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Die Früchte reifen

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Die Früchte reifen
Seit sieben Jahren kennen Wissenschaftler die Buchstabenreihe des menschlichen Genoms. Doch erst allmählich lernen sie, den Text zu verstehen. Jetzt gibt es erste Erfolge des Humangenom-Projekts: Diagnose-Chips auf Genom-Basis.

Am 26. Juni 2000 bejubelten Genomforscher auf der ganzen Welt die Nachricht, die Erbsubstanz des Menschen sei entschlüsselt: eine Sequenz aus drei Milliarden DNA-Bausteinen, den vier Basen Thymin, Adenin, Cytosin und Guanin. Sie liest sich wie ein drei Milliarden Buchstaben langer Text aus lauter T, A, C und G. „Mir laufen Schauer den Rücken herunter, wenn ich den Grundriss unseres Erbguts sehe“, kommentierte der amerikanische Medizin-Nobelpreisträger David Baltimore den lange ersehnten Durchbruch.

Zwar war diese erste Version der Humangenom-Sequenz weder fehlerfrei noch vollständig, und die Forscher konnten auch deren biologische Funktion in großen Teilen nicht deuten. Dennoch hieß es, bald würden neue Medikamente entwickelt, sei der Krebs besiegt und die Ursachen von Zivilisationskrankheiten geklärt. Was ist daraus geworden?

„In der Klinik gibt es noch kein wirklich genombasiertes Medikament“, sagt Wolf-Dieter Ludwig, Professor für Hämatologie und Onkologie an der Robert-Rössle-Klinik der Charité in Berlin und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Nicht ganz so strenge Kriterien legt seine Kollegin Annemarie Poustka an. Die Leiterin der Abteilung für Molekulare Genomanalyse am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg betont: Die Anti-Tumor-Wirkstoffe von Medikamenten wie Herceptin und Glivec seien zwar nicht auf der Basis der Genomforschung entdeckt worden, aber ohne Genomforschung hätte man sie sicher nicht so schnell entwickeln können.

Weltweit suchen Forscher an Instituten und in Pharmalabors in den Genomdaten nach den genetischen Bauplänen für krankmachende Proteine. Sie sind die Angriffspunkte (im Arzt-Jargon: Targets) fast aller Medikamente. Allerdings können Arznei-Wirkstoffe bisher lediglich 500 verschiedene menschliche Proteine beeinflussen, weshalb die Forscher intensiv nach neuen Targets suchen. Einige Kandidaten haben sie schon gefunden.

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Dennoch werde man „noch mindestens fünf Jahre auf das erste genombasierte Arzneimittel warten müssen“, sagt Gerhard Siemeister, der in der Krebsforschung bei der Firma Bayer Schering Pharma in Berlin arbeitet. Denn in der Pharmaindustrie dauert der Zyklus von der Idee zum Produkt zwischen 10 und 12 Jahren. Etwa die Hälfte benötigt man für die klinische Erprobung neuer Wirkstoffe am Patienten.

Am dichtesten dran an neuen Therapien sind die Impfstoff-Hersteller. Sie haben begonnen, die Genome von Krankheitserregern systematisch nach Bauanleitungen für solche Proteine zu durchsuchen, die beim Menschen eine Immunantwort auslösen. „Mit den Genomsequenzen kann man eine umfassende Analyse der Krankheitserreger vornehmen und so schneller Impfstoffkandidaten identifizieren“, sagt Andreas Meinke von der Intercell AG in Wien. Die Biotech-Firma hat bereits die Lizenz für einen Impfstoff gegen den gefürchteten Erreger Staphylococcus aureus, der Blutvergiftungen auslöst und gegen viele Antibiotika resistent ist, an die Firma Merck verkauft, die ihn derzeit an Patienten prüft. Und Novartis testet einen Impfstoff gegen Meningococcus B, der gefährliche Hirnhautentzündungen hervorruft.

Während diese Wirkstoffe noch in der Testphase sind, werden genombasierte Diagnostika bereits klinisch eingesetzt. Dazu gehören Verfahren, mit denen sich Mutationen in zwei Genen aufspüren lassen, die das Brustkrebs-Risiko erhöhen. Die US-Firma Genomic Health verkauft für rund 3000 Dollar einen Test namens Oncotype DX. Aus seinen Daten kann man abschätzen, wie hoch das Risiko ist, dass der Brustkrebs nach der Behandlung wieder auftritt. Noch vor Ende 2008 will die isländische Genomfirma deCODE Genetics weitere zehn DNA-basierte Diagnostik-Tests auf den Markt bringen.

Auch die sogenannte Pharmakogenomik trägt erste Früchte. Sie untersucht und beschreibt den Zusammenhang von individuellen Genvarianten mit der Wirksamkeit von Medikamenten. Die Humangenomsequenz bildet die Basis für dieses noch junge Forschungsgebiet. Durch Gentests lässt sich beispielsweise bestimmen, wie viele Cumarine ein thrombosegefährdeter Patient nehmen sollte, damit sein Blut verdünnt wird, es aber zu keinen schwerwiegenden Nebenwirkungen kommt.

Die Pharmakogenomik hat auch aufgedeckt, warum bestimmte Wirkstoffe nicht bei jedem Brustkrebs und bei jedem Lungenkrebs gleich gut anschlagen. Ein Beispiel ist das Medikament Iressa. Jahrelang wurde es gegen Lungenkrebs getestet – mit so magerem Erfolg, dass man den Stoff in den USA erst gar nicht zulassen wollte. Merkwürdigerweise aber zeigte Iressa bei einigen Patienten ganz hervorragende Resultate – und zwar bei Japanern eher als bei Amerikanern. Erst die individuellen Genomdaten brachten die Forscher auf die richtige Spur: Nur wenn bestimmte Mutationen im Zielmolekül von Iressa – dem epidermalen Wachstumsfaktor EGF – vorhanden sind, wirkt das Medikament. Und eben diese Mutation ist bei Japanern verbreitet. Nun vermuten die Ärzte, dass auch andere Arzneistoffe, die wegen Erfolglosigkeit aus den Pipelines der Pharmafirmen verschwunden sind, bei manchen Patienten durchaus wirken könnten.

Die Fahndung nach Risikogenen und risikoreichen Genvarianten, die Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Krebs, Schlaganfall, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Asthma auslösen, verläuft schleppender, als vor sieben Jahren erhofft. Die Suche nach den Schuldigen ist keine einfache Aufgabe, denn diese Krankheiten stehen unter der Regie vieler verschiedener Gene und Umwelteinflüsse. Kombinationen von Risikogenen zu identifizieren und sie von solchen zu unterscheiden, die nur mit Folge- oder Begleiterscheinungen einer bestehenden Krankheit korrelieren, ist auch mit neuesten Methoden nur unter großem Forschungsaufwand möglich. Denn eigentlich müsste man dazu die gesamten Genomsequenzen vieler Patienten mit denen gesunder Menschen vergleichen. Doch das ist nicht zu finanzieren.

Stattdessen analysiert man nur die Variabilität verschiedener Menschen, also die individuellen Unterschiede zwischen kurzen Sequenzabschnitten. Auch diese Unterschiede („Sequenzvarianten“) können die Forscher auf die Spur der Risikogene führen. Die Erbsubstanz zweier Menschen unterscheidet sich um gerade einmal 0,1 Prozent. 90 Prozent dieser Variabilität werden von winzigen Veränderungen erzeugt, sogenannten SNPs (Single Nucleotid Polymorphisms). Ein SNP (gesprochen „Snip“) ist der Austausch einer DNA-Base, etwa der Wechsel von einem Cytosin zu einem Thymin. Die meisten SNPs sind biologisch bedeutungslos. Doch einige bestimmen zum Beispiel das Erkrankungsrisiko oder die Effektivität von Medikamenten.

Etwa zehn Millionen Sequenzvarianten gibt es schätzungsweise im Humangenom. Welche davon Krankheiten verursachen, lässt sich mit sogenannten genomweiten Assoziationsstudien ausfindig machen. Dabei werden die SNPs vieler Patienten mit denen gesunder Menschen verglichen, um diejenigen herauszufinden, die häufiger bei Kranken vorkommen. Solche SNPs weisen dann den Weg zu den beteiligten Genen.

Erste Erfolge gibt es schon: Beispielsweise wurden Varianten in drei Proteinen, die an entzündlichen Reaktionen beteiligt sind, als entscheidende Risikofaktoren für die Entstehung der altersabhängigen Makula-Degeneration (AMD) identifiziert. Damit hat man erstmals Anhaltspunkte für die Entstehung dieser zur Erblindung führenden Krankheit gefunden.

Doch bei der Analyse von Zivilisationskrankheiten zeichnet sich ein viel komplexeres Bild ab, berichtet ein Konsortium von 50 Forscherteams, das nach den Risikogenen für sieben Krankheiten gesucht hat, darunter Bluthochdruck, Altersdiabetes und Arthritis. Im Rahmen des gewaltigen Forschungsprojekts wurden 500 000 Sequenzvariationen in den Genomen von 17 000 Briten getestet. Dabei ließen sich 24 Risikofaktoren einwandfrei identifiziert, bei über 50 verdächtigen Varianten steht eine genauere Analyse noch aus. Fest steht allerdings, dass die Risikofaktoren stets nur eine kleine Rolle bei der Entstehung der Krankheit spielen.

„Wir haben die Komplexität des Geschehens in der Zelle, das durch die Gene gesteuert wird, um Größenordnungen unterschätzt“, sagt Hans Lehrach, Professor für die Genomik von Wirbeltieren am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin. Da in einer Zelle Gene und Proteine komplex miteinander vernetzt sind, wird man auch viele Gene und Proteine beeinflussen müssen, um eine Wirkung auszulösen. Lehrach fordert deshalb, wie andere Forscher auch, die Genomdaten in Computermodelle umzusetzen und damit Krankheitsprozesse und Therapieoptionen zu simulieren.

Wie komplex das Genom tatsächlich ist, beweisen mehrere erst kürzlich veröffentlichte Studien des ENCODE-Konsortiums. ENCODE steht für Encyclopedia of DNA Elements. In diesem Projekt geht es darum, sämtliche Elemente des menschlichen Genoms zu identifizieren, die eine biologische Funktion haben.

Das wichtigste Resultat aus vier Jahren Forschung: Man muss sich von der aus den Siebzigerjahren stammenden und bis heute gültigen Auffassung trennen, dass menschliche DNA aus einer relativ kleinen Zahl von aktiven Genen besteht, in denen die lebensnotwendigen Informationen für den Bau von Proteinen stecken, und dass diese Gene durch lange Abschnitte inaktiver, unnützer Sequenzen voneinander getrennt sind. Tatsächlich sind diese Sequenzen keineswegs DNA-Müll, sondern sie enthalten unzählige regulatorische Einheiten, die den Genen sagen, wann und wo sie aktiv werden sollen. Die Frage, was ein Gen ist, stellt sich damit völlig neu – und in unserem Genom mag noch so manche Pointe stecken. ■

Karin Hollricher, Biologin und Wissenschaftsjournalistin, ist sicher: „Ich will gar nicht so genau wissen, was in meinem Genom zu lesen ist.“

Karin Hollricher

Ohne Titel

· Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms wird zu neuen Medikamenten führen – nur nicht so schnell wie versprochen.

· Das Genom enthält mehr Informationen als bisher angenommen. Im vermeintlichen DNA-Müll verstecken sich unzählige regulatorische Einheiten.

· Das entschlüsselte persönliche Genom von jedermann ist nur noch eine Frage der Zeit.

COMMUNITY

INTERNET:

Humangenom-Website der National Institutes of Health (USA) mit den wichtigsten Ergebnissen des ENCODE-Projekts:

www.genome.gov

Nationales Genomforschungsnetz der deutschen Forscher:

www.ngfn.de

Ohne Titel

SCHNELLER UND BILLIGER: Neue Methoden erleichtern die Sequenzierung der DNA. Die Geschwindigkeit hat sich in den letzten 15 Jahren jährlich verdoppelt. Während es noch rund 300 Millionen Dollar gekostet hat, die erste Sequenzversion des Humangenoms – eine Mischung aus den Sequenzen mehrerer anonymer Personen – zu erstellen, ist der Preis für eine individuelle Genomsequenz inzwischen auf eine Million Dollar gesunken. Das 1000-Dollar-Genom haben die Forscher fest im Visier.

Zwei Humangenom-Pioniere haben bereits ihr persönliches Genom entschlüsseln lassen: Ende Mai wurde James Watson eine DVD mit seinen Genomdaten überreicht. Der Forscher hatte zusammen mit Francis Crick entdeckt, wie ein DNA-Molekül aufgebaut ist. Dafür wurden die beiden 1962 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet.

Dank völlig neuer Sequenzierungsmethoden dauerte die Entzifferung des Watson-Genoms nicht einmal drei Monate. Der Wissenschaftler hat angekündigt, dass er sich sämtliche Daten seines Genoms ansehen wird – nur nicht die Risikogene für Alzheimer. Die hat er vorsichtshalber gar nicht analysieren lassen.

Auch Craig Venter, einer der Protagonisten des Humangenomprojekts und zugleich einer der umstrittensten Genomforscher weltweit, hat sein Erbgut sequenzieren lassen. Es ist eines von drei Ge-nomen, die die Firma Celera, die Venter früher leitete, für die erste Sequenzierung des Humangenoms benutzte. Celera hatte sich mit dem öffentlich geförderten Humangenomprojekt ein Wettrennen geliefert und ebenso wie dieses 2001 eine „Arbeitsversion“ des menschlichen Genoms vorgelegt.

Das nächste Promi-Genom könnte von George Church von der Harvard University kommen. Der Molekularbiologe ist einer von zehn Freiwilligen, die ihre DNA im Rahmen des „Personal Genome Project“ sequenzieren lassen. Das Projekt hat zum Ziel, die individu- elle Genomanalyse voranzutreiben.

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