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Leben, Tod und Unsterblichkeit

Allgemein

Leben, Tod und Unsterblichkeit
Mit 122 Jahren starb im August 1997 die nachweislich älteste Frau der Welt, die Französin Jeanne Calment – und die Medizin ist auf dem besten Weg, dieses Lebensalter für alle Menschen erreichbar werden zu lassen. Die Titelgeschichte des Novemberheftes: Wie alt kann der Mensch werden? Was können wir von unsterblichen Krebszellen lernen? Wie lange noch ist der Tod endgültig? Und wir fragen: Warum eigentlich will der Mensch nicht sterben?

Seine Seele verpfändete Oskar Wildes „Dorian Gray“ für die Aussicht auf ewige Jugend und Schönheit, doch vor der Endlichkeit menschlichen Seins gab es auch für ihn kein Entrinnen. Die moderne Naturwissenschaft träumt den alten Traum vom grenzenlosen Leben unverdrossen fort. Die neue molekulare Biologie will das Geheimnis des unaufhaltsamen Zerfalls in den Zellen und ihren Molekülen enträtseln. Denn wer weiß, was die kleinsten Bausteine unseres Körpers altern läßt, so die Hoffnung, hält bald auch die Werkzeuge in Händen, um an den filigranen Rädchen der zellulären Lebensuhr zu drehen. Die ewige Sehnsucht nach dem Jungbrunnen.

Eine Fülle von oft widersprüchlichen Daten und Details haben die Gerontologen in den letzten Jahrzehnten angehäuft. Sie flossen in zwei große Theorien über das Altern ein: die Fehler- und die Programmtheorie. Für die Vertreter der Fehlertheorie ist Altern das unvermeidbare Resultat des Verschleißes von Zellen und ihrer Erbsubstanz aufgrund schädigender Einflüsse. Die Befürworter der Programmtheorie sind überzeugt, daß Altern und Tod ein ureigener Teil des Lebens sind: Von Anfang an in jeder Zelle installiert, läuft ein genetisches Alterungsprogramm nach einem arttypischen Muster ab.

Unstrittig ist: Zellen altern – ob nun aufgrund sich häufender Fehler oder eines genetischen Programms. Neu ist: Zellen müssen nicht altern. Auch bei menschlichen Zellen ist Unsterblichkeit prinzipiell denkbar. Wie es möglich sein könnte, Zerfall und Tod zu entgehen, versuchen die Forscher von den einzigen Zellen des menschlichen Körpers zu erfahren, die unsterblich sind: Krebszellen. Denn ihnen gelingt, was anderen Zellen von Natur aus streng verboten ist: Sie ziehen eine innere Uhr, die bestimmt, wann die Lebenszeit abgelaufen ist, immer wieder auf. Wo genau diese Uhr des Lebens in den Zellen tickt, konnten die Wissenschaftler schon ausmachen – in den Telomeren, den kleinen Endabschnitten der Chromosomen.

Der Begriff Telomer – vom griechischen Wort telos für „Ende“ und meros für „Teil“ – stammt von dem amerikanischen Genetiker Hermann Muller. Bereits 1938 vermutete er, daß die Telomere die Enden der Chromosomen wie schützende Kappen umhüllen, damit sich die wertvollen Erbträger nicht abnutzen. Drei Jahre später untermauerte seine Landsmännin Barbara McClintock den Verdacht.

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Die Chromosomen, wies die spätere Nobelpreisträgerin nach, zerfallen ohne ihre Schutzkappen. Ohne Telomere kleben ihre Enden zudem während der Zellteilung wahllos mit anderen zusammen.

1972 machte dann der amerikanische Nobelpreisträger James Watson, Entdecker der chemischen Struktur der Erbsubstanz, die entscheidende Beobachtung: Wann immer eine Zelle sich teile, beschrieb er, würden die Endstücke ihrer Chromosomen ein Stückchen kürzer. Welcher biologische Sinn sollte dieser fortschreitende Substanzverlust haben? Ein russischer Biologe, Alexej Olovnikow, brachte die eigenartige Chromosomen-Schrumpfung erstmals mit der Alterung von Zellen in Verbindung: Zellen, überlegte er 1973, büßen ihre Teilungsfähigkeit ein – sie altern -, wenn die Telomere eine kritische Länge unterschreiten.

Mitte der achtziger Jahre entdeckten britische Forscher eine bemerkenswerte Ausnahme. Nicht alle Zellen erleiden die eigentümliche Chromosomen-Verkürzung – das Telomer in den Samenzellen eines gerade geborenen Kindes ist genausolang wie das eines 90jährigen Mannes. Die Keimzellen – von der Natur besonders sorgsam gehütete Speicher und Überträger der genetischen Information – entgehen dem sonst unaufhaltsamen Verfall, weil die Natur sie mit einem Enzym bevorzugt hat, das sie jung erhält: der Telomerase.

Die Telomerase ist ein ganz besonderes Enzym. Sie besteht nicht, wie gewöhnliche Enzyme, ausschließlich aus Protein, sondern setzt sich zum Teil aus Protein und zum Teil aus Ribonukleinsäure zusammen, dem Stoff, aus dem auch die Erbsubstanz besteht. Dieses Bauprinzip hat nur wenige Parallelen in der Biologie. Es weist daraufhin, daß die Telomerase ein Relikt aus einer sehr frühen Entwicklungszeit des Lebens ist. Das eigenartige Molekülfossil bewahrt die Keimzellen vor der Alterung, indem es die Telomer-Abschnitte, die bei jeder Teilung verlorengehen, wieder ergänzt. Die Alters-erosion der Chromosomen bleibt aus.

Die überzeugendsten Argumente dafür, daß die Länge der Telomere mit dem Altern von Zellen zusammenhängt, lieferten amerikanische Biologen vom Cold Spring Harbor Labor in New York. Sie veröffentlichten ihre Arbeit 1990 in der Zeitschrift „nature“.

Einer ihrer Kollegen, Robin Allshire, hatte zuvor entschlüsselt, aus welchen einzelnen Bausteinen die Telomere bestehen. Daraufhin wurde es möglich, die Telomer-Längen alter und junger Zellen exakt zu vermessen und miteinander zu vergleichen. Das Ergebnis war eindeutig: Die Telomere junger Zellen waren durchweg länger als die alter Zellen. Anhand der Telomer-Länge konnten die Wissenschaftler nun sicher die Zahl der Teilungen bestimmen, die eine Zelle hinter sich gebracht hatte. Die Telomer-Uhr zeigt also genau an, wie alt eine Zelle ist.

In jüngster Zeit haben die Alternsforscher noch mehr Details zu einer Telomer-Altershypothese zusammengefügt: Jede Körperzelle enthält 46 Chromosomen. An den beiden Enden jedes einzelnen Chromosoms sitzt ein Telomer. Eine Körperzelle besitzt ingesamt 92 Telomere. Im menschlichen Körper, der aus rund 100 Billionen Zellen besteht, schlagen etwa 10 Billiarden Telomer-Uhren. Jedes einzelne Telomer ist aus bestimmten Bausteinen, DNA-Basen, aufgebaut. Es handelt sich ausschließlich um die Basen Thymin (T), Adenin (A) und Guanin (G). Jeweils zwei Thymine, ein Adenin und drei Guanine bilden einen „Bauabschnitt“ (TTAGGG), der in einem Telomer mehr als 1000mal hintereinandergeschaltet ist. Nirgendwo auf dem gesamten Telomer sind Gene zu finden, also DNA-Abschnitte, die die Information für die Konstruktion eines Proteins tragen.

Am Anfang des Lebens, in der befruchteten Eizelle, haben die Telomere ihre maximale Länge. Sie umfassen dann etwa 10000 Basenpaare beziehungsweise 1600 TTAGGG-Wiederholungen: Die Lebensuhr ist voll aufgezogen. Immer, wenn sich die Zelle teilt, gehen jedem Telomer 50 bis 200 Basenpaare – 8 bis 16 TTAGGG-Einheiten – verloren. Zum Zeitpunkt der Geburt haben schon so viele Teilungen stattgefunden, daß bereits die Hälfte der Basen aufgebraucht ist: Jedes Telomer besteht dann nur noch aus 5000 Basenpaaren oder 800 TTAGGG-Wiederholungen.

Nach der Geburt verkürzen sich die Telomere ungefähr parallel mit dem Alter. Als Grundregel gilt: Je größer die Zahl der durchlebten Zellteilungen, desto kürzer sind die Telomere; je kürzer die Telomere, desto älter ist die Zelle. In den letzten Stadien der Telomer-Schrumpfung verändern die Gene in der nun „greisen“ Zelle ihr Aktivitätsmuster, die Teilungsrate verlangsamt sich, schließlich teilt sich die Zelle gar nicht mehr und stirbt.

Die Telomere gleichen also einer Zündschnur, die langsam abbrennt und am Ende den Zelltod auslöst. Wann dieser Zeitpunkt erreicht ist, variiert von Zelltyp zu Zelltyp und von Zelle zu Zelle: Das ist der Grund dafür, daß wir nicht eines Morgens unvermittelt mit grauen Haaren und runzliger Haut erwachen, sondern langsam – Zelle für Zelle – altern. Der Telomer-Hypothese nach sind wir nicht alt an Jahren, sondern so alt, wie die Telomere in den Zellen unseres Organismus lang sind.

Ob die Maßeinheit „Jahre“ oder „Zeigerstand der Telomer-Uhr“ heißt – der Effekt bleibt gleich, mag der vor sich hin alternde Mensch resigniert denken. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, daß wir die Zeit zwar gewiß nicht anhalten können – vielleicht aber die Telomer-Uhr in unseren Zellen. „Es ist theoretisch möglich, die Telomer-Verkürzung und mit ihr den Prozeß des Alterns zu verlangsamen“, erklärt beispielsweise einer der Größen der Telomer-Forschung, Prof. Jerry Shay von der University of Texas in Dallas. Erste Experimente, um diese Idee an menschlichen Zellkulturen zu prüfen, laufen. Shays Kollege Michael Fossel, Professor der Medizin an der Michigan State University, prophezeit sogar mutig: „Wir werden in 20 Jahren das Altern verhindern können und sogar eine Verjüngung erreichen.“

Quell der Hoffnungen ist die Telomerase, jenes Enzym, das sterbliche Zellen unsterblich machen kann, indem es die verschlissenen Enden der Chromosomen erneuert. Die Zell-Alterung könnte mit dem Wundermittel aus der Zukunftsapotheke also womöglich verhindert werden – wenn man gleichzeitig das verstärkte Risiko in den Griff bekommt, dann an Krebs zu erkranken.

„Beides sind unmittelbar miteinander verwandte Phänomene“, erklärt Roland Prinzinger, Professor für Physiologie an der Universität Frankfurt am Main: „Würde man das Geheimnis der Unsterblichkeit bei Krebszellen kennen, wüßte man vermutlich auch mehr über die Natur des Alterns.“

Eines ihrer Geheimnisse auf dem Weg zur Unsterblichkeit haben die Krebszellen bereits preisgegeben: Sie lassen die Telomerase für sich arbeiten. Normalerweise kommt die Telomerase in erwachsenen Zellen nicht vor – bis auf die Keimzellen und die wenigen weiteren Ausnahmen wie die blutbildenden Stammzellen des Knochenmarks. Viele bösartige Zellen stellen das Enzym jedoch her und sorgen mit seiner Hilfe dafür, daß die Telomere in voller Länge erhalten bleiben – und mit ihnen die Teilungsfähigkeit. Entartete Zellen vergessen einfach, wie oft sie sich schon geteilt haben. Mit jugendlichem Elan teilen sich Krebszellen hemmungslos, wieder und wieder – eine Unsterblichkeit, die für den Organismus tödlich endet.

Auf der Beobachtung, daß die Telomerase in der Mehrzahl entarteter Zellen aktiv ist, beruhen neue Versuche der Krebsforscher, den verhängnisvoll wuchernden Zellen mit Hilfe von Substanzen Herr zu werden, die das Enzym blockieren. Die Telomerase-Hemmer sollen die Krebszellen altern und sterben lassen. Wissenschaftler der kalifornischen Geron Corporation haben im Jahr 1994 erstmals einen derartigen Telomerase-Hemmer isoliert. Und vor wenigen Wochen fanden Genetiker in Boulder/Colorado und Houston/Texas den Katalysator für die Produktion der menschlichen Telomerase.

Wenn sie das dazugehörige Gen ausschalten, wird keine Telomerase mehr gebildet, die Zellen altern rasch. Wurde das Gen wieder eingefügt, konnten die Forscher beobachten, wie die Chromosomen-Enden wieder aufgebaut wurden – die Zellen verjüngten sich. Bis diese Entdeckung aber medizinisch anwendbar sein wird, dürften viele Jahre vergehen, da die Funktion des Telomerase bildenden Katalysators sorgfältig ausbalanciert sein muß: Er sollte die Telomerase bei gesunden, aber altersschwachen Zellen in wohldosierten Schwung versetzen – ohne die Zelle damit zur Entartung zu treiben. Als Anti-Krebsmittel wird es vermutlich früher eingesetzt werden können denn als Jungbrunnen.

Die unsterblichen Krebszellen lassen die Telomere und ihre biologische Aufgabe in einem gänzlich anderen Licht erscheinen. Offenbar sind sie keineswegs eine Unbill der Natur, ein gleichsam hinterrücks von ihr eingebauter Mechanismus, damit – ganz im Sinne der nach Perfektion strebenden Evolution – ein Leben dem nächsten Platz machen kann, wenn seine Zeit abgelaufen ist. Möglicherweise sind die Telomere genau das Gegenteil – ein Mechanismus nämlich, der dazu dient, Leben möglichst lange zu erhalten. „Die Zell-Alterung sorgt für die strikte Einhaltung der Wachstumskontrolle und reduziert die Wahrscheinlichkeit von Krebs“, meint etwa der amerikanische Telomer-Forscher Cal Harley.

Danach ist das Altern nicht etwas, was einfach mit uns geschieht, wenn wir älter werden. Es dient vor allem dem Ziel, einen zu frühen Tod durch Krebs zu verhindern.

Ähnlicher Meinung ist auch Dr. Alexander Bürkle. Der Mediziner beschäftigt sich im Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg mit den Zusammenhängen von Altern und Krebs. Für ihn sind die Telomere eine Art „Notbremse“, die irgendwann gezogen werden muß, um Schlimmes zu verhüten. Denn im Laufe eines teilungsfreudigen Zell-Lebens wird die Zelle auf vielerlei Art und Weise geschädigt, irreparable Schäden und Fehler häufen sich, die Wahrscheinlichkeit einer bösartigen Entartung wird größer. Die TelomerVerkürzung zählt, wie oft sich die Zelle bereits geteilt hat – ähnlich wie der Kilometerzähler im Auto die Wegstrecke festhält. Ist eine kritische Grenze erreicht, wird die einzelne Zelle zum Wohle des Gesamtorganismus entfernt. Dieser wird dadurch zwar wieder „eine Zelle älter“, läuft aber nicht Gefahr, frühzeitig an defekten Zellen zugrunde zu gehen. „Ein Auto, das mehr als 500000 Kilometer gefahren ist“, veranschaulicht Bürkle, „würde der TÜV ja auch vorsorglich aus dem Verkehr ziehen.“

Claudia Eberhard-Metzger / Regine Halentz / Jürgen Nakott / Thomas Willke

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