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Erstunken und Erlogen

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Erstunken und Erlogen
Die Euphorie dauerte nur einen Tag, dann war klar: Erfolgsberichte, wonach Gentherapeuten Krebs heilen können, waren maßlos übertrieben. Als Sündenböcke mußten die Journalisten herhalten.

So etwas hatte die Medizinwelt noch nicht erlebt: „Forscher sehen Durchbruch – Gen-Therapie löst Krebs-Tumore auf“, prangte am 17. September in riesigen Lettern auf der Titelseite der „Bild-Zeitung“. Mediziner der Berliner Charité-Klinik hätten „Patienten künstlich gezüchtete Krebszellen eingeimpft“, schrieb das Sex- and Crime-Blatt. Den Direktor der Hautklinik, Prof. Wolfram Sterry, zitiert „Bild“ mit den Worten: „Schon in zwei bis drei Jahren können mehrere Krebsarten flächendeckend mit Gentherapie behandelt werden.“

Doch schon am Morgen danach folgte die Ernüchterung. Die Hamburger Morgenpost, die Tags zuvor selbst noch von einem Durchbruch gesprochen hatte, schwang sich jetzt zum Ankläger auf: „Krebs: Doch kein Durchbruch?“ Die Erfolgsberichte seien „hochgespielt“ und „absolut übertrieben“. In einem Gespräch mit dem Magazin „Der Spiegel“ zog der Hamburger Krebsforscher Prof. Dieter Kurt Hossfeld vom Leder: „Daß die Kollegen in der Charité jetzt eine sensationelle Methode entwickelt haben wollen, erfüllt mich mit Skepsis – um es gelinde zu formulieren.“ Hossfeld weiß, was hinter dem Rummel steckt: „Es klingelt wieder Forschungsgeld in der Kasse.“

Die Charité-Mannschaft beeilte sich, die Wogen zu glätten: „Wir sprechen von einem Etappenerfolg, aber noch lange nicht von einem Durchbruch“, gab der Leiter der Forschergruppe, Prof. Peter Walden der Berliner Zeitung zu Protokoll, und von Heilung könne keine Rede sein.

Im Gespräch mit bild der wissenschaft nimmt sein Mitarbeiter Dr. Uwe Trefzer nun die Presse aufs Korn: „Erstunken und erlogen“ seien die Berichte, die Zitate „frei erfunden“.

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Schade – denn die Gentherapie, die Krankheiten „an der Wurzel packen“ soll, startete verheißungsvoll: Vor sieben Jahren reparierten US-Wissenschaftler einen Gendefekt in den Blutzellen zweier immungeschwächter Kinder, denen es nach der Behandlung deutlich besser ging.

Krebs, Schlaganfall und Aids wollten die Forscher daraufhin heilen – ohne die eigentlichen Probleme, wie den Gentransfer sowie die Selektivität und Stabilität des Einbaus von Genen, auch nur annähernd gelöst zu haben. Die Erfolgsmeldungen blieben erwartungsgemäß aus.

1994 trat auch Deutschland in die neue Medizin-Ära ein. „Gentherapie vor dem Durchbruch“ titelte damals sogar die linksalternative „Tageszeitung“. Doch es geschah wieder nichts.

1995 dann das schwarze Jahr der Gentherapie: In einer September-Ausgabe des „New England Journal of Medicine“ berichteten gleich zwei Forscherguppen von Fehlschlägen im Kampf gegen Muskeldystrophie und Mukoviscidose.

Das war zuviel für die Geduld der Journalisten, die Stimmung schlug um in Depression: „Jetzt stagniert sie“, beweinte „Der Spiegel“ die Gentherapie. „Versprechen, Versprechen“, klagte „Newsweek“. Im letzten Jahr mußten sich Gentherapeuten von einer Kommission der US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH) auch noch vorwerfen lassen, die Grundlagenforschung vernachlässigt zu haben.

Doch sie gaben nicht auf. Mittlerweile hat die Zahl der klinischen Gentherapie-Studien 100 längst überschritten. Die Tumorbekämpfung steht dabei an erster Stelle. Meist versuchen die Forscher mit einer Immuntherapie, die Körperabwehr auf die entarteten Krebszellen aufmerksam zu machen. Sie schleusen Gene für Oberflächenmoleküle, Antigene und Botenstoffe in die Krebszellen ein, oder spritzen den Patienten abgeschwächte Viren, Kohlenhydrate, nackte Erbsubstanz, krebsspezifische Moleküle oder gar fremde Zellen. In Deutschland laufen zur Zeit neun Gentherapie-Studien, fünf davon haben die Behandlung von Hautkrebs zum Ziel.

Auch die Forscher der Charité versuchen sich an einer Immuntherapie: Sie verschmelzen Melanomzellen von Patienten mit fremden Immunzellen und impfen damit die Patienten. Deren Körperabwehr soll nun gegen die fremden Strukturen Sturm laufen und alle Zellen vernichten, die krebsspezifische Merkmale tragen.

Ob die Rechnung aufgeht, müssen größere Studien zeigen. Bislang wurden 15 Patienten behandelt, denen mit konventionellen Methoden nicht mehr zu helfen war. Immerhin ist der Zustand eines Patienten seit neun Monaten stabil. Kenner der Materie bemerkten schnell, daß die Berichte einen Haken hatten: Da die Mediziner mit ganzen Zellen hantieren und nicht mit einzelnen Genen, hat die Methode mit Gentherapie gar nichts zu tun.

Daß anläßlich der „Dritten Europäischen Konferenz über Gentherapie von Krebs“ solche Studienergebnisse überhaupt vorgestellt wurden, ist schon merkwürdig. Eine Presseerklärung, die die Charité-Methode in höchsten Tönen lobt, machte die Verwirrung komplett: „Unser Verfahren ist im Verlauf der Konferenz das am meisten diskutierte gewesen. Es ist derzeit der komplexeste Ansatz zur Heilung von Krebs.“

Wer so von „Heilung“ spricht, darf sich nicht wundern, wenn er einen Sturm entfacht: Die Presse war nur allzu schnell bereit, wieder Euphorie zu verbreiten. Der Sturm aber, und das ist die Tragik, zerstört die Hoffnungen von Patienten: Allein in den ersten sieben Tagen meldeten sich etwa 1000 Krebskranke in der Charité.

„Es sollen Versuche unternommen werden, Forschungsergebnisse schneller, vielfältiger und wirksamer in die Öffentlichkeit zu tragen“, heißt es in der Berliner Presseerklärung. Dieser Versuch jedenfalls ist gründlich daneben gegangen.

Christian Weymayr

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