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Klingende Medikamente

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Klingende Medikamente
Mit Musik können Ärzte gezielt Gehirnfunktionen beeinflussen. Sie behebt Sprach- und Bewegungsstörungen, lindert Schmerzen und hilft, epileptische Anfälle zu vermeiden.

Die Geschichte von Alice H. ist die Geschichte einer Verwandlung. Immer wieder hatten die Krankheitsattacken sie überfallen. Ihr Gesicht zuckte dann, ihr Körper wackelte und zitterte, und kaum dass sie ihre Glieder bewegen wollte, schienen sie zu Eis zu erstarren. Wenn Alice eine Zimmertür öffnete, musste sie wie angewurzelt auf der Schwelle verharren, und wenn die Ampel auf Grün sprang, klebten ihre Füße am Boden, als gehorchten sie dem Willen nicht mehr.

Doch nun trägt Alice bei all ihrem Tun einen Walkman. „Sie weiß, dass sie es mit der Musik schaffen kann“, bezeugt Michael Thaut, der die alte Dame in seiner Klinik an der Colorado State University behandelt. Viele Jahre lang war sie von der Parkinson-Krankheit gequält worden, bei der ein Hirn-Nervenkern degeneriert und dadurch die Koordination der Bewegungen versagt. Die Hände zittern, die Mimik erstarrt, der Gang ist oft nur noch gebeugt und im Trippelschritt möglich. Aber wenn Alice H. den Walkman aufsetzt, werden ihre Bewegungen fließend und frei, und springt die Ampel auf Grün, überquert sie mit sicherem Schritt die Straße. Die Musik gibt ihr die Gewalt über ihren Körper zurück.

Ein medizinisches Märchen? Tatsächlich weist eine wachsende Zahl von Untersuchungen darauf hin, dass sich mit Musik defekte Gehirnfunktionen gezielt beeinflussen lassen. „Die Forschungen der letzten zehn Jahre führen zu einem ganz neuen Bild der Musiktherapie“, urteilt Thaut. Der gebürtige Deutsche und frühere Profi-Geiger leitet das Zentrum für biomedizinische Musikforschung der Universität in Colorado.

Thaut untersucht die neurophysiologischen Effekte des Klangs. Er spricht von einer im Entstehen begriffenen Wissenschaft, einer „Neuromusikologie“, die erklären könnte, warum etwa Parkinson-Kranke, Schlaganfall-Patienten, Epileptiker oder Menschen mit chronischen Schmerzen von der Musik profitieren.

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Tatsächlich ist die heilende Kraft der Klänge seit Tausenden von Jahren bekannt. In vielen Kulturen lassen sich Musik, Medizin, Ritus und Religion kaum voneinander trennen. Die Verbindung zeugt von der Macht der Musik über Seele und Körper. Eine Macht, die sich schon David am Hofe Sauls zunutze machte. Der zum König Israels gesalbte Saul hatte den Zorn Gottes auf sich gezogen, wie es im Alten Testament heißt: „Der Geist des Herrn aber wich von Saul, und ein böser Geist vom Herrn ängstigte ihn. Da sprach Saul zu seinen Leuten: Seht euch um nach einem Mann, der des Saitenspiels kundig ist, und bringt ihn zu mir.“ David, damals noch ein Harfe spielender Hirtenjunge, wurde an den Königshof geholt, und „sooft nun der böse Geist von Gott über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So wurde es Saul leichter, und es ward besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm.“ Möglicherweise würden heutige Neuroforscher Sauls Leiden als Depression oder Angststörung interpretieren – und auf das komplexe System der Neurobotenstoffe verweisen, das sich durch akustische Sinnesreize offenbar positiv beeinflussen lässt.

So hatten die Harvard-Medizinerin Anne Blood und ihr kanadischer Kollege Robert Zatorre vor zwei Jahren gezeigt, dass das Hören besonders angenehmer Musik – jener Musik, die Schauer über den Rücken jagt – ein Ensemble von Hirnbereichen aktiviert, das Wissenschaftler als „Belohnungssystem“ des Gehirns bezeichnen. Dieses System wird auch durch andere euphorisierende Reize wie gutes Essen, Sex oder Kokaingebrauch stimuliert. Dabei seien wahrscheinlich Neurotransmitter wie Dopamin und körpereigene Opioide im Spiel, argumentieren die Forscher.

Allerdings könne bisher niemand sagen, inwieweit derartige Mechanismen beispielsweise die positiven Effekte der Musik-therapie bei Depressionen, Angsterkrankungen oder Schizophrenien erklären, kommentiert der Musiktherapieforscher David Aldridge von der Universität Witten/Herdecke. Zwar wird Musik gerade in psychiatrischen Abteilungen seit langem als therapeutisches Mittel genutzt. Doch klinische Untersuchungen, die einer modernen Forschungsmethodik genügten, gebe es nach wie vor kaum, sagt Aldridge. Tatsächlich war der Vorbehalt vieler Musiktherapeuten gegenüber einem wissenschaftlichen Forschungsdesign noch vor wenigen Jahren groß.

Zu Unrecht, wie Hans Volker Bolay vom Deutschen Zentrum für Musiktherapieforschung in Heidelberg glaubt. „Es ist durchaus möglich, die Wirkungen der Musiktherapie zu erforschen – ohne dass dabei ihr künstlerischer Teil verloren geht.“ Und David Aldridge fügt hinzu: „Wenn wir Musik nicht nur als Kunstform verstehen, sondern als Therapie, müssen wir auch beweisen, dass sie wirkt – und wie sie wirkt.“

Genau das glauben Michael Thaut und sein Team nun teilweise erklären zu können. Die Quintessenz ihrer Forschungen: In vielen Fällen – vor allem bei Sprach- und Bewegungsstörungen – könnte die heilsame Kraft der Musik auf ihrer rhythmischen Struktur beruhen.

So hatten Untersuchungen mit Parkinson-Kranken gezeigt, dass sich die Schrittlänge vergrößert und die Gehgeschwindigkeit steigert, wenn die Patienten ihre Bewegungen auf einen rhythmischen Taktgeber abstimmen. Trainierten die Probanden drei Wochen lang, blieb der positive Effekt weitere drei trainingsfreie Wochen erhalten. Ein Gehtraining ohne akustischen Stimulus war dagegen wirkungslos.

Noch überraschender: Selbst die bei einer Parkinson-Erkrankung oft verwaschene Sprache wird klarer und für Außenstehende verständlicher, wenn die Patienten zum Schlag eines Metronoms laut lesen.Ganz ähnliche Erfolge zeigten sich bei Menschen, die einen Schlaganfall erlitten hatten. Ihnen half ein vorgegebener Rhythmus nicht nur, die vergleichsweise stereotype Bewegung der Beine beim Gehen besser zu kontrollieren. Auch komplexe Greifbewegungen mit dem teilgelähmten Arm wurden wieder gezielter und weicher.

„Marschmusik für die Älteren, elektronische Musik für die Jüngeren“, fasst der Rehabilitationsmediziner Peter Bernhardt die positiven Erfahrungen zusammen, die sein Team am Hamburger Krankenhaus Groß-Sand mit der Musiktherapie bei der Schlaganfall-Nachsorge gemacht hat. In Bernhardts Abteilung bekommen beispielsweise Patienten mit einer Halbseitenlähmung eine Trommel oder Rassel in die Hand, um ein vorgespieltes Musikstück rhythmisch zu begleiten.

Erstaunlicherweise könnten viele Patienten die rhythmischen Bewegungen schon dann wieder ausführen, wenn das willentliche, auf Anweisungen durchgeführte Greifen mit dem gelähmten Arm noch unmöglich ist, schildert Bernhardt. Offenbar stimulierten die musikalischen Impulse das Nervensystem der Patienten „über einen anderen, zusätzlichen Kanal“.

Welche neurobiologischen Mechanismen sich im Einzelnen dahinter verbergen, ist freilich eine der spannendsten Fragen, die Neuro-Musikforscher derzeit zu beantworten versuchen. Viele Wissenschaftler vermuten, dass die Prozessierung musikalischer Reize im Gehirn eng mit der motorischen und sogar sprachlichen Informationsverarbeitung verzahnt ist. Dies scheint schon deshalb plausibel zu sein, weil Patienten ihre Sprachfähigkeit nach einem Schlaganfall oft erst dadurch wieder gewinnen, dass sie die Worte zunächst nicht sprechen, sondern singen. Zudem ist seit langem bekannt, dass Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen von einer Musiktherapie profitieren.

Thaut und seine Kollegen sind nun noch einen Schritt weiter gegangen. Mit speziellen Verfahren, die den Blutfluss im Gehirn und damit die Aktivität einzelner Hirnbereiche messen, konnten die Forscher zeigen: Rhythmische Reize stimulieren nicht allein die Hörrinde, sondern auch eine Vielzahl so genannter senso-motorischer Rindenareale, ebenso wie das Kleinhirn – ein ganzes Netz von Nervenzentren also, die bekanntermaßen bei der Koordination motorischer Abläufe im Spiel sind. Offenbar fließen akustische Informationen direkt in das motorische System ein. Selbst die Aktivität von motorischen Nervenzellen im Rückenmark scheint durch akustische Reize beeinflusst zu werden.

Fast noch bemerkenswerter: Die Verbindungen zwischen Musik und Motorik funktionieren teilweise sogar unterhalb der Bewusstseinsschwelle, wie Thaut gemeinsam mit italienischen Kollegen nachweisen konnte. So passten Testpersonen, die mit dem Finger auf den Tisch klopften, die Klopfgeschwindigkeit ganz automatisch an Veränderungen eines vorgegebenen Metronom-Rhythmus an – auch dann, wenn sie die Temposchwankungen gar nicht bewusst bemerkten.

Die Schlussfolgerung dieser Untersuchungen liegt auf der Hand: Mit rhythmischen Reizen lassen sich offenbar motorische Prozesse im Gehirn von außen steuern. Und genau darin liege ein Potenzial der Musiktherapie, glauben Thaut und seine Kollegen: Wenn die zeitlich hoch komplexen motorischen Abläufe vom Gehirn selbst nicht mehr ausreichend abgestimmt würden, könnte rhythmische Musik die Funktion eines äußeren Zeitgebers übernehmen – und gewissermaßen den Takt geben, der das Konzert der Neuronen koordiniert.

Eine verwandte Idee hat der Chicagoer Neurologe John Hughes entwickelt. Hughes hatte bei Epilepsie-Patienten festgestellt, dass eine Sonate für zwei Klaviere von Mozart nicht allein die im EEG gemessene Hirnstromaktivität normalisieren konnte – selbst bei Patienten im Koma –, sondern tatsächlich auch die Zahl der Anfälle senkte. Bei anschließenden Computeranalysen zeigte sich, dass in der Mozart’schen Musik die Lautstärke offenbar in besonders regelmäßigen Perioden an- und abschwillt und zudem Melodielinien häufig wieder-holt werden.

Genau diese Regelmäßigkeiten aber – die sich in geringerem Maß beispielsweise auch in der Musik Haydns und Bachs fanden – gingen parallel zu manchen im Gehirn selbst auftretenden rhythmischen Aktivitätsschwankungen, argumentiert Hughes. Durch die Musik würde gewissermaßen der natürliche Takt des Hirns aufgegriffen und stabilisiert. Freilich bleibt vieles an Hughes‘ Modell Spekulation. Dass indes die zeitliche Struktur der Musik einen entscheidenden Einfluss auf die Eigenrhythmen des Nervensystems ausübt, glauben auch viele andere Wissenschaftler. Der Lüdenscheider Anästhesist und Schmerzspezialist Ralph Spintge spricht sogar vom Rhythmus als Bindeglied – dem „Missing Link“ – zwischen Musik und Medizin.

Gerade für die Therapie chronischer Verspannungsschmerzen und bei Operationen sei Musik ein wertvolles Hilfsmittel, sagt Spintge. So hatten Untersuchungen bei chirurgischen Eingriffen und Kariesbehandlungen gezeigt, dass sich der Stresshormonspiegel im Blut der Patienten verringert, wenn ihnen vor und während der Prozedur Musik per Kopfhörer zugespielt wird. Die verringerte Stressreaktion des Körpers könnte sich wiederum positiv auf das Schmerzempfinden auswirken.

Tatsächlich seien im Zirkel von Stress und Schmerz neurophysiologische Prozesse und subjektives Erleben eng ineinander verwoben, kommentiert Hans Volker Bolay. Jeder Schmerz weise physische wie psychische Komponenten auf – und nach wie vor sehen viele Musikmediziner in der Musik weniger einen Zeitgeber für neurobiologische Prozesse als vielmehr ein psychotherapeutisches Mittel, um emotionale Konflikte zu bewältigen. Dass dies mit Musik möglich ist, hat Bolays Heidelberger Team in einer noch unveröffentlichten Studie bei Kindern mit Migräne gezeigt. Die Kinder seien häufig leistungsorientiert erzogen worden und könnten auf stressbelastete Situationen nicht flexibel reagieren. Außerdem hätten sie oft Schwierigkeiten, emotionale und körperliche Empfindungen wahrzunehmen und zu beschreiben, schildert Bolay: „ Der Schmerz ist dann nur der größte Feind, mit dem die Patienten nicht umgehen können.“ Das ändere sich jedoch, wenn die Kinder lernten, ihren Schmerz mithilfe von Musikinstrumenten auszudrücken. Überraschenderweise ließen sich die Beschwerden dadurch sogar besser lindern als in einer Vergleichsgruppe, in der ein Migränemittel gegeben wurde, berichtet Bolay. Genau hierin liegt auch für David Aldridge eine Stärke der Musiktherapie: Sie hilft auszudrücken, was nicht gesagt werden kann. So trügen bei Sterbenden oder Krebspatienten – bei denen die Musiktherapie zunehmend eingesetzt wird – vielerlei seelische Probleme zum Leiden bei, das sich keineswegs nur auf das Schmerzempfinden beschränke. „Schmerzen und Leiden sind miteinander verbunden, doch sie sind nicht dasselbe.“ Wo ein Medikament zwar den Schmerz stille, aber dennoch nicht das Leiden nehme, „kann ein gesungenes Lied zum Ausdruck der seelischen Sorgen werden und dadurch die Last der Krankheit erleichtern“, meint Aldridge.

Hinzu kommt: „Musik ist Beziehung“, wie Aldridge sagt. So ließen sich bei Menschen mit Alzheimer-Krankheit durch das Singen von Liedern nicht nur bereits vergessen geglaubte Erinnerungen und nicht mehr benutzte Wörter ins Gedächtnis zurückrufen. Ebenso durchbricht die Musik die Isolation der Patienten, weckt die Aufmerksamkeit und steigert das Interesse an der sozialen Umgebung – Effekte, die offenbar nicht auf die Behandlung von Alzheimer-Patienten beschränkt sind, sondern ganz allgemein bei alten Menschen zum Tragen kommen.

Bestes Beispiel: Madame Babette. Die bucklige Berlinerin mit dem weißen Haar stellt sich lieber unter diesem französischen Decknamen vor und gibt auch nicht gern („da spricht man nicht drüber“) ihr Geburtsdatum preis. Bei der Musiktherapie in der Berliner Seniorenstätte mault sie über die „Trauergemeinde“, weil andere besinnliche Lieder wünschen. Madame Babette liebt freche Musik. Immerhin sei sie hinterm Tresen geboren. Als später rhythmische Schlager ertönen, halten ihre Hände und Hüften nicht still. Plötzlich erhebt sich die gebrechliche Frau und tanzt. Die Musik ist Medizin für sie, nicht anders als für die Parkinson-kranke Alice H.

KOMPAKT

• Die Effizienz von Musiktherapie lässt sich wissenschaftlich belegen.

• Mit Musik können Patienten Bewegungen ausführen, zu denen sie willentlich nicht mehr in der Lage sind.

• Rhythmus scheint die wichtigste heilende Komponente der Musik zu sein.

Martin Lindner

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