Am 1. Mai trat US-Präsident Bill Clinton vor die Presse: „Ich darf Ihnen mitteilen, daß die Vereinigten Staaten heute um Mitternacht die Verschlechterung der Signale des Global Positioning System (GPS) stoppen werden.” Damit geschah das, was Millionen von Nutzern des Satellitennavigationssystems GPS erhofft hatten: Statt auf nur 100 Meter ist die Ortung nun auf 10 bis 20 Meter genau. Damit haben die Amerikaner eine neue Runde im Kampf um den lukrativen Milliardenmarkt der Satellitennavigation eingeläutet – noch bevor die Europäer überhaupt aus den Startlöchern gekommen sind. Ende der siebziger Jahre hatte das amerikanische Verteidigungsministerium mit dem Bau eines satellitengestützten Informationssystems zur Ortsbestimmung begonnen. Militärfahrzeuge und Raketen der Weltmacht USA sollten strategische Ziele präziser anpeilen können. Mit einem Gesamtbudget von insgesamt zehn Milliarden Dollar positionierten die Militärs 24 Navstar-Satelliten im Orbit. Aus den Positionsdaten und dem Zeitsignal von mindestens 3 der 24 Trabanten können GPS-Empfänger die eigenen Koordinaten errechnen – bis auf etwa 10 Meter genau. Doch diese hohe Präzision erzielten bisher nur die US-Militärs. Damit nicht verfeindete Staaten als Trittbrettfahrer in denselben Genuß kommen, wurden die Signale verschlüsselt. Zivile Nutzer mußten sich im Standarddienst SPS (Standard Positioning Service) mit künstlich verfälschten Daten und einer Meßgenauigkeit von 100 Metern abfinden. Und nicht einmal darauf war Verlaß: In akuten Krisensituationen schalteten die Militärs das System kurzerhand ab. „Merkwürdige Sprünge” auf dem GPS-Display bemerkte zum Beispiel Segelflieger Aram Röken aus Landau während des Kosovo-Krieges: „Die Koordinaten waren plötzlich wesentlich ungenauer.” Doch seit der Nacht vom 1. auf den 2. Mai hat das ein Ende. Die künstliche Verschlechterung der Signale – Selective Availability (selektive Verfügbarkeit) genannt – wurde abgeschaltet. Die Militärs empfangen zwar noch ein zweites Signal, das zum Beispiel Störungen in der Ionosphäre ausmerzt und eine Genauigkeit unter 10 Meter erlaubt, doch der Vorsprung ist geschrumpft. Schon vor diesem Schritt war der kommerzielle Erfolg der Satellitennavigation nicht aufzuhalten. Der Markt für GPS-Produkte wie Navigationsgeräte für Autos und Routenplaner boomt, die Preise fallen und die Produktpalette erweitert sich unaufhaltsam. Mehr als drei Millionen GPS-Empfänger gibt es mittlerweile weltweit, monatlich kommen 250000 hinzu. Der Hobby-Navigator erhält Westentaschenempfänger schon für unter 400 Mark. Auch skurrile Anwendungen stecken bereits in der Experimentierphase: vom satellitengesteuerten Schneckenfresser bis zur elektronischen Fußfessel. Fachleute glauben, daß sich der Umsatz mit GPS-Geräten schnell von 8 Milliarden (1998) auf 24 Milliarden Mark (2003) erhöhen wird. In zehn Jahren werden Neuwagen standardmäßig mit integrierten Navigationsgeräten geliefert. „Wir rechnen mit einem jährlichen Zuwachs von über einer Million Navigationsgeräten auf deutschen Straßen”, berichtet Johann Nowicki, zuständig für Verkehrstechnik beim ADAC: „Bis Ende 2000 werden es 1,5 Millionen sein.” Schon heute sind die 1600 Fahrzeuge der ADAC-Straßenwacht mit GPS ausgestattet. „Wem GPS gehört, dem gehört die Welt”, belächelte der „Spiegel” im August 1999 die Abhängigkeit des „ Entwicklungslandes” Europa von den USA. Tatsächlich sind Herstellung und Know-how dieser Zukunftstechnologie fest in Händen der Amerikaner. „Die sind uns um etwa zehn Jahre voraus”, räumt René Kleessen vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Bonn ein, „besonders im Bau und Betrieb von Satelliten, Atomuhren und GPS-Empfängern.” Und diesen Vorsprung wollen die Amerikaner zum Wohle ihrer Wirtschaft nutzen. Präsident Clinton hatte 1996 eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um die künstliche Verschlechterung der GPS-Signale bis 2006 zu beenden. Daß dieser Schritt so früh kommt, soll das Vertrauen der Nutzer in GPS stärken. Denn die Präzision und Verfügbarkeit, die die Amerikaner nun versprechen, ist Voraussetzung für den ganz großen kommerziellen Erfolg der Satellitennavigation. Kleessen findet dennoch so manches Haar in der Suppe: „Immer mehr Anwendungen werden sich jetzt auf GPS verlassen. Dadurch wird sich die Abhängigkeit von GPS weiter erhöhen. Das sollten wir aus politischen und wirtschaftsstrategischen Gründen nicht zulassen. Sonst könnte GPS eines Tages doch gebührenpflichtig werden.” Außerdem haben sich die US-Militärs ein Hintertürchen offen gelassen und die Selective Availability so weiterentwickelt, daß im Falle eines militärischen Konflikts gezielt bestimmte Landstriche gestört werden können. Wie begrenzt dies geht, wollten Regierungsvertreter auf der Pressekonferenz nicht enthüllen. „Wenn die Satellitensignale auf dem Balkan gestört werden, würde man in Frankfurt oder Athen nichts davon merken”, hieß es ausweichend. Seit Jahren schmieden die EU-Länder Pläne für ein eigenes Satellitennavigationssystem (bild der wissenschaft 10/1997, „Himmlische Präzision”). Unter deutscher Präsidentschaft hat der EU-Verkehrsministerrat im Juni 1999 endlich Nägel mit Köpfen gemacht: Ein neues globales Satellitennetz namens Galileo, das nicht mehr vom Wohlwollen der US-Militärs abhängt, soll in einer öffentlich-privaten Partnerschaft bis Ende 2008 zur Einsatzreife entwickelt werden. Bis es soweit ist, plant Europa den stufenweisen Aufstieg zur Satelliten-Weltmacht: Unter europäischer Federführung werden Informationen aus dem GPS- System und dem russischen Satellitenpark GLONASS bis Ende 2003 zu GNSS-1 (Global Navigation Satellite System) vernetzt. Für eine verbesserte Präzision sorgen Korrektursysteme mit zusätzlichen Satellitensignalen: WAAS aus den USA (Wide Area Augmentation System), MSAS aus Japan (Multi-transport Satellite based Augmentation System), und EGNOS (European Geostationary Navigation Overlay System) von der EU. Grundsätzlich gilt: Je mehr Signale empfangen werden, desto größer die Genauigkeit. EGNOS ist der europäische Beitrag zu GNSS-1 und Experimentierfeld für Galileo. Drei Trabanten, die an einem festen Punkt über der Erdoberfläche (also geostationär) geparkt werden, werten die Positionsdaten von GPS- und GLONASS- Sendern aus. Störungen und Meßfehler durch Turbulenzen in der Ionosphäre werden ausgeglichen. Zwei Satelliten der Inmarsat-3-Serie hängen bereits in 36000 Kilometer Höhe über dem Indischen Ozean und dem Ostatlantik. Der Nachrichtensatellit Artemis von der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA soll noch dieses Jahr über Afrika stationiert werden. Mehr als 40 vorwiegend europäische Bodenstationen vervollständigen die Infrastruktur. Galileo – eine Armada von 24 Satelliten – soll bis 2008 zivilen Nutzern auf der ganzen Welt metergenaue Positionsbestimmungen ermöglichen. Als Hersteller und Betreiber sind die Industrie-Konsortien Astrium (Zusammenschluß der deutschen DASA und der französisch-britischen Matra Marconi Space), Alcatel Space Industry (Frankreich) und Alenia Aerospazio (Italien) im Gespräch. Die Europäische Kommission leitet das Galileo-Projekt zusammen mit der ESA. Im Dezember 2000 wollen die Verkehrsminister ihr abgehobenes Programm der Öffentlichkeit vortragen. Etwa 2,5 Milliarden Mark soll sich der europäische Steuerzahler den Satelliten-Spaß kosten lassen, 3,3 Milliarden müssen noch aus privaten Händen eingetrieben werden. Mehr Verkehrssicherheit und expandierende Märkte: Sind die Erwartungen an Galileo zu hochgeschraubt? „Im Gegenteil”, meint Matthias Ruete: „Wir haben die Satellitennavigation völlig unterschätzt!” Der EU-Beauftragte für Transeuropäische Netze setzt den Umsatz für Satelliten-Receiver in Europa im Zeitraum 2005 bis 2025 auf 180 Milliarden Mark an: „Durch Galileo könnten über 200000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden.” Ruete verspricht zukünftigen Galileo-Nutzern eine Grundversorgung an Satellitendaten. „Die Galileo-Geräte werden außerdem GPS-kompatibel sein.” Die Europäische Kommission will für Exaktheit und Verfügbarkeit der Signale garantieren. Damit könnte der gesamte Flugverkehr auf Satellitennavigation umstellen – das bedeutet weniger Investitionen für teuere Leitsysteme und mehr Sicherheit auf stark frequentierten Routen. Für solche sicherheitskritischen Anwendungen ist allerdings eine kostenpflichtige Registrierung vorgesehen. Je eher Galileo kommt, um so besser die Marktchancen. Schon werden Stimmen laut, die Galileo für 2006 fordern. Derweil gerät das angestrebte Kooperationsmodell zwischen staatlichen Organisationen und der Industrie ins Wanken, weil GPS einen zu großen Teil des Massenmarktes besetzen wird. Ruetes Terminkalender platzt aus allen Nähten: Verhandlungstermine mit russischen und amerikanischen Militärbeauftragten über die gemeinsame Nutzung von Signalen oder die Weltradio-Konferenz in Istanbul, wo sich im Mai internationale Regierungsvertreter um Sendefrequenzen rangelten. Die Amerikaner streiten ab, daß die Verbesserung des GPS-Signals bewußt vor die Konferenz gelegt wurde, um sich in eine bessere Verhandlungsposition zu bringen. Die USA lassen sich im Kampf um Marktanteile bei GPS-Produkten und -Dienstleistungen nicht so einfach einschüchtern. Bereits im Januar 1999 kündigte Vizepräsident Al Gore ein Projekt zur Modernisierung von GPS an: „Die Vereinigten Staaten sind stolz darauf, in der Satellitennavigation die Nase vorn zu haben.” 2003 beziehungsweise 2005 sollen Benutzer im Standarddienst zwei zusätzliche Signale erhalten, die Störungen ausmerzen. Dazu werden Zug um Zug neue Satelliten in den Orbit gebracht, in diesem Jahr sollen es vier sein. Wer sich dann ein neues GPS-Gerät kauft, wird seine Position metergenau bestimmen können – und muß nicht mehr auf Galileo warten. GPS – der Alleskönner Ein Roboter, so groß wie ein Spielzeugauto, identifiziert Nacktschnecken in Salatfeldern. Mit einem 1,8 Meter langen Greifarm packt er die Schädlinge und kompostiert sie in einer Fermentationskammer. Aus dem Abfallprodukt Biogas wird elektrische Energie gewonnen – zum Antrieb des Schneckenvertilgers. Britische Wissenschaftler entwikkelten den Prototyp des makabren Perpetuum mobile, der dank GPS immer auf dem richtigen Beet bleibt. Von bizarr bis bodenständig reichen die Anwendungsbeispiele für satellitengesteuerte Navigationssysteme. Vor allem im Straßenverkehr kommt GPS immer häufiger zum Einsatz: Digitale Routenplaner für 3000 bis 5000 Mark leiten Autofahrer per Sprachbefehl oder Display zum Zielort. Das handliche Gerät verrechnet Lenkbewegungen und Geschwindigkeit des Fahrzeugs mit den Signalen aus den GPS-Satelliten – und verzeichnet den aktuellen Standort metergenau auf einer elektronischen Landkarte. Ein Service-Kit des ADAC ruft im Ernstfall auch den Pannendienst oder die Straßenwacht. „ Navigationsgeräte sind ein potentieller Massenmarkt”, versichert Matthias Ruete, EU-Beauftragter für Verkehrsnetze. „Ich denke da an Opernführer, Veranstaltungskalender und Hotelauskunft.” Im März stellte die Brauerei Heineken eine tragbare Bar-Suchmaschine vor: Ein Mini-Bildschirm zeigt Reisenden in allen Großstädten der Welt den Weg zur nächsten Kneipe. Auch Handys mit integriertem GPS gibt es mittlerweile: Das Mobiltelefon Esc des finnischen Herstellers Benefon macht Bankgeschäfte unterwegs sicherer, da der Aufenthaltsort des Teilnehmers genau verfolgt werden kann. In den USA sollen GPS-Empfänger in Handys schon bald Pflicht werden, damit bei Anrufen des 911-Notrufs sofort die Position durchgegeben wird. Das Schlagwort Telematik bringt Politiker und Techniker ins Schwärmen: Das Straßen-Leitsystem der Zukunft empfängt die Positionsdaten aller Fahrzeuge und lockert den Verkehrsfluß auf durch Geschwindigkeitsbegrenzung, Umleitungen oder flexible Mautgebühren. Allein in Europa könnten durch intelligentes Verkehrsmanagement im Zeitraum 2005 bis 2025 rund 390 Milliarden Mark eingespart werden, behaupten die Galileo-Planer – ein Argument, das Bedenken von Datenschützern schnell übertönen wird. Der Markt wird schon heute mit neuen Produkten überschüttet: wiederauffindbare Teddybären, ortskundige Scheinwerfer, die auch Kurven ausleuchten, und diebstahlsichere Autos. Eine elektronische Fußfessel für Straftäter könnte überfüllte Vollzugsanstalten entlasten: Auf einem Ortsplan werden die Bewegungen des freigelassenen Häftlings aufgezeichnet. Verläßt er das erlaubte Gebiet, schlägt die Polizei Alarm. Die Haft im trauten Heim ist in amerikanischen Großstädten seit Jahren eine Alternative zum Gefängnis. Empfangen GPS-Geräte zusätzliche Signale von einem ortsfesten Sender, lassen sich die Positionsabweichungen auf Handbreite reduzieren. Stationen für dieses Differential-GPS (DGPS) gibt es seit den neunziger Jahren in europäischen Küstengebieten. Die Positionsbestimmung im Dezimeterbereich durch Zusatzsender eröffnet der Satellitennavigation den Markt für lebenswichtige Anwendungen: zum Beispiel für Flugleitsysteme oder digitale Begleiter, die Blinden über Kopfhörer den Weg weisen. Die neueste Anwendung haben sich die Militärs ausgedacht: Das amerikanische Office of Naval Research hat Fünf-Zoll-Geschosse der Artillerie mit Sensoren und GPS-Empfänger ausgestattet. Im Flug überprüft das Projektil seine Position und ändert, wenn nötig, die Flugbahn. Die 3000 Dollar teure Lenkeinheit soll schon bald in NATO-Standard-Munition eingebaut werden.
Cletus Gregor Barié