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Urknall auf Erden

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Urknall auf Erden
Gott-Teilchen, Schattenmaterie und Schwarze Minilöcher: Was sich Teilchenphysiker vom neuen Teilchenbeschleuniger bei Genf erhoffen – und was sie befürchten.

Je tiefer die Physiker ins Reich des Allerkleinsten vordringen wollen, desto größer werden die Maschinen, die sie dafür brauchen. Jüngstes Beispiel ist der Large Hadron Collider (LHC), der zurzeit unter der französisch-schweizerischen Grenze bei Genf fertiggestellt wird. In diesem bald leistungsfähigsten Teilchenbeschleuniger der Welt – Umfang des unterirdischen Rings: 26,66 Kilometer – werden Protonen (Wasserstoff-Kerne) oder Blei-Atomkerne mit über 99,9 Prozent der Lichtgeschwindigkeit aufeinanderprallen. Dabei werden Energien konzentriert wie eine Billionstel Sekunde nach dem Urknall.

Während Techniker, Ingenieure und Experimentalphysiker eifrig dabei sind, die einzigartige Erkenntnismaschine für den nun im Mai 2008 geplanten Start vorzubereiten, arbeiten Experimentelle und Theoretische Physiker mit Hochdruck an Computersimulationen der prognostizierten Messdaten und an Voraussagen ihrer spekulativen Theorien. Vor allem aber harren sie auf die Entdeckung völlig unerwarteter Phänomene, die ihr etabliertes Weltbild erschüttern könnten.

„Das aufregendste, das der LHC entdecken könnte, ist etwas, das wir nicht voraussagen können“, sagt Alvaro De Rujula, Theoretischer Physiker am CERN. JoAnne Hewett vom Stanford Linear Accelerator Center im kalifornischen Menlo Park beschreibt die gegenwärtige Stimmung: „Wir sind wie Kinder, die auf Weihnachten warten.“ Auf dem Wunschzettel der Physiker stehen unter anderem: der Nachweis des lang gesuchten Higgs-Teilchens (oder gleich mehrerer davon), die Erzeugung von supersymmetrischer Schattenmaterie und vielleicht sogar von Schwarzen Minilöchern, die das Tor zu neuen Dimensionen aufstoßen würden.

Zunächst geht es darum, das „Standardmodell der Elementarteilchen“ zu vervollständigen. So heißt die grundlegende Theorie über die Grundbausteine der Materie. Ihr zufolge bestehen Protonen und Neutronen aus Quarks – und somit auch alle Atomkerne. Außerdem gibt es Leptonen („leichte Teilchen“), zu denen das Elektron gehört. Hinzu kommen die Teilchen, die die Wechselwirkungen – das heißt Naturkräfte – übertragen. Sie werden Bosonen genannt.

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Eigentlich entspricht das Standardmodell der Elementarteilchen dem Wissensstand der Physiker in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Die großen Beschleuniger, die danach gebaut wurden, haben es mit erstaunlicher Präzision bestätigt. Alle prognostizierten Partikel sind den Forschern nach und nach ins Netz ihrer raffinierten Detektoren gegangen, und zwar mit den vorhergesagten Eigenschaften: zum Beispiel 1979 die Gluonen, die der Starken Kraft zugrunde liegen (sie hält die Atomkerne zusammen), 1983 die W- und Z-Bosonen, die die Schwache Kraft vermitteln (sie erzeugt den radioaktiven Beta-Zerfall), 1975 und 1976 das Charm- und das Bottom-Quark und zuletzt 1995 nach der Analyse von vier Billionen Proton-Antiproton-Kollisionen das Top-Quark.

Nur ein Baustein fehlt noch: ein Teilchen, das Peter Ward Higgs von der University of Edinburgh 1964 vorausgesagt hatte, um mit ihm zu erklären, wie die Elementarteilchen zu ihrer Masse kommen. Der Physik-Nobelpreisträger Leon Lederman bezeichnete es augenzwinkernd als „Gott-Teilchen“, weil es gewissermaßen die wichtigste Eigenschaft der Materie erschafft, ihre Masse. Die Physiker nennen es Peter Higgs zu Ehren Higgs-Teilchen. Falls es existiert, wird es am LHC gefunden werden, sind die meisten Physiker überzeugt. So auch Thomas Müller, Physik-Professor an der Universität Karlsruhe: „Ich habe schon einigen Kollegen eine Wette über ein volles Monatsgehalt angeboten. Aber es wollte bislang keiner dagegen halten. Das Angebot gilt noch.“

Bis der LHC 2008 seinen Betrieb aufnimmt und etwa ein Jahr später seine geplante Energie erreicht, arbeitet die Konkurrenz am Fermi National Accelerator Laboratory (Fermilab) in Batavia, Illinois, auf Hochtouren. Denn noch ist das Tevatron dort mit 6,3 Kilometer Umfang der stärkste Teilchenbeschleuniger. In ihm kollidieren Protonen und Antiprotonen mit einer Energie von 1,96 Teraelektronenvolt. 1995 wurde am Tevatron das Top-Quark entdeckt, dessen Masse vor wenigen Monaten auf rund ein Prozent genau bestimmt werden konnte. Das ist ein wichtiger Schritt zur Entdeckung des Higgs-Teilchens, dessen Masse von der des Top-Quarks und des W-Bosons abhängt (siehe Grafik „Das Massentrio: Top-Quark, W-Boson und Higgs-Partikel“).

Womöglich hat das Fermilab auch bei der Entdeckung des Higgs die Nase vorn, selbst wenn sich dieses erst am LHC richtig charakterisieren lässt. Als John Conway von der University of California in Davis in den Fermilab-Daten nach Spuren des Higgs-Zerfalls in zwei Tau-Leptonen – massereichen Verwandten des Elektrons – und nach deren Zerfallsprodukten suchte, fand er einen interessanten Hinweis bei 160 Gigaelektronenvolt. In seinem Blog im Internet wertete er ihn im Dezember 2006 als denkbares Indiz für ein Higgs-Teilchen – was einigen Presserummel auslöste. Conway betonte allerdings, dass die Nachweiswahrscheinlichkeit noch weit unter den Standards der Elementarteilchenphysik liegt. Wie schon oft in deren Geschichte könnte es sich also um blanken Zufall, einen Messfehler oder eine falsche Signalrekonstruktion im Detektor handeln. So gab es Mitte der Neunzigerjahre eine Higgs-„Entdeckung“ bei 85 Gigaelektronenvolt, die sich bald im statistischen Staub auflöste.

Im März 2007 zog Tommaso Dorigo von der Universität Padua mit einem weiteren Higgs-Indiz nach. Er hatte einen anderen Datensatz mit anderen Zerfällen analysiert und ebenfalls einen Hinweis bei 160 Gigaelektronenvolt gefunden.

Auch diese Nachricht verbreitete sich im Internet rasend schnell. Wissenschaftssoziologen vermuten bereits, dass künftig große Entdeckungen nicht mehr über Fachzeitschriften oder Pressekonferenzen bekannt gegeben werden, sondern in Blogs. Vielleicht wird das Higgs-Teilchen das erste prominente Beispiel dafür sein.

„Die gezeigten Daten würde man normalerweise nur achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Aber in dieser angeheizten Atmosphäre gehen da schon mal die Gäule durch“, kommentiert Thomas Müller die Euphorie mancher Kollegen. „Mit einer doppelt so großen Datenmenge werden wir das alles besser verstehen – wahrscheinlich schon Ende des Jahres.“ Er kann das Wettrennen zwischen Fermilab und LHC entspannt sehen, denn mit seinem Team an der Universität Karlsruhe forscht der Mitentdecker des Top-Quarks seit zwölf Jahren am Fermilab und ist auch am Bau des Riesendetektors CMS (Compact Muon Solenoid) des LHC beteiligt, der die 200-fache Leistung des Fermilab haben wird. „Mein Herz schlägt natürlich für den Beschleuniger in Europa“, gibt Müller zu.

„Wenn das masseschaffende Partikel im vermuteten Energiebereich um 120 Gigaelektronenvolt existiert, wird der LHC es sehr wahrscheinlich spätestens 2011 nachgewiesen haben“, ist Müller überzeugt. Die Detektion dauert so lange, weil sie sehr aufwendig ist: Bei rund zehn Billionen Teilchenkollisionen entsteht statistisch nur ein einziges Higgs. Wenn der LHC auf Hochtouren läuft, sind das selbst bei 800 Millionen Kollisionen in jeder Sekunde nur wenige Higgs-Partikel pro Tag.

Würde das Higgs-Teilchen vom LHC jedoch nicht erhascht, käme das Standardmodell in eine schwere Krise. Denn es könnte nicht mehr erklären, warum Elementarteilchen eine Masse haben. Zugleich wäre für die Physiker rätselhaft, weshalb das Standardmodell so viele andere Messungen sehr exakt beschreibt. „Grundlegenden Berechnungen zufolge müssten dann als Alternative zur Existenz von Higgs-Bosonen neue Phänomene bei Energien um 1000 Gigaelektronenvolt auftreten. Aller Voraussicht nach würden sie am LHC beobachtet werden“, sagt Müller.

Ein Problem für den physikalischen Fortschritt ist es, dass es in den letzten 20 Jahren keine einzige Überraschung gegeben hat – abgesehen von der Erkenntnis, dass die geisterhaften Neutrinos, die wie die Elektronen zu den Leptonen zählen, nicht masselos sind, sondern eine geringe Masse besitzen und sich ineinander umwandeln können. Diese Neutrino-Eigenschaften sagt das Standardmodell nicht voraus, aber sie sind mit ihm vereinbar. Allerdings machen sie es durch die Einführung von sechs neuen Parametern noch unübersichtlicher. Überhaupt ist das Standardmodell mit insgesamt 26 nur experimentell bestimmbaren – also nicht ableitbaren – Parametern für die Theoretiker viel zu kompliziert. Denn es erklärt zahlreiche Phänomene nicht: etwa die Verwandtschaft und Masse der 24 bekannten Elementarteilchen, die Stärke und den Zusammenhang der Naturkräfte, die Eigenschaften der kräfteübertragenden Partikel und den milliardenfachen Überschuss der Materie gegenüber der Antimaterie im Universum. Deshalb warten die Teilchenphysiker gespannt auf Anzeichen einer neuen Physik jenseits des Standardmodells.

Wenn der LHC das Higgs-Teilchen nicht fände, müssten die Wissenschaftler zurück zu den Wurzeln und vieles neu durchdenken. Denn das Standardmodell ist nicht ein Mosaik, in dem sich beliebige Steinchen austauschen lassen, sondern eine grazile Architektonik, die zusammenstürzen könnte, wenn ein tragender Baustein wegbricht. Wie sich diese Architektonik stützen oder womöglich ersetzen ließe, ohne dass die Erfolge des Standardmodells verloren gehen, ist völlig unklar. „Es müsste andere Prozesse geben, die den Partikeln ihre Masse verleihen“, sagt Thomas Müller. „Die Entdeckung solcher Vorgänge würde die Teilchenphysik revolutionieren.“

Gravierende Folgen hätte es auch, wenn der LHC weder das Higgs noch sonst etwas Neues aufspüren würde: Aus den Krisen von Theorien sind schon oft neue, erfolgreichere Theorien entstanden und falsche Annahmen über Bord geworfen worden.

Der weitaus ungünstigste Fall für die Zukunft der Teilchenphysik wäre es, wenn der LHC das Higgs-Partikel im vorhergesagten Energiebereich aufspüren würde – und sonst überhaupt nichts Neues. Welche Richtung sollte die Forschung dann nehmen? Außerdem befürchten die Teilchenphysiker, dass dann kaum noch die Bereitschaft bestünde, Milliardensummen in den Bau von Geräten zu investieren, die womöglich nicht mehr leisten, als ein paar Parameter einige Stellen hinter dem Komma genauer zu bestimmen.

In den letzten Jahrzehnten haben überwiegend Experimente die Hochenergie-Teilchenphysik vorangetrieben – neue Entdeckungen und die Versuche, Voraussagen zu bestätigen oder zu widerlegen. So kam es in den Sechzigerjahren zu einer außerordentlich verwirrenden Situation: einem „Teilchenzoo“ aus über 200 Partikeln. Das änderte sich erst, als das Standardmodell aufgestellt wurde, das die unübersichtliche Vielfalt mit Symmetrieprinzipien bändigte.

Wie sich herausstellte, sind die meisten Partikel nur aus wenigen Elementarteilchen zusammengesetzt. Aber es sind immer noch zu viele, um die Physiker zufriedenzustellen, die nach fundamentaler Einfachheit und sparsamen Erklärungen suchen.

Und so entwickelten sie, überwiegend von mathematischen Erwägungen geleitet, grundlegendere Prinzipien und Theorien, um damit das Standardmodell auf eine tiefere Basis zu stellen und viele seiner Eigenschaften verständlich zu machen. Diese tiefgreifenden Theorien soll der LHC nun überprüfen. Das ist mindestens so wichtig wie die Entdeckung des Higgs-Teilchens.

Die wichtigsten (teils aufeinander aufbauenden) neuen Ansätze, die der LHC im Visier hat, sind:

· Vereinheitlichung der Wechselwirkungen: Die vier bekannten Naturkräfte waren im Urknall wahrscheinlich in einer Superkraft vereinigt und haben sich erst nach und nach aufgespalten. Das Standardmodell beschreibt sie hingegen getrennt – die Schwerkraft wird sogar ignoriert. • Stringtheorie: Sie ist das am weitesten entwickelte Beispiel für eine „Weltformel“ oder Quantengravitationstheorie. Sie beschreibt die Elementarteilchen nicht als punktförmige Partikel, sondern als Anregungszustände eindimensionaler schwingender Saiten (Strings) oder mehrdimensionaler Objekte, Branen genannt. Dies funktioniert aber nur, wenn es neben den drei bekannten Raumdimensionen (Höhe, Breite, Länge) noch sechs oder sieben weitere Dimensionen gibt. Diese Extradimensionen sind winzig (tatsächlich die Dimensionen selbst, nicht nur die Dinge in ihnen!) und daher bislang nicht zu beobachten. Das übersteigt die Vorstellungskraft des Alltagsverstands, lässt sich aber mit einem Gartenschlauch vergleichen: Aus der Ferne erscheint er als quasi eindimensionaler Strich, was einer großen, normalen Dimension entspricht; aber an jedem Punkt des Strichs sitzt gewissermaßen ein Kreis, was zwei zusätzlichen, „aufgerollten“ Dimensionen entspricht.

· Supersymmetrie (SUSY): Diese wichtige gemeinsame Eigenschaft aller Versionen einer Großen Vereinheitlichten Theorie und Stringtheorie nimmt an, dass jedes Elementarteilchen ein bislang unentdecktes Partnerteilchen besitzt. Das leichteste dieser SUSY-Teilchen wäre stabil – und der ideale Kandidat für die ominöse Dunkle Materie, die nicht leuchtet, sich aber durch ihre Schwerkraft in und um Galaxien und Galaxienhaufen bemerkbar macht und die gewöhnliche Materie an Masse im Universum um das Sechsfache übertrifft. Dutzende von Experimenten suchen seit Jahren nach den Bestandteilen der Dunklen Materie – bislang ohne Erfolg. Doch wenn es sie wirklich gibt und sie SUSY-Partikel sind, dann stehen die Chancen gut, dass sie am LHC erzeugt und auch nachgewiesen werden können. Das würde das Tor zu einer ganz neuen Welt aufstoßen und wäre eine triumphale Bestätigung für die Supersymmetrie – und vielleicht auch für die Stringtheorie. SUSY-Modelle sagen übrigens nicht ein einziges Higgs-Teilchen voraus, sondern mindestens fünf davon. Und wenn an den Higgs-Hinweisen vom Tevatron etwas dran ist, dann wäre das dort aufgespürte Teilchen wohl nicht das des Standardmodells, sondern ein supersymmetrisches.

Noch spekulativer – aber umso sensationeller – ist die Möglichkeit, im LHC Schwarze Löcher zu erzeugen. Astronomen kennen solche extremen Schwerkraftschlünde als einige Kilometer große Relikte ausgebrannter Sterne und als Materiestrudel im Zentrum von Galaxien. Doch auch viel kleinere Massekonzentrationen sind denkbar, wenn sich nur genug Materie oder Energie auf einem hinreichend kleinen Raumvolumen konzentriert. Könnte man die gesamte Erde zu einem Schwarzen Loch verdichten, hätte dieses einen Durchmesser von gerade 18 Millimetern.

Doch das ist immer noch riesig im Vergleich zu den Schwarzen Minilöchern, die theoretisch im LHC erzeugt werden können. Sie wären kleiner als ein Tausendstel des Protonen-Durchmessers und hätten die Masse von vielleicht 5000 dieser Kernteilchen. Entstehen könnten sie freilich nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen: wenn von den sechs oder sieben Extradimensionen, deren Existenz die Stringtheorie postuliert, mindestens zwei relativ groß sind. „Groß“ heißt: zwischen einem Billiardstel Meter bis zu einem Zehntel Millimeter – das ist gigantisch im Vergleich zur typischen Stringlänge von etwa 10–34 Meter. Bei diesen Distanzen, der Größe der Extradimensionen, würde die Schwerkraft stärker sein, als es Isaac Newtons Gravitationsgesetz besagt. Deshalb könnte bei einer Teilchenkollision im LHC tatsächlich so viel Masse oder Energie komprimiert werden, dass sich daraus ein Schwarzes Miniloch bildet. Das haben Greg Landsberg von der Brown University in Providence, Rhode Island, und mehrere andere Physiker bereits 2001 berechnet.

Ihre Abschätzungen ergaben, dass der LHC bei mindestens zwei großen Extradimensionen ein Schwarzes Miniloch pro Tag – oder im günstigen Fall sogar pro Sekunde – erschaffen könnte. Und Marcus Bleicher von der Universität Frankfurt am Main hat berechnet, dass bei sieben jeweils mindestens ein Billiardstel Millimeter großen Extradimensionen bis zu eine Milliarde Schwarze Minilöcher pro Jahr im LHC entstehen könnten.

Für die Boulevard-Medien war dies vor ein paar Monaten ein willkommener Anlass, den Weltuntergang zu beschwören: Die im LHC erzeugten Schwarzen Löcher würden die Erde auffressen. Auch die sonst seriöse Lifeboat Foundation, die das Ziel hat, das Überleben der Menschheit zu schützen, verbreitet solche Befürchtungen. „Das Risiko ist vollkommen zu vernachlässigen“, entgegnet Landsberg. Niemand brauche zu befürchten, dass Schwarze Minilöcher die Erde verschlingen. Dafür gibt es mehrere gute Gründe: • Schon Mitte der Siebziger Jahre hatte Stephen Hawking gezeigt, dass Schwarze Löcher nicht vollkommen schwarz sind, sondern aufgrund von Quanteneffekten Strahlung abgeben – und zwar umso mehr, je geringer ihre Masse ist. Die potenziellen Minilöcher im LHC würden daher binnen 10–33 Sekunden verdampfen. „ Das ist viel zu schnell, um davor eine signifikante Menge von Materie verschlingen zu können“, sagt Landsberg. Im Übrigen kann die Zerstrahlung nicht durch „Nahrungsaufnahme“ verhindert werden. Sabine Hossenfelder vom Perimeter-Institut für Theoretische Physik im kanadischen Waterloo hat berechnet, dass die Minilöcher eine Billion Mal schneller Masse verschlingen müssten, um zu überleben, als es nach den Naturgesetzen möglich ist.

• Selbst wenn Hawkings Hypothese falsch ist und Schwarze Minilöcher stabil wären, bestünde kein Grund zur Besorgnis. Denn sie würden gar nicht im LHC oder in der Erde bleiben, sondern aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit rasch ins All verschwinden. „ Selbst wenn man zehn Millionen Schwarze Minilöcher pro Jahr erzeugen könnte, würden nur etwa zehn in der Erde gefangen bleiben und deren Zentrum umkreisen“, schätzt Landsberg.

• Aber auch sie wären keine Gefahr. Denn sie wären so klein, dass sie einen Eisenblock von astronomischer Größe, der den Abstand zwischen Erde und Mond ausfüllt, mühelos durchdringen könnten, ohne mit irgendetwas zu kollidieren. Ein Miniloch bräuchte 100 Stunden, um ein einziges Proton zu treffen und zu verschlucken. Dadurch verringert sich die Geschwindigkeit des Minilochs und eine weitere Kollision wird noch unwahrscheinlicher. Aber selbst wenn man dies nicht berücksichtigt, könnte das Miniloch allenfalls 100 Protonen pro Jahr verschlingen. „Somit würde es viel länger dauern, als unser Universum alt ist, bis selbst ein einziges Milligramm der Erde zerstört wäre“, folgert Landsberg.

• Der überzeugendste Grund: Die kosmische Strahlung, die ständig aus dem All auf die Erde trifft und aus fast lichtschnellen Elektronen, Protonen und Atomkernen sowie aus Gammaquanten besteht, ist viel energiereicher als die Energie der Teilchenkollisionen, die der LHC erzeugen kann oder jeder Teilchenbeschleuniger in absehbarer Zeit. Wenn sich Schwarze Minilöcher also bei Partikel-Kollisionen bilden können, dann geschieht dies nicht erst im LHC, sondern seit Jahrmilliarden ständig in der Erdatmosphäre – ohne dass es unseren Planeten weiter berührt.

Die Erschaffung Schwarzer Mini-Löcher wäre also keine Gefahr für die Erde, sondern im Gegenteil ein Highlight der Physik. Und sie würde sogar die Jagd nach dem Higgs beflügeln. „Wenn sich Schwarze Minilöcher erzeugen lassen, müssen sich dabei auch Higgs-Teilchen bilden“, sagt Jack Smith von der Stony Brook University in New York. Zusammen mit dem Physiker Gouranga Nayak hat er ausgerechnet, dass laut bestimmten Modellen der Stringtheorie bei sehr hohen Energien – wenigen Teraelektronenvolt – sogar mehr Higgs-Bosonen in der Hawking-Strahlung der Schwarzen Minilöcher entstehen müssten als bei den normalen Teilchen-Kollisionen im LHC gemäß dem Standardmodell.

Entstehen die Minilöcher schon bei relativ niedrigen Energien in großen Mengen, dann sind sie womöglich die einzigen im LHC nachweisbaren Higgs-Quellen – eine sehr spekulative, aber faszinierende Möglichkeit. „Das wäre die Entdeckung des Jahrhunderts“, sagt Ben Allanach von der University of Cambridge. „Ein Schwarzes Miniloch zu erzeugen und in den Trümmern das Higgs zu finden – dies wäre, als würde man zum ersten Mal Amerika betreten und erstaunt feststellen, dass dort Gänseblümchen wachsen.“ ■

Rüdiger Vaas

Ohne Titel

Wandel der Zeiten: Immer mehr Menschen müssen an immer größeren Geräten zusammenarbeiten, damit bahnbrechende Entdeckungen gelingen. Inzwischen sind Hunderte von Forschern an einem einzigen Experiment beteiligt – und damit auch an neuen Entdeckungen. Das wird bei der künftigen Vergabe von Nobelpreisen zum Problem, denn einzelne Wissenschaftler lassen sich dann kaum noch auszeichnen.

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Der „heilige Gral“ der Teilchenphysik ist die Suche nach dem Higgs-Partikel, das der Materie ihre Masse verleiht. Seine eigene noch unbekannte Masse wird für seine Entdeckung ausschlaggebend sein. Physiker versuchen zurzeit, sie indirekt zu erschließen. Denn die Massen zweier anderer kurzlebiger Teilchen – des Top-Quarks und des W-Bosons – hängen mit der des Higgs-Teilchens zusammen. Die Massen von Top und W wurden inzwischen durch Messungen vom Large Electron Positron Collider (LEP) am CERN, vom SLAC Large Detector (SLD) am Stanford Linear Accelerator Center (SLAC) und vom Tevatron am Fermilab auf wenige Prozent genau bestimmt. Damit ergibt sich aus der Elementarteilchentheorie für das Higgs-Teilchen eine wahrscheinlichste Masse um 80 Gigaelektronenvolt. Die experimentelle Untergrenze von LEP beträgt dagegen etwa 114 Gigaelektronenvolt. Die aktuelle theoretische Obergrenze für die Higgs-Masse liegt bei 153 Gigaelektronenvolt (mit einer Wahrscheinlichkeit von 68 Prozent). Der neue Large Hadron Collider am CERN wird das Higgs-Partikel finden, falls es existiert. Er könnte noch Higgs-Massen von über 1000 Gigaelektronenvolt aufspüren.

Ohne Titel

· Die wichtigste Aufgabe für den neuen Teilchenbeschleuniger bei Genf ist die Suche nach Partikeln und Phänomenen jenseits der bekannten Theorie der Materie.

· Wenn das Higgs-Teilchen, dass die Massen der Elementarteilchen erzeugt, nicht entdeckt würde, hätte das für die Physik viel gravierendere Folgen als sein Nachweis.

· Selbst Schwarze Minilöcher könnten unter Genf erzeugt werden – aber nur, wenn es mehr als die drei Raumdimensionen unserer Alltagswelt gibt.

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