Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Angeborene Stimmgabel

Allgemein

Angeborene Stimmgabel
Es ist wie eine im Ohr eingebaute Stimmgabel – eine innere Skala, auf der man für jeden klingenden Ton eine bestimmte Tonhöhe ablesen kann: das absolute Gehör. Wozu ist es gut?

Jeder Mensch Besitzt am Beginn seines Lebens eine bemerkenswerte Fähigkeit, die man gemeinhin nur bei hervorragenden Musikern vermutet: das absolute Gehör. So lautet ein neues Forschungsergebnis von Neurophysiologen an der Universität Wisconsin-Madison, und sie belegen es durch Untersuchungen mit Kindern.

Allerdings geht diese Fähigkeit im Laufe von wenigen Jahren gewöhnlich verloren, wenn sie nicht erkannt, gehegt und gepflegt wird. Man trifft sie deshalb nur selten an. Selbst bei Musikern sind es weniger als fünf Prozent, die das „a“ oder einen beliebigen anderen Ton präzise identifizieren oder singen können, ohne Vorgabe eines „Nullpunkts“, etwa mit der Stimmgabel oder irgendeinem Instrument.

Musiker haben in der Regel ein gut trainiertes relatives Gehör: Ausgehend von einem vorgegebenen Ton – durch Klavier oder Stimmgabel – können sie alle anderen Töne exakt herausfinden, also Intervalle bestimmen. Das gehört zu den Grundfähigkeiten eines jeden Musikers, sogar jedes „normalen“ musikalischen Menschen. Ohne diese Fähigkeit könnte niemand ein Lied singen, es gäbe keinen Chor.

Gerade beim Chor wird deutlich, was relatives Gehör ist: Der Chorleiter holt sich von seiner angeschlagenen Stimmgabel das „a“ (440 Hertz). Von hier aus kann er die Intervalle zu allen anderen Tönen leicht bestimmen, zum Beispiel denen eines G-Dur-Akkords, mit dem der Chor beginnen soll. Ein Chorleiter mit absolutem Gehör braucht dazu keine Stimmgabel. Er hat jeden Ton zweifelsfrei parat, als ob er eine eingebaute Stimmgabel im Ohr hätte.

Anzeige

Oft wird, besonders von Musikern, nicht scharf getrennt zwischen dem „absoluten“ und einem „guten relativen“ Gehör: „Ich höre so gut wie absolut. Besonders bei Klaviermusik oder bekannten Stücken kann ich sehr genau die Tonhöhe bestimmen“, hört man oft von Musikern. Ein Pianist etwa erkennt schnell, in welcher Tonart Klaviermusik erklingt. Dabei spielt wahrscheinlich das Spektrum der Obertöne eine Rolle, also der „Charakter“ der Töne, der ihm sehr vertraut ist.

In der musikalischen Praxis sind Töne nicht nur reine Sinusschwingungen. Es schwingen auch Obertöne mit, deren Mischung die Klangfarbe bestimmt und es gestattet, einen Klavierton von dem einer Geige, einer Trompete oder Oboe zu unterscheiden. Außerdem ändert sich dieses Klangspektrum leicht mit der Tonhöhe. Dem Musiker prägen sich bei intensivem Musizieren diese Spektren so stark ein, dass er mit ihrer Hilfe die Tonhöhe ziemlich genau angeben kann. Spielt man ihm eine reine Sinusschwingung ohne jede musikalische „Farbe“ vor – etwa mit einem Synthesizer –, versagt die Zielgenauigkeit eines „guten relativen“ Gehörs. Jemand mit absolutem Gehör hat jedoch auch in diesem erschwerten Fall keinerlei Probleme, die Höhe exakt und spontan zu bestimmen.

Helga de la Motte-Haber, Professorin für Musikwissenschaft an der TU Berlin: „Ein einzelner Ton kann selbst von einem ausgebildeten Musiker nur dann leicht erkannt werden, wenn er über das absolute Gehör verfügt – eine Fähigkeit des Langzeitgedächtnisses. Sollen geübte Musiker isolierte, vom Tonband gespielte Klänge verschiedener Instrumente identifizieren, so gelingt ihnen dies meist sehr schlecht.“

Den Zusammenhang zwischen absolutem Gehör und Gedächtnis erläutert der absolut hörende Johannes Knapp, Dirigent am Freiburger Opernhaus: „Natürlich merke ich mir nicht alle Töne um mich herum. Ich kann heute zum Beispiel nicht mehr sagen, wie hoch das ,a‘ des Flügels beim Liederabend letzte Woche war, denn ich hatte keinen Grund, es mir zu merken. Wenn ich mir aber bewusst gemerkt hätte, dass das ,a‘ beispielsweise um 5 Hertz höher war als der Kammerton ,a‘ mit seinen 440 Hertz, könnte ich heute dieses ,a‘ oder jeden anderen Ton dieser Stimmung exakt singen oder identifizieren.“

Absolutes Gehör hat mit Musikalität nichts zu tun. Dass man es vorwiegend oder praktisch nur bei Musikern antrifft, liegt wohl daran, dass nur bei ihnen das Wissen darum überhaupt interessant ist. Aber nötig ist es nicht, um ein guter Musiker zu sein. Mozart hörte zwar absolut, aber er wäre sicherlich ebenso produktiv und berühmt geworden, wenn er diese Fähigkeit nicht gehabt hätte – wie Schumann oder Tschaikowsky.

Zuweilen findet man das absolute Gehör bei Leuten, bei denen man es kaum vermuten würde. Johannes Knapp: „Manchmal höre ich, wie jemand auf der Straße einen Schlager vor sich hin pfeift, und dabei exakt die Tonhöhe trifft, in der man diese Musik im Rundfunk hört. Vielleicht gibt es bei vielen ein latentes absolutes Gehör, das unerkannt in ihnen schlummert.“

Diese Vermutung hat die Psychologin Jenny Saffran, Direktorin am „Labor für kindliches Lernen“ der Universität Wisconsin-Madison, kürzlich unter die Lupe genommen. Sie kam zu dem Schluss, dass fast jedes Kleinkind ein absolutes Gehör besitzt. Im Laufe des Heranwachsens geht es meist verloren. Wer allerdings ständig mit Musik zu tun hat, kann es sich erhalten.

Saffran vermutet dahinter eine Funktion des Gehirns, die Babys benutzen, um Wissen zu erwerben. Mit ihrer Hilfe entdecken sie in der gehörten Sprache die darin enthaltenen Muster, und das hilft ihnen beim Lernen der Sprache. Mit diesem „statistischen Lernen“ finden die Babys zum Beispiel heraus, wo Einzelwörter in einem gesprochenen Satz beginnen und enden.

Die kleine Statistiker – so konnte Saffran zeigen – benutzen die gleichen Fertigkeiten wie beim Sprechen lernen, um Musik zu verstehen. Bei einem Test mit Kindern und Erwachsenen entwickelte sie eine Methode, mit der sie herausfinden konnte, ob der Proband verschiedene Tönen mit einem absolutem oder einem relativen Gehör erkannte.

Nicht überraschend war es, dass bei den Tests die Erwachsenen sehr gut mit einem relativen Gehör zurechtkamen, während ein absolutes Gehör eine Rarität war. Bei den Kindern war es anders: Sie wandten vortrefflich das absolute Gehör an, versagten aber bei der Anwendung eines relativen Gehörs.

„Wir wissen mit Sicherheit, dass Kinder keine ,Tabula rasa‘ sind. Sie kommen in die Welt mit angeborenen Erkenntnismöglichkeiten, ähnlich einer fest verdrahteten Schaltung, die das Lernen erst möglich macht“, sagt Saffran. „ Diese Struktur ist vielleicht für viele Arten des Lernens vorhanden, nicht nur für Musik, sondern auch für Sprachen.“

Saffrans Institut entwickelte einen Test, bei dem durch Variationen in der Tonhöhe von Liedern herausgefunden werden kann, ob die Schüler beim Lernen der Lieder sich eher von einem absoluten oder von einem relativen Gehör leiten lassen. Die „ Lieder“ sind in diesem Fall eine dreiminütige Folge von glockenähnlichen Tönen, anders als die gewohnten realen Töne. Nachdem die Kinder dieser Tonfolge gelauscht haben, hören sie anschließend einzelne Ausschnitte aus dieser „Musik“, diesmal in anderer Tonhöhe, aber mit gleichen Intervallen, also „relativ identisch“ mit der ersten.

Wie lange die Kinder jeweils der ersten Tonfolge beziehungsweise den nachfolgenden Ausschnitten aufmerksam zuhörten und wann sie abschalteten, war ein wichtiges Indiz bei der Frage, ob die Kinder beim Lauschen und Wiedererkennen relatives oder absolutes Gehör benutzten. Denn der Forschungsansatz beruhte auf der bei Kindern üblichen Neigung: Neues ist interessant, Bekanntes – oder zuvor Gelerntes – interessiert weniger.

Warum aber sollte ein absolutes Gehör zur Standard-Ausrüstung von Kindern gehören, wenn sie beim Heranwachsen allmählich verschwindet? Saffran vermutet, dass dies mit der Art und Weise zu tun hat, wie das Gehirn auf Töne und Frequenzen reagiert, mit so genannten tonotopen Karten, einer Art Register der Tonhöhen. Neuronen im Gehirn sprechen auf Klänge in einem besonderen Frequenzband an, auf das sie spezialisiert sind. Ein absolutes Gehör liefert ein besonders empfindliches Instrument für diese Landkarte der Töne, das es Kindern ermöglicht, extrem detailreiche und genaue Informationen von allem, was sie hören, zu erhalten. Allmählich, erklärt Saffran, verliert sich dieses absolute Gehör vielleicht deshalb, weil eine so genaue Information in unserem Alltagsleben überflüssig ist: „Ein absolutes Gehör ist ein zu genaues Instrument für die Erkenntnis. Damit können wir keine allgemein gültigen Höreindrücke verwerten.“

SaFFran Betont: Viele Studien weisen darauf hin, dass Menschen, die bereits in sehr frühem Alter ein Instrument gelernt haben, mit größerer Wahrscheinlichkeit ein absolutes Gehör besitzen. Was dem Gehirn als sinnvoll erscheint, behält es. Auch unter Blinden, das geht aus weiteren Studien hervor, ist absolutes Gehör häufiger, da die Tonhöhe im Geräusch eines fahrenden Autos oder eines gehenden Menschen wichtige Informationen über den umgebenden Raum liefert.

Auf einen engen Zusammenhang von absolutem Gehör und Sprache weist auch Lutz Jäncke hin, Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich. Bei seinen Forschungen, wie intensives geistiges Training die neuronale Vernetzung im Gehirn beeinflusst, stellte er unter anderem fest, dass sich bei Musikern durch jahrelanges intensives Üben der Bereich des Arbeitsgedächtnisses wesentlich vergrößert. „Durch regelmäßiges Üben“, sagt Jäncke, „bilden sich schon früh bestimmte neuronale Netze aus, die Töne mit Sprachsignalen assoziieren.“ Darin sieht Jäncke – im Gegensatz zu Saffran – einen Hinweis, dass das absolute Gehör nicht angeboren ist, sondern im frühen Kindesalter erworben werden kann.

Dass die Fähigkeit des absoluten Gehörs im Sprachzentrum des Gehirns lokalisiert ist, während bei normaler musikali-scher Tätigkeit andere Gehirngegenden aktiv sind, ist schon länger bekannt. Von dem französischen Komponisten Maurice Ravel, dem Schöpfer des beliebten „Bolero“, wird berichtet, dass er nach einer Schädigung des Gehirns bei einem Autounfall 1932 seine Sprachfähigkeit und zugleich sein absolutes Gehör verlor. Schon beim Lernen einer Sprache, betont Jenny Saffran, spielt ein absolutes Gehör eine wichtige Rolle. Die Sprache ist vielleicht das komplexeste Produkt des menschlichen Geistes, vermutet sie. Und doch bewältigen schon Einjährige das Sprachelernen mit erstaunlichem Erfolg – wahrscheinlich dank ihres absoluten Gehörs, dieser einzigartigen Gabe, die bei den meisten von uns verkümmert oder verschwunden ist.

KOMPAKT

• Fast alle Babys haben das absolute Gehör.

• Das absolute Gehör hat nichts mit Musikalität zu tun, aber es hilft wahrscheinlich beim Erlernen der Muttersprache.

Wolfram Knapp

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Vi|sie|rung  〈[vi–] f. 20; MA u. Renaissance〉 Werkzeichnung, Entwurf, Riss

ma|ri|nie|ren  〈V. t.; hat〉 in Marinade einlegen (Fisch, Fleisch) ● marinierter Hering [<frz. mariner; … mehr

un|ver|gäng|lich  〈a. [––′––] Adj.〉 nicht vergänglich, ewig, unsterblich ● diese Musik ist ~

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige