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Die Alpen werden gefährlich mürbe

Erde|Umwelt

Die Alpen werden gefährlich mürbe
Stürzende Berghänge, Gerölllawinen und Gletscherfluten – die Klimaerwärmung macht die Alpen zur Gefahrenzone.

Ein plätschernder Bach, daneben das gepflegte Grün eines Golfplatzes. Unvermittelt erheben sich aus der Wiesenlandschaft schroffe Berge, und der Wasserlauf verschwindet in einer engen Schlucht. Obwohl kaum 1000 Meter über dem Meer, quoll hier noch vor 150 Jahren das Eis eines Gletschers hervor. Der Untere Grindelwaldgletscher war bis zum Schweizer Ferienort Grindelwald vorgestoßen. Inzwischen hat sich das Eis weit zurückgezogen. Doch aus der dunklen Felsöffnung kommt noch immer ein kalter Luftzug, selbst an heißen Sommertagen. Touristen dürfen gegen Gebühr ein Stück weit in die Schlucht hineingehen, auf einem Weg, der mehrere Meter über dem Bach teils über Brücken, teils durch Tunnel führt.

Am Abend des 30. Mai 2008 war es mit der Idylle plötzlich vorbei. Der Zugang zur „Gletscherschlucht” war bereits geschlossen, als innerhalb weniger Stunden rund 800 000 Kubikmeter Wasser hinabrauschten und die Weiße Lütschine – das Bächlein, das mitten durch Grindelwald führt – bedrohlich anschwellen ließen. „Das hat gewaltig gerumpelt”, erinnert sich eine Anwohnerin. Die Flutwelle richtete zum Glück nur geringen Schaden an: Sie riss das Podest einer Bungee-Jumping-Station weg und nagte am Rasen des Golfplatzes. Doch das Unheil wird sich in den nächsten Jahren wiederholen, davon sind die Experten überzeugt – und dann vielleicht nicht so glimpflich ausgehen. Viele Häuser, die nahe am Wasser stehen, sind bedroht. Und die Gefahr wächst mit jedem Jahr.

Dumpfes grollen

Um zu begreifen, was in der beliebten Touristenregion vor sich geht, muss man zur Bäregg-Hütte hinauf. Sie liegt oberhalb der Schlucht auf 1775 Meter Höhe, gegenüber der Eiger-Ostwand, und bietet einen überwältigenden Panoramablick auf weiß leuchtende Gletscher, die an den Hängen der umliegenden Viertausender kleben. Immer wieder grollt ein Donnern durch die Bergwelt, dann bricht Eis ab und stürzt über Felsen hinab. Unten in der Schlucht liegen die kargen Reste des Unteren Grindelwaldgletschers: eine braune Mondlandschaft, weil herabgestürztes Geröll das Eis bedeckt. Auf der Terrasse der Bäregg-Hütte kann man im Zeitraffer beobachten, wie der Klimawandel dem Hochgebirge zusetzt. „In Grindelwald spielen sich auf engstem Raum viele Prozesse wie im Lehrbuch ab”, sagt der Geologe Hans Rudolf Keusen, Experte für alpine Naturgefahren und Geschäftsführer der Berner Geotest AG.

Der passionierte Bergsteiger wurde im Mai 2000 erstmals in diese Gegend gerufen, nachdem in der Nähe eine große Mure abgegangen war. Das Gemisch aus Schlamm und Geröll war auf die Reste des Unteren Grindelwaldgletschers gepoltert und hatte eine Staubwolke aufgewirbelt, die noch im etliche Kilometer entfernten Grindelwald zu sehen war. Keusen hat das Gelände seitdem mehrmals mit dem Hubschrauber abgeflogen. In 2700 Meter Höhe fand er die Ursache für das Spektakel: Eine Bergflanke war brüchig geworden, weil der Permafrost abtaute. An der Abbruchstelle enthält das Erdreich ungewöhnlich viel Eis – bis zu 50 Prozent –, sodass ihm die Erwärmung den Halt nahm. 100 000 bis 200 000 Kubikmeter Schutt sind inzwischen aus dem Hang gebrochen. Doch der Spuk ist noch immer nicht vorbei. Immer wieder, vom Spätfrühling bis in den Herbst, hört Hansruedi Burgener, der Pächter der Bäregg-Hütte, das Donnern der Steine.

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EINE ALMWIESE STÜRZT IN DIE SCHLUCHT

Die steigenden Temperaturen weichen nicht nur den Permafrost auf, sie lassen auch die Gletscher schrumpfen. Zwischen 1850 und 1975 hat sich das Volumen der Alpengletscher halbiert. Und der Rückzug hat sich beschleunigt: Nahm das verbliebene Eis zwischen 1975 und 2000 um jährlich rund ein Prozent ab, so sind es inzwischen zwei bis drei Prozent. Allein im Hitzesommer 2003 gingen etwa acht Prozent verloren. Der Untere Grindelwaldgletscher, der sich wegen seiner exponierten Lage im engen, schattigen Tal ungewöhnlich weit, bis in 1000 Meter Meereshöhe vorgeschoben hatte, schwindet sogar noch schneller. Er hat inzwischen rund 200 Meter Höhe verloren. Und Jahr für Jahr tauen weitere 6 bis 8 Meter weg – mit gravierenden Folgen.

Das Eis, das jetzt fehlt, drückte einst gegen die steilen Hänge und gab ihnen Halt. Ohne die kalte Stütze bröckelt das Gestein. Im Frühjahr 2005 erwischte es die Stieregg-Hütte, ein stattliches Holzhaus, in dem Wanderer einkehrten und übernachteten. Sie stand nicht weit von der heutigen Bäregg-Hütte entfernt, allerdings 120 Meter tiefer. Und sie gründete nicht auf Fels, sondern auf Moränenschutt, den der Gletscher zusammengeschoben hatte. Im Mai 2005 zeigten sich im steilen Hang unterhalb der Hütte erstmals Risse, und innerhalb weniger Wochen stürzte die ganze Almwiese in die Schlucht, mehr als 600 000 Kubikmeter Geröll. Die Hütte hing schließlich halb über dem Abgrund. Feuerwehrleute zündeten sie an, damit sie nicht auf den Gletscher stürzte. Als Ersatz bauten die Grundeigentümer, die Bergschaften Grindel und Scheidegg, dann die Bäregg-Hütte auf höherem, sicherem Terrain.

Das neue Wanderer-Domizil bot schon im folgenden Jahr den Ausblick auf ein weiteres Naturspektakel, das viele Neugierige in die Alpenidylle lockte. Diesmal ging der Hang auf der anderen Seite des Tals, an der Ostflanke des Eigers, in die Knie – einer Wand aus hartem Fels. Ein rund 200 Meter hohes und 250 Meter breites Stück löste sich und kippte langsam zur Seite. Wochenlang warteten Schaulustige auf den großen Bergsturz. Ein eilig installiertes Infrarotgerät, das die Bewegungen des haltlosen Kolosses maß, registrierte zunächst nur Werte von wenigen Zentimetern, doch Anfang Juli 2006 beschleunigte sich die Drift auf fast einen Meter pro Tag. Am Abend des 13. Juli brach dann die Hälfte des Sporns ab, und rund 500 000 Kubikmeter Gestein donnerten auf den Unteren Grindelwaldgletscher. Die andere Hälfte blieb stehen und versinkt seither langsam im Eis – ein weltweit einmaliger Vorgang. Inzwischen ist sie über 100 Meter abgesackt, wobei sie sich rund 40 Meter von der Wand entfernt hat.

Wie es zu dem Bergsturz kam, hat Geologe Keusen im Detail rekonstruiert. Zunächst, erklärt er, hatten sich in der Wand Mikrorisse gebildet, weil sich das Gestein ohne die Last des Gletschers entspannte. In die Fugen drang Wasser ein, das den Fels auseinanderpresste – mit einem Druck von bis zu 20 Bar, was dem Druck in 200 Meter Wassertiefe entspricht. Der Sommer 2005, der den Schweizern als katastrophaler Hochwassersommer in Erinnerung ist, hat die Zerstörung beschleunigt.

Ein Wolkenbruch genügte

Am 20. August 2005, fast ein Jahr vor dem Bergsturz, goss es in Grindelwald wie aus Kübeln, und in der folgenden Nacht registrierten Erdbebenwarten unter dem Eiger Mikrobeben. Auch einige Einwohner von Grindelwald, die Keusen später befragte, hatten ein Grollen aus dem Erdinneren wahrgenommen. In dieser Nacht, vermutet der Geologe, brach die Flanke der Eiger-Ostwand. Die Lunte war gelegt. Der Schutt des Bergsturzes versperrt nun das enge Tal. Oberhalb des natürlichen Wehrs bildet sich jeweils im Frühjahr, zur Schneeschmelze, ein See. Er wächst an, bis das Wasser einen Weg unter dem Eis gefunden hat, und läuft dann innerhalb von Stunden aus. Im Winter friert der Abfluss wieder zu. Mit jedem Jahr wird der See größer. Denn während der Damm auf gleicher Höhe bleibt, weil das aufliegende Geröll das Eis vor der Sonnenstrahlung schützt, schrumpft der Gletscher ringsum und lässt dem See immer mehr Raum. Das Schmelzwasser beschleunigt den fatalen Prozess noch, weil es vehement am Eis nagt. 2007, beim ersten größeren Ausbruch des Sees, war die Sturzwelle noch harmlos. 2008 rauschten bereits 800 000 Kubikmeter hinab – genug, um Schäden am Golfplatz anzurichten. Keusen hat berechnet, dass der See auf zehn bis zwölf Millionen Kubikmeter anwachsen könnte. Dann wäre er eine ernste Gefahr für Grindelwald und die weiter talwärts liegenden Ortschaften.

Zusammen mit dem Grindelwalder Rettungschef Kurt Amacher hat Keusen deshalb ein Warnsystem installiert. Eine fest montierte Kamera oberhalb der Bäregg-Hütte ist ständig auf den See gerichtet und verschickt ihre Bilder über das Internet. Außerdem messen Sensoren im See und in der Schlucht den Wasserstand und schlagen automatisch über Handy Alarm, wenn ein kritischer Wert überschritten wird. Im Mai hat das Frühwarnsystem seine Bewährungsprobe bestanden. Doch Warnungen allein genügen nicht, denn sie lassen den Anwohnern kaum eine Stunde Zeit zur Flucht und können Schäden nicht verhindern. Keusen will deshalb in diesem Jahr dem See einen künstlichen Abfluss verschaffen – mit einer 150 Meter tiefen Heißwasserbohrung durch das Toteis. Auf dem Gletscher soll sich erst gar nicht so viel Wasser sammeln können, um Menschen zu gefährden.

es wird warm im hochgebirge

Doch was sich da über Grindelwald abspielt, ist kein Einzelfall: Der Gletscherrückgang und der tauende Permafrost lassen überall in den Hochlagen der Alpen die Hänge bröckeln. Der Klimawandel beschleunigt den Erosionsprozess, der in dem geologisch jungen Faltengebirge ohnehin zum Alltag gehört. Immer wieder sorgen spektakuläre Bergstürze für Aufsehen: 1997 brachen rund sieben Millionen Kubikmeter Eis und Fels aus der Brenvaflanke des Montblanc, 2004 lösten sich aus der Thurwieserspitze im Südtiroler Ortlergebiet etwa zwei Millionen Kubikmeter Gestein, und im Oktober 2007 donnerte ein Bergsturz vom Gipfel des Einserkofels in den italienischen Dolomiten.

Vor allem aber nimmt die Zahl der kleineren Steinschläge zu, die sich aus der angetauten Oberfläche der Wände lösen. Das wurde im Hitzesommer des Jahres 2003 deutlich, als es im Hochgebirge nur so krachte – ob am Matterhorn, am Montblanc oder an der Jungfrau. Wasser war in Spalten eingedrungen, die bisher von Eis verschlossen waren, und sprengte das Gestein. Am Eiger registrierten die Messfühler in jenem Sommer auf 3000 Meter Meereshöhe fünf Mal so viele Wärmestunden mit Temperaturen über neun Grad Celsius wie sonst üblich.

Der Klimawandel macht sich in den Alpen stärker bemerkbar als im flacheren Umland, weil dort viel Schnee schmilzt, der bisher die Sonnenstrahlung reflektiert hat. Während die globale Mitteltemperatur in den letzten 100 Jahren um rund 0,8 Grad gestiegen ist, hat sich das Hochgebirge etwa doppelt so stark erwärmt. Nach einer Studie des Schweizer „Beratenden Organs für Fragen der Klimaänderung” (OcCC) von 2007 wird sich der Trend noch beschleunigen. Bis zum Jahr 2050 werden die Temperaturen in der Schweiz demnach um weitere 0,8 bis 2,4 Grad Celsius steigen. Die Schneefallgrenze, schon jetzt 300 Meter hinaufgeklettert, wird um weitere 360 Meter steigen, nach anderen Prognosen sogar um 680 Meter. Und der Permafrost, der bisher in Höhen oberhalb von 2400 bis 3000 Metern, je nach Ausrichtung der Hänge zur Sonne, rund 5 Prozent der Schweiz im Griff hat, wird langsam auftauen. Das betrifft vor allem die Gipfel- und Gratlagen, wo die Wärme von mehreren Seiten eindringen kann. „Die Häufigkeit von Felsstürzen wie auch die Wahrscheinlichkeit von Großereignissen dürften zunehmen”, heißt es im OcCC-Bericht.

Schleichender Zerfall

Doch wie groß die Gefahr ist, lässt sich nur schwer abschätzen, da der Permafrost bislang kaum erforscht ist. Langjährige Messreihen fehlen, die das unsichtbare Phänomen greifbar machen könnten. Auf jeden Fall wird sich das ganze Ausmaß des Zerfalls erst in Jahrzehnten zeigen, weil sich die Wärme nur sehr langsam im Gestein ausbreitet. Je tiefer sie vordringt, desto größere Brocken können wegbrechen – mit entsprechend gravierenden Folgen. „Auf Dauer”, meint Prof. Wilfried Haeberli, Permafrost-Experte an der Universität Zürich, „ sind nicht nur einsame Hochlagen, sondern auch besiedelte Räume betroffen.” Bisher halten sich die Schäden durch Erdrutsch und Steinschlag noch in überschaubaren Grenzen. In der Schweiz machten sie zwischen 1980 und 2006 nur gut zwei Prozent aller Elementarschäden aus, wie der Interkantonale Rückversicherungsverband ermittelt hat.

Der Klimawandel bringt aber auch eine ganz neue Gefahr mit sich. Durch die schmelzenden Gletscher bilden sich Seen, die sich spontan entleeren und Überflutungen verursachen können. Die Gefahr ist umso größer, als kaum ein Anwohner damit rechnet. In Grindelwald hat Keusen versucht, den Menschen die bedrohliche Lage klar zu machen – ohne großen Erfolg. Nur wenige nehmen die Gefahr ernst, die nicht zu ihrem Erfahrungsschatz gehört. Auch die Einwohner der Gemeinde Gadmen im Berner Oberland wollen nicht wahrhaben, was sich über ihnen zusammenbraut. Hier hat sich in den letzten Jahren vor dem zurückweichenden Triftgletscher ein See aufgestaut, den ein Gletschersturz zum Überlaufen bringen könnte. Am Gorner- und am Rhonegletscher sind ebenfalls neue Seen entstanden.

Nicht nur in den Alpen, sondern in vielen Gletscherregionen der Welt drohen inzwischen Gletscherseeausbrüche. Im Himalaja gelten nach Angaben des UN-Umweltprogramms UNEP immerhin 26 der 2315 Gletscherseen als gefährlich. Einige davon werden inzwischen überwacht. Im Süden Chiles ist erst im April 2008 der riesige See Cachet II, 5 Kilometer lang und 55 Meter tief, innerhalb nur eines halben Tages ausgelaufen.

Auch der tauende Permafrost ist gefährlich. Bergsteiger müssen sich mehr als früher vor Steinschlag hüten. Vor allem die Nordhänge, die der Dauerfrost bisher fest im Griff hatte, werden nun zum Risiko. Bergsteiger Keusen meidet deshalb die Eiger-Nordwand. Gefährdet sind natürlich auch Bauwerke, die in immer größeren Höhen errichtet werden. Allein in der Schweiz stehen 200 Bergbahnen auf Dauerfrostboden. Die Betreiber müssen immer tiefer in die Tasche greifen, um die Stützen und Gipfelstationen zu sichern. Welche Probleme sie dabei zu meistern haben, zeigt sich beispielhaft in Grindelwald, an der großzügig ausgebauten Station auf dem Jungfraujoch, 3454 Meter hoch über dem Meeresniveau. Im Schnitt 1700 Besucher fahren hier pro Tag hinauf und bewundern das weiße Bergpanorama, an Spitzentagen sogar 7000. Mit der fast 100 Jahre alten Zahnradbahn geht es durch endlose Tunnel hinauf, die letzten 100 Höhenmeter im Aufzug. Die Station thront auf einem 100 Meter hohen Felssporn – der „Sphinx” –, der durch seine exponierte Lage besonders anfällig für die Erwärmung ist. Keusen, seit 1980 Hausgeologe der Jungfraubahnen, hat hier bereits für rund eine halbe Million Franken tiefe Löcher ins Gestein bohren und mit Sensoren bestücken lassen, um Temperatur und Bewegung zu messen. Die Neigungsmesser im Fahrstuhlschacht sind so sensibel, dass sie sogar noch die Gezeiten an der Nordseeküste registrieren.

Den Berg verankern

Dass der Aufwand nötig ist, hat sich schon 1991 gezeigt, als ein Felssturz den Ausgang zum Gletscher am Fuß der Sphinx verschüttete. Damals bohrten die Betreiber kurzerhand einen neuen Tunnel von der unterirdischen Bergstation der Zahnradbahn zum Gletscher, der an einer anderen Stelle hinausführt. Doch auch hier haben sich in diesem Jahr Risse geöffnet, aus denen Wasser tropft – in einer Höhe, die vor wenigen Jahren noch zum sicheren Dauerfrostgebiet gehörte. Felsanker sollen nun 20 Meter tief in den Berg getrieben werden und dem lockeren Gestein den nötigen Halt geben, damit dieser Ausgang erhalten bleibt.

Die Messreihen, die Keusen aufgezeichnet hat, helfen nicht nur, die beliebte Bergstation vor Schaden zu bewahren, sie liefern auch wertvolle wissenschaftliche Erkenntnisse. So hat der Geologe gezeigt, dass sich die Temperaturwechsel im Laufe des Jahres noch 25 Meter tief im Gestein ablesen lassen, allerdings mit einem halben Jahr Verzögerung und mit stark gedämpfter Amplitude. Auch dem kaum erforschten Phänomen der „Eissegregation” kam er auf die Spur: Im Permafrost bildet das Eis oft Linsen, weil sich Wasserdampf mit Vorliebe dort niederschlägt, wo ohnehin schon Eis ist.

BAUFÄLLIGE SPHINX

Am Jungfraujoch konnte Keusen diesen Vorgang mit einer langjährigen Messreihe verfolgen. Seit 1994 hat sich eine Kluft durch das angesammelte Eis um drei bis vier Millimeter ausgedehnt. Der Permafrost macht das Gestein mürbe. Wenn nun die Temperaturen steigen und der Permafrost verschwindet, hat das Wasser umso leichteres Spiel. Es dringt in die Spalten ein und sprengt mit seinem hydrostatischen Druck den Fels. Nicht einmal die Nordseite der Sphinx, wo kaum Sonne hingelangt, ist gegen den Klimawandel gefeit – „eigentlich absoluter Dauerfrost”, wie Keusen sagt. Im Hitzesommer 2003 zeigten sich hier erstmals über Wochen Spuren von Schmelzwasser. Klimatologen prophezeien, dass solche Sommer bald zur Regel werden. „Die Sphinx ist ein großes Problem”, warnt Geologe Keusen. Er rechnet damit, dass in 10 bis 15 Jahren eine Rundum-Sanierung erforderlich ist. Dann muss möglicherweise der ganze Felssporn wie ein baufälliges Haus abgesichert werden, indem man Löcher hindurchbohrt und mit Felsankern verspannt.

Ähnliche Probleme haben die Gebäude auf der Zugspitze und dem Matterhorn. Aufgeben wollen die Betreiber ihre lukrativen Bergstationen aber auf keinen Fall. Im Gegenteil: Sie suchen nach Wegen, noch mehr Menschen hinaufzubefördern. Die Jungfraubahnen wollen sogar eine zweite Bahn bauen, eine Art Fahrstuhl, der die Besucher im Handumdrehen ins ewige Eis bringt. Denn die Gipfel, die Touristen ohne Anstrengung erreichen können, sind beliebt. Und sie werden in Zukunft noch attraktiver sein. „In 50 Jahren”, prophezeit Keusen, „sind das die letzten Orte, wo man noch Eis sehen kann.” ■

Klaus Jacob ist Bauingenieur und arbeitet als Wissenschaftsjournalist in Stuttgart. Er war erschüttert, als er das Ausmaß der Alpenkatastrophe sah.

von Klaus Jacob

Kompakt

· Grindelwald ist von schweren Überflutungen aus einem Gletschersee bedroht.

· Am Eiger ist ein Teil der Bergflanke abgebrochen, der Rest versinkt langsam im Eis.

· Durch den tauenden Permafrost und die schwindenden Gletscher drohen vielerorts in den Alpen Muren und Steinschläge.

Mehr zum Thema

Internet

Infos und Bilder vom See beim Bäregg: www.gletschersee.ch

Die Studie zum Klimawandel in der Schweiz findte man auf der Website des OcCC: www.occc.ch

Homepage der Geotest AG aus Bern: www.geotest.ch

Ein Berg bricht entzwei

Mitte des 19. Jahrhunderts reichte das Eis des Grindelwaldgletschers, der sich am Ostrand des Eigers entlangschlängelt, bis in fast 1700 Meter Meereshöhe. Es drückte gegen die Felswand und stabilisierte sie. Inzwischen hat sich der Gletscher weit zurückgezogen. Seine Reste – das Toteis – üben kaum noch Druck auf die Bergflanke aus. Das ließ im Sommer 2006 eine riesige Bergnase abbrechen. Der mächtige Steinklotz löste sich. Ein Teil rutscht seither talwärts ins Eis. Bergwasser, das unter dem abgleitenden Felsblock strömt, wirkt wie ein Schmiermittel. Der Hang sackt immer weiter in Richtung Tal und ragt inzwischen über 40 Meter von der Felswand weg. Insgesamt gerieten an der Eiger-Ostwand durch den Eisschwund rund zwei Millionen Kubikmeter Gestein ins Rutschen.

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