerdings sind nur wenige davon wissenschaftlich evaluiert. Fröhlich-Gildhoff hat kürzlich eine Bewertung für das Programm „KinderStärken! – Resilienzförderung in Kindertageseinrichtungen“ vorgelegt. Hier lernen Pädagogen, wie sie Kindern den Rücken stärken können. Eltern werden in ihrer Erziehungskompetenz geschult, und Kinder lernen einen besseren Umgang mit Stress und schärfen ihre Selbstwahrnehmung, indem sie etwa auf einer „Gefühlsuhr“ ihre momentane Stimmung anzeigen. Ergebnis: Die Kinder hatten ein höheres Selbstwertgefühl und waren auch kognitiv weiter als Kinder aus der Kontrollgruppe. Resilienz darf man jedoch nicht als etwas Statisches, gar als eine Charaktereigenschaft missverstehen. Ein selbstbewusstes Kind ist kein „Superkid“. Es kann in der Pubertät oder bei einer Scheidung durchaus ins Straucheln kommen.

Woraus schöpfte Anna die Kraft, mit ihren widrigen Lebensumständen zurechtzu kommen? Aus der Spiritualität, wie sich in der Therapie zeigte. Sie hegte eine tiefe Verbundenheit mit der bäuerlichen Kultur, in der sie lebte, und mit den Tieren. Das gab ihr Vertrauen und Sicherheit. ■

von Kathrin Burger

KOMPAKT

· Eine Bezugsperson außerhalb der Familie kann Kindern aus schwierigen Verhältnissen helfen, einen stabilen Charakter zu entwickeln.

· Forscher haben Gene aufgespürt, die für seelische Widerstandskraft sorgen können.

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Klaus Fröhlich-Gildhoff, Maike Rönnau-Böse RESILIENZ Ernst Reinhardt, München 2009, € 9,90

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Monika Gruhl DIE STRATEGIE DER STEHAUFMÄNNCHEN Kreuz, Freiburg 2010, € 14,95

Robert Brooks, Sam Goldstein DAS RESILIENZ-BUCH Wie Eltern ihre Kinder fürs Leben stärken Klett-Cotta, Stuttgart 2007, € 19,90

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