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Der stille Schrei

Erde|Umwelt Gesundheit|Medizin

Der stille Schrei
Von Raupen befallene Tabakpflanzen locken Wespen und Ameisen an, die den Schädlingen den Garaus machen. Wie die Pflanzen das fertigbringen, haben Botaniker jetzt erforscht.

Die Great Basin Desert im Südwesten des US-Bundesstaates Utah ist eine „kalte“ Wüste. Dennoch steht den Forschern aus Jena der Schweiß auf der Stirn, als sie die große schwarze Transportkiste vom Wohnwagen-Camp hinaus in die karge Trockensteppe schleppen. Wolken und Schatten wünscht sich trotzdem keiner von ihnen: Der empfindliche Gas-Chromatograph, den sie hinaus ins Feld tragen, wird mit Solarenergie betrieben.

Bereits am Tag zuvor war das Team um den Pflanzenforscher Ian Baldwin vom Jenaer Max-Planck-Institut für Chemische Ökologie hier draußen gewesen. Im Gepäck: fette, hellgrüne Raupen, die sich bis zur Metamorphose in einen Schmetterling – den Tabakschwärmer – an den Blättern des Wilden Tabaks gütlich tun. Der gehört zu den wenigen Gewächsen, die hier in der trockenen Steppe des Großen Beckens gedeihen.

Die hungrigen Raupen haben einen ganzen Tag Zeit gehabt, sich den Bauch vollzuschlagen. Und die angefressenen Tabakpflanzen? „ Die hatten genügend Zeit, Alliierte zu Hilfe zu rufen“, sagt Baldwin. Um diese Hilfeschreie zu hören, sind die Jenaer nach Utah gereist.

Auch wenn angeblich ein Drittel aller Deutschen mit den eigenen Topfpflanzen spricht, erwartet wohl keiner ernsthaft, darauf eine Antwort zu erhalten. Anders die Jenaer Forscher: Sie versuchen, die Sprache der Pflanzen zu verstehen. Ihre Vokabeln sind Tausende von verschiedenen Duftstoffen. Die Sprache der Pflanzen ist reine Chemie und blieb deshalb dem Menschen lange Zeit verborgen. Wahrnehmen lässt sie sich jedoch mit dem Gas-Chromatographen, einem Messgerät, das flüchtige Chemikalien selbst in winzigen Mengen aufspüren und identifizieren kann.

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Etwa 500 000 Pflanzenarten gibt es auf der Welt. Ihnen steht die gewaltige Macht pflanzenfressender Insekten gegenüber. „An Ort und Stelle festgewachsen, mussten Pflanzen im Laufe der Evolution lernen, sich effektiv zu verteidigen“, erklärt Baldwin. „Doch warum selbst kämpfen, wenn es viel billiger und einfacher ist, das andere für einen erledigen zu lassen?“ Parasitische Insekten etwa, die sich an den pflanzenfressenden Insekten gütlich tun.

Viele dieser Parasiten werden von einem verführerischen Duftcocktail angelockt, der sofort nach dem Schädlingsbefall aus der Pflanze strömt. In die Bisswunde eindringender Speichel löst eine Kaskade von Verteidigungsreaktionen aus, die der Reaktion des menschlichen Immunsystems auf einen Schnakenstich gleicht.

„Fünf bis zehn Minuten dauert es, bis der Speichel, der über die Bisswunde ins Tabakblatt eindringt, einen Schub des Wundhormons Jasmonsäure im ganzen Blatt auslöst“, sagt Baldwin. „ Nach 30 Minuten strömt das Wundhormon bereits durch die gesamte Pflanze bis hinunter in die Wurzeln.“ Das Hormon ist das interne Alarmsignal der Pflanze: Es löst eine Reihe von chemischen Notfall-Reaktionen aus.

Zunächst beginnen aus der Wunde die sogenannten Grünen Blattduftstoffe zu strömen. Es sind flüchtige Substanzen, die vom Wind kilometerweit getragen werden. Dies ist der erste Hilfeschrei der angegriffenen Pflanze. Schon er kann Helfer herbeirufen.

Nach einer Stunde beginnt das Tabakpflänzchen, einzelne Gene umzuschalten. Nach fünf Stunden ist es in der Lage, giftige Abwehrstoffe zu produzieren. Bei einem normalen Angreifer würde der Tabak jetzt Nikotin herstellen, ein Nervengift, das den meisten Schädlingen den Garaus macht. Nicht jedoch dem Tabakschwärmer, den die Pflanze an seinem Speichel erkennt: Der Tabak weiß, dass dieser Raupe das Nikotin nichts anhaben kann. Also bleibt der Pflanze nichts anderes übrig, als verdauungsstörende Proteine zu bilden – und sich auf ihre Alliierten zu verlassen. Doch dafür muss sie erst einmal weitere Signalstoffe produzieren.

Zehn Stunden nach dem Angriff ist es so weit: Jetzt schreit die Tabakpflanze mit maximaler Lautstärke um Hilfe. Sie sendet einen Cocktail von Duftstoffen aus, der bestimmte Wespenarten unwiderstehlich anlockt.

Aus gutem Grund haben die Forscher den weiten Weg vom thüringischen Jena in die Wüste Utahs auf sich genommen. Der Wilde Tabak ist einer der mitteilsamsten Vertreter des gesamten Pflanzenreichs und damit ein besonders ergiebiges Forschungsobjekt.

Mehr als 100 Jahre können Tabaksamen im vertrockneten Wüstenboden auf einen Blitzschlag warten, der die ausgedörrte Landschaft in Brand setzt. Als Brandkeimer brauchen die Samen dicke Rauchschwaden, um zu keimen. Nach einem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf kann das junge Pflänzchen natürlich nicht wissen, welcher Feind darauf wartet, sich auf die zarten Blättchen zu stürzen. Deshalb hat die Pflanze ein flexibles Abwehrsystem entwickelt.

Dazu gehört ihr ausgeprägtes Kommunikationsvermögen: die Fähigkeit, unterschiedlichste Verbündete herbeizurufen. Es ist ein ausgeklügeltes System, das die Tabakpflanze im Verteidigungsfall viel Energie kostet – Energie, die nicht mehr für Wachstum und Fortpflanzung zur Verfügung steht. Um im Laufe der Zeit nicht wegen Energieverschwendung auszusterben, braucht das Gewächs starke Nerven: Nicht jedes Mal, wenn ein Hagelkorn ein Blatt durchschlägt oder ein Kojote ein Zweigchen abknickt, darf es Alarm schlagen. Der Tabak musste lernen, seinen Angreifer zu erkennen und dessen Gefährlichkeit einzuschätzen.

Wie gut er dazu in der Lage ist, stellten soeben Baldwins Jenaer Max-Planck-Kollegen aus der Abteilung für Bioorganische Chemie fest. Wilhelm Boland und sein Team erforschten, wie Pflanzen Schädlinge erkennen. Dazu versuchten die Forscher zunächst, die Pflanzen im Labor zum Schreien zu bringen: Sie ritzten sie mit einer Rasierklinge an, zerquetschten die Blätter mit einer Pinzette oder zerschnippelten sie mit einer Schere. Nichts half, die Pflanzen blieben stumm. Bis die Jenaer Forscher einen Schritt weiter gingen bei ihrem Versuch, einen Raupenangriff vorzutäuschen: Sie konstruierten die künstliche Raupe MecWorm. „MecWorm imitiert den Fraßvorgang eines Insekts über Stunden hinweg“, erklärt Boland. Und tatsächlich gelang es dem mechanischen Raupen-Imitator, den traktierten Gewächsen die ersten Hilfeschreie zu entlocken. Freilich andere als diejenigen, die eine echte Raupe auslöst: Vor allem zeigte sich, dass die unechten Hilferufe nicht in der Lage waren, Alliierte herbeizulocken. Dies gelang erst, als die Wissenschaftler den Pflanzen noch eine weitere Information zur Verfügung stellten: Raupenspeichel. MecWorm gibt ihn neuerdings beim Kauen in die Wunde ab, ebenso wie das echte Raupen tun würden.

Die Tabakpflanze verwertet also zwei Informationen: Der Kauvorgang sagt ihr, dass ein schädliches Insekt am Werk ist. Stoffe im Speichel, die in die Fraßwunden gelangen, verraten außerdem, um welche Art von Schädling es sich handelt. „So kann der SOS-Ruf bis zu einem gewissen Ausmaß gezielt abgesandt werden“ , erklärt Boland. „Die Pflanze ist jedoch nicht in der Lage, einen ganz bestimmten Alliierten zu rufen und ihm genau mitzuteilen, welcher Schädling sie gerade angreift.“

Die Entscheidung, ob es sich lohnt, zu Hilfe zu eilen, treffen die potenziellen Retter: parasitische Wespenweibchen. Sie legen ihre Eier in die Raupen anderer Insekten. Die daraus schlüpfenden Larven fressen die Raupe von innen auf, bevor sie als ausgewachsene Wespen ein Loch in die Raupenhaut bohren. Für ihre „ Kleinen“ wollen Wespenmütter nur das Beste. Sie deponieren ihre Eier nicht in jeder Raupe – es müssen schon ganz bestimmte sein. Und die nagen meist an ganz bestimmten Wirtspflanzen. „Wie diese passende Wirtspflanze ‚klingt‘, lernen junge Wespenweibchen schnell“, erklärt Baldwin. „Es genügt, dass sie einmal auf die Raupe stoßen und dabei zufällig die SOS-Duftstoffe der Wirtspflanze wahrnehmen – schon merken sie sich den Zusammenhang.“

Dieses Wissen festigt sich mit jeder erfolgreichen Eiablage. Bei einigen Insekten ließ sich bereits nachweisen, dass sich die Empfindlichkeit ihrer Riechorgane von Mal zu Mal erhöht, sodass sie die Duftstoffe der passenden Wirtspflanze immer besser wahrnehmen können, und dies über viele Kilometer hinweg. Um einen Duft in dieser Verdünnung noch riechen zu können, brauchen die Insekten Riechorgane, die 100 Mal sensibler sind als die Nase des Menschen. „Diese Duftrezeptoren sind über den ganzen Körper verteilt“, erklärt Baldwin. Selbst einzelne Moleküle können die Tiere damit wahrnehmen. Ein Kollege Baldwins, Bill Hanson, der am Max-Planck-Institut den Geruchssinn von Insekten erforscht, veranschaulicht das so: „Es ist, als ob man ein Pfund Zucker in die Ostsee schütten würde – und Sie das herausschmecken könnten.“

Leider sind hilfsbereite Alliierte nicht die Einzigen mit einem so feinen „Näschen“. „Durch den Hilfeschrei macht sich die Pflanze auch für Feinde bemerkbar“, sagt Boland. Andere hungrige Raupen wissen jetzt genau, wo es etwas Leckeres zu fressen gibt, und machen sich auf den Weg. So bleibt der Hilferuf immer eine heikle Risiko-Nutzen-Abwägung: Wer wird zuerst da sein – Freund oder Feind?

Das Risiko trägt nicht nur die um Hilfe rufende Pflanze. Auch die Nachbarn sind in Gefahr. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als permanent zu lauschen, sprich: die Signalmoleküle ihrer Gefährten aufzufangen und zu entschlüsseln. Denn nur diejenigen Pflanzen, die sich umhören und in der Nachbarschaft spionieren, erfahren rechtzeitig, wenn Gefahr droht.

Bei Alarm bereiten sie sich darauf vor, für die Abwehr wichtige Gene hochzufahren. Derart gewappnet, können sie schnell reagieren, sollte sich eine gefräßige Raupe bei ihnen zeigen. Und sie können weitere tierische Helfer rufen: Ameisen. „Viele Pflanzen sondern süßen Nektar ab, der Ameisen anlockt. Und die verteidigen ihre Nahrungsquelle verbissen gegen jeden Angreifer“, sagt Boland.

Wie wichtig die Spionage beim Nachbarn ist, stellten die Jenaer Forscher fest, als sie Tabakpflänzchen heranzüchteten, denen die Gene zum Verstehen der Pflanzensprache fehlen. Als sie die tauben Gewächse in Utah zwischen ihren wild gewachsenen Artgenossen auspflanzten, wurden diese innerhalb weniger Tage von Schädlingen förmlich überrannt – ebenso wie gentechnisch erzeugte „stumme“ Pflanzen, die nicht mehr in der Lage waren, um Hilfe zu rufen.

Stumm, ganz ohne Gentechnik, sind heute auch viele Nutzpflanzen: Mais, Tomate, Baumwolle und andere. Sie wurden gezüchtet, um möglichst viel Ertrag zu bringen, nicht um möglichst gut mit verbündeten Insekten kommunizieren zu können. So kann etwa eine wilde Baumwollpflanze 10 Mal mehr Duftstoffe abgeben als ihre domestizierte Verwandte. Da bei den Zuchtpflanzen die Insekten als natürliche Leibwächter wegfallen, muss der Mensch diese Aufgabe übernehmen – mit Pestiziden.

Hier hofft Baldwin eines Tages einen Ausweg zu finden: Wenn die Forscher die Sprache der Pflanzen erst einmal verstanden haben, können sie vielleicht auch den Nutzpflanzen wieder das Sprechen beibringen. ■

Nadine Eckert ist Diplom- Biologin. Sie hat die sprechenden Tabakpflanzen bei einem Praktikum am Jenaer MPI selbst kennengelernt.

Nadine Eckert

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Nach der Raupenattacke unternimmt die Tabakpflanze (links unten) zweierlei, um den Schädling zu besiegen: Sie ruft mit Duftstoffen parasitische Wespen zu Hilfe (oberer Signalweg). Gleichzeitig produziert sie Abwehrstoffe (unterer Signalweg): Gegen die Raupe des Tabakschwärmers wirken verdauungsstörende Proteine.

COMMUNITY Internet

Das Jenaer Max-Planck-Institut, in dem Ian Baldwin und Wilhelm Boland forschen (und wo auch MecWorm zu Hause ist):

www.ice.mpg.de/main/home/ home_de.htm

Info-Seite der Stiftung Warentest zu sekundären Pflanzenstoffen:

www.stiftung-warentest.de/online/essen_trinken/special/ 1132610/1132610/1132631.html

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· Mit Duftstoffen kann eine Pflanze ähnlich gut kommunizieren wie ein Tier mit Rufen.

· Hilfreiche Insekten deuten die Botenstoffe der Pflanzen – ein Molekül reicht.

· Die Pflanzen „belauschen“ sich gegenseitig, um Gefahren früh zu erkennen.

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