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PFUNDSKERLE

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PFUNDSKERLE
Hochtechnisierte Medizin ermöglicht sogar Frühchen mit unter einem Pfund Geburtsgewicht den Start ins Leben. Doch die psychische Entwicklung der Babys wurde lange vernachlässigt. Eine Heidelberger Klinik setzt neue Maßstäbe.

Es ist eine Routine-untersuchung an einem Montag im Mai 2010, als der Frauenarzt zu Stefanie Siefert sagt, dass etwas nicht in Ordnung sei. Ihr Baby sei nicht so groß, wie in der 25. Schwangerschafts- woche üblich. Er schickt die 30-Jährige zur Abklärung in die Frauenklinik nach Heidelberg. Bis dahin verlief Stefanies Schwangerschaft traumhaft, wie sie sagt. Sie fühlte sich munter, machte Sport und ging ihrer Arbeit als Heilpädagogin nach. Mit ihrem Mann freute sie sich auf ihr erstes Kind.

Am Donnerstag stellen die Ärzte in der Klinik fest: Stefanies Plazenta ist zu klein und die Nabelschnur zu kurz. Das Kind wird nicht optimal versorgt. Stefanie muss im Krankenhaus bleiben. Die Herztöne ihres Babys werden rund um die Uhr überwacht. Könnte Stefanie es nicht am Monitor sehen, sie würde es nicht merken: Ihr Baby wird immer schwächer. Schon am Freitag geht es ihm so schlecht, dass die Ärzte handeln müssen. Kurz vor Mitternacht am 21. Mai wird der kleine Lasse mit einem Kaiserschnitt auf die Welt gebracht – 15 Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Er wiegt nur 490 Gramm. Die Ärzte wissen nicht, ob der Junge es schaffen wird. Sie wissen nur, dass ein Tag länger zu spät gewesen wäre.

„Manchmal sind Frühgeborene so unreif, dass sie nicht überleben können oder Schäden durch Hirnblutungen oder Lungenerkrankungen davontragen“, sagt Johannes Pöschl, ärztlicher Direktor der Klinik für Neonatologie am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin in Heidelberg. Ungezählten Kindern hat der Arzt auf die Welt geholfen. 8000 Babys werden in Deutschland jedes Jahr vor der 30. Schwangerschaftswoche geboren, 60 000 vor der vollendeten 37. Woche. Ihr Schicksal hängt an hochtechnisierter Intensivmedizin.

HAUT WIE SEIDENPAPIER

Am Morgen nach der Geburt ist Stefanie trotz der körperlichen Strapazen sofort munter. So schnell wie möglich will sie zu ihrem Kind. Ihr Mann schiebt sie im Rollstuhl auf die „Intensivstation für Frühgeborene und kranke Neugeborene in der Frauenklinik“ (FIPS). Im dämmrigen Licht der Station erkennt Stefanie zunächst nur blinkende Monitore. Von oben schaut sie durch das Plexiglas des Inkubators auf ihren „kleinen Wurm“, wie sie ihn nennt. Drinnen herrschen 36,8 Grad Celsius und 66 Prozent Luftfeuchtigkeit, um Lasses zarten Körper zu wärmen und seine empfindliche Haut und seine Lunge zu befeuchten, mit der er noch nicht selbst atmen kann – medizinische Details, nach denen Stefanie in diesem Moment nicht der Sinn steht. Sie darf Lasse durch die Inkubatortüren mit desinfizierten Händen berühren. Er sieht abgekämpft aus. Seine Haut ist rot und dünn wie Seidenpapier. Die Rippen und die Gefäße scheinen hindurch. Verschiedenfarbige Schläuche und Kabel ragen aus Nase, Mund, Bauchnabel, Armen und Füßen. Sie verbinden das reglose Baby mit Monitoren, Medikamenten und Nahrung. Stefanie hält es nicht lange aus. Sie ist froh, dass ihr Kind lebt, aber auch, dass sie nicht zum Nachdenken kommt. Tanten, Onkel, Omas und Opas rufen pausenlos an.

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Die unnatürliche Umgebung aus Geräten beeinträchtigt die Nähe von Eltern und Kind. Verstärkt wird die Distanz bei extremen Frühgeburten dadurch, dass die Babys zunächst kränklich aussehen. „Das ist nicht das Kindchenschema, das jeder kennt“, stellt Psychologin Tuba Cay vom Universitätsklinikum Heidelberg klar. „ Das Kind neben Lasse, ein 390-Gramm-Baby, sah auch für uns schrecklich aus“, berichtet die Pflegeschwester Melanie Busalt freimütig. Sie versteht, wenn es Eltern deshalb unmittelbar nach der Geburt oft schwer fällt, ihr Kind anzunehmen.

ELTERNKONTAKT WAR LANGE TABU

Als Folge der massiv eingeschränkten Interaktion brauchen Eltern von Frühchen in aller Regel länger, um eine Bindung zu ihrem Kind aufzubauen. Welche Konsequenzen das hat, übersahen die Ärzte lange. Bis in die 1980er-Jahre durften Eltern ihre Kinder im Brutkasten nicht einmal sehen. Neonatologen kümmerten sich um die intensivmedizinischen Apparate, aber kaum um Zuwendung. Erst in jüngerer Zeit kippte dieses Verständnis, weil Technik alleine den Frühgeborenen keinen guten Start ins Leben bietet. Eine Serie von Erkenntnissen trug dazu bei: Aus neuen Experimenten mit Weißbüschelaffen erfuhr Christopher Pryce von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, dass mangelnder Kontakt zu Eltern und Artgenossen Verhaltensstörungen fördert. Wurden die Jungtiere im ersten Lebensmonat täglich ein bis zwei Stunden von ihren Eltern getrennt, waren sie bis zum ersten Lebensjahr in Lerntests weniger motiviert und neigten zu Fehlern. Pryce wies Relikte der frühen Trennung im Nervensystem nach. In der Fachzeitschrift Biological Psychiatry berichtete er im Juni 2010 über dauerhafte morphologische Veränderungen im Gehirn und weniger Rezeptoren für Serotonin und Cortison – ähnlich wie bei Menschen mit Depressionen. Und die Affen waren keine Frühchen.

Die australische Radiologin Terrie Inder von der University of Melbourne schrieb 2006, dass die Gehirne von Frühgeborenen deutlich verzögert reifen. Das Volumen der grauen Substanz der Großhirnrinde war ihren MRT-Untersuchungen zufolge um 22 Prozent vermindert, jenes der weißen Substanz sogar um 35 Prozent. Aus den Auffälligkeiten im Scan konnte Inder Behinderungen und Entwicklungsverzögerungen vorhersagen, die die Kinder im Alter von zwei Jahren zeigten. Hoffnung macht dagegen eine Beobachtung des Kinderarztes Andre Mewes von der Harvard Medical School in Boston: ein drastischer Zuwachs der grauen Substanz zwischen der 32. und 42. Lebenswoche. Mewes vermutet eine Aufholjagd nach dem zu kurzen Aufenthalt im Mutterleib.

Gehirn und Lunge reifen erst im letzten Schwangerschaftsdrittel. Die Frühgeborenen müssen diesen Prozess im Inkubator alleine bewerkstelligen. Weil der Blutdruck vom Gehirn noch nicht im Lot gehalten werden kann, kommt es häufiger zu Hirnblutungen und Gefäßschäden. Statt Nährstoffe über die Nabelschnur zu erhalten, müssen die walnusskleinen Mägen Proteine und Muttermilch verdauen. Licht und andere Seheindrücke strapazieren die Augen. Der Sehsinn reift erst spät in der Dunkelheit des Leibes, wo nur zwei Prozent des Tageslichts eindringen. Das Gehör ist an das dumpfe Rumpeln des mütterlichen Darms und das Pochen des Herzens gewöhnt. Von einen Tag auf den anderen muss es hochfrequentes Monitorpiepen, Stimmen und Ventilatorsurren ertragen.

RISIKO FÜR ADS

All das ist Stress pur. „Die Hirnentwicklung verläuft deshalb nach der Geburt schleppender“, meint Johannes Pöschl. Trotz Aufholjagd hinken die Frühchen in ihrer geistigen Entwicklung jahrelang Gleichaltrigen hinterher. Die Mehrzahl trägt zwar keine Behinderungen davon. Aber bei Frühgeborenen, die vor der 32. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen, hat jedes dritte Kind mindestens ein leichtes Handicap. Noch im Alter von fünf Jahren schneiden Frühgeborene in Verhaltens- und Leistungstests im Schnitt schlechter ab als andere Kinder, schrieb Adnan Bhutta von der University of Arkansas in Little Rock, nachdem er Studien an mehr als 3000 Fünfjährigen ausgewertet hatte. Je jünger die Kinder bei der Geburt waren und je weniger sie wogen, desto eher landeten sie bei den Tests im unteren Drittel. Das Risiko für ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) verdoppelt bis verdreifacht sich bei Frühgeborenen, berichtet Bhutta. Nina Gawehn, Entwicklungspsychologin an der Universität Bochum, unterfütterte diese Beobachtung 2009 in ihrer Doktorarbeit: Viele Frühgeborene haben demnach noch mit sechs Jahren Aufmerksamkeitsprobleme und geistige Defizite.

Vor der 25. Woche Geborene neigen außerdem zu Verhaltensauffälligkeiten. Dabei treten zwei Extreme gehäuft auf: der leicht reizbare, unsichere und in sich gekehrte Typ und der hyperaktive, aggressive und impulsive Typ. „Die Fähigkeit, eigenes Verhalten und Emotionen zu regulieren, sich etwa nach einem Schreck wieder zu beruhigen oder die Aufmerksamkeit gezielt auf etwas zu richten, ist vermindert“, erklärt Psychologin Babett Voigt vom Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin in Heidelberg. Sie sieht das als Folge von Stress in der entscheidenden Phase der Hirnreifung an.

110 DEZIBEL ist Die SCHALLGRENZE

Was Ärzte tun können, um den Frühgeborenen das schwere Los zu erleichtern, treibt Pöschl seit geraumer Zeit um. Seit drei Jahrzehnten hat die amerikanische Neuropsychologin Heidelise Als dasselbe Ziel. Anhand von Beobachtungen an Frühchen im Kontakt mit Erwachsenen entwarf sie das Pflegekonzept „Newborn Individualized Developmental Care and Assessment Program“, kurz: NIDCAP. Frühgeborene sollen mit möglichst wenigen unnatürlichen Einflüssen konfrontiert werden. Pfleger und Ärzte müssen dazu permanent auf die Körpersprache des Kindes achten. Pöschl übernahm das Konzept für die Heidelberger Klinik und führt es damit in Deutschland ein. Nach und nach passte er es gemeinsam mit Pflegemanagerin Doris Verveur an das deutsche Gesundheitssystem an. So entwickelten sie vor drei Jahren die Heidelberger Variante „Entwicklungsfördernde familienzentrierte individuelle Betreuung von Frühgeborenen“, EFIB. Die Fürsorge ist vor allem auf das unreife Gehirn gerichtet – mit dem Ziel, das Risiko einer Behinderung zu senken. Man schafft eine Situation ähnlich wie im Mutterleib. Das empfindsame Gehör wird möglichst wenig Lärm ausgesetzt, indem man die Alarmtöne der Geräte dämpft und Pfleger und Ärzte nur leise reden. Eine Ampel mit Smileys an der Wand reagiert auf die Geräuschkulisse: Ab 110 Dezibel fangen herabhän- gende Mundwinkel an zu leuchten. So wenig Intensivmedizin wie nötig und so viel Zuwendung wie möglich, ist Pöschls Motto.

Früher wurden die Kinder nach einem starren Schema versorgt: Alle zwei Stunden Schleim aus den Atemwegen absaugen, Windeln und Tubus wechseln und Nahrung verabreichen. Heute achten die Pfleger auf die Körpersprache der Frühchen und versuchen sie möglichst wenig zu stören. Was so menschlich klingt, „ist für den Klinikbetrieb eine Kulturrevolution“, erklärt Doris Verveur. In anderen Abteilungen sind die Arbeitsabläufe bis heute strikt nach der Uhr geregelt.

Neben Lasses Inkubator steht ein blauer Rollwagen mit einer mehrseitigen Dokumentation. Über jeden Handgriff wird akribisch Buch geführt. Um zwei Uhr nachts wurden die Sensoren zur Aufzeichnung des Elektrokardiogramms, der Sauerstoffsättigung und der Atemfrequenz umgesetzt, sonst könnte Lasses Haut an den Kontaktstellen wund werden. Dann bekam das Baby 13 Milliliter Muttermilch, angereichert mit Protein, via Magensonde. „Das dehnt seinen kleinen Magen extrem“, erklärt Busalt. Einst nahm man an, dass Frühgeborene keinen Schmerz empfinden. Inzwischen weiß man aus pathologischen Untersuchungen, dass die Schmerzbahnen zum Gehirn ab der 22. Schwangerschaftswoche voll ausgebildet sind.

SÜSSES GEGEN DEN SCHMERZ

Lasse blinzelt. Stefanie Siefert hat die Decke auf dem Inkubator zurückgeschoben. Sie desinfiziert sich die Hände und streicht dem Baby über den Kopf. „Ich schlage vor, dass wir ihn an die Sauerstoffbrille hängen“, sagt die Pflegerin zu Stefanie, die längst mit dem Fachjargon vertraut ist. Zurzeit trägt Lasse eine Atemhilfe, die einen leichten Druck in seiner Lunge aufbaut, damit diese nicht zusammenfällt. Atmen kann er bereits selbstständig. Mit der Sauerstoffbrille muss er aber mehr Atemarbeit leisten. Eine Herausforderung für den 30 Zentimeter langen Neuankömmling, der nun fast doppelt so groß ist wie bei der Geburt. Doch zuvor müssen – wie jeden Morgen – das Lungensekret über die Nase abgesaugt und die Windel gewechselt werden. Außerdem wird der Kleine gewogen und bekommt 100 Mikroliter Blut für Routineuntersuchungen abgenommen.

Sachte schiebt die Pflegerin Lasse ein Wattestäbchen getränkt mit Zuckerlösung in den Mund. Sein leicht verknautschtes Gesicht versucht ein Lächeln. Vor einem schmerzhaften Eingriff wie dem Absaugen gibt es Süßes. Der Körper schüttet Endorphine aus und der Schmerz wird dadurch gelindert. Als Busalt mit einer schmalen Kanüle das Sekret über die Nase abzusaugen beginnt, greifen Lasses euromünzengroße Hände nach dem Tubusschlauch und zerren daran. Er stößt einen Schrei aus und streckt das linke Bein ab. Eine typische Stressaktion. Stefanie legt eine Hand auf die Beine, die andere mit sachtem Druck auf den Kopf. Allmählich beruhigt sich Lasse wieder.

ANGST ist Der STÄNDIGE BEGLEITER

Dann wird die Sauerstoffbrille – zwei kleine Schläuche – mit zwei herzförmigen Pflastern an Lasses Nase befestigt. Die Geräte schlagen Alarm. Rot holpert Lasses Herzfrequenz über den Bildschirm. Die blaue Kurve für die Sauerstoffsättigung im Blut macht einen Satz nach unten. Melanie Busalt legt die Hand auf Lasses Bauch und unterstützt seine Atmung mit einer sanft pulsierenden Bewegung. Lasse muss kräftiger atmen, sonst muss ihm reiner Sauerstoff verabreicht werden. Stefanie schaut konzentriert auf ihr Kind. „Am Anfang hat man ständig Angst“, sagt sie später. „Aber inzwischen denke ich: Abwarten! Meist fängt er sich wieder.“ So ist es auch dieses Mal. Irgendwann sucht Lasses winzige Hand Stefanies großen Daumen und umschlingt ihn. Es ist ein rührender Augenblick, den Stefanie still genießt.

„Lasses Eltern haben schnell einen Bezug zu ihrem Kind gefunden“, sagt Busalt. „Das ist nicht immer so.“ Jede Berührung nährt die Bindung. Und nicht nur das: Schiere Armut brachte Ärzte in Kolumbien auf die Idee, die Frühgeborenen auf den Bauch der Mutter zu wickeln, damit sie – ohne Wärmebett und Brutkasten – nicht unterkühlten. Dieses „Känguruhen“ importierten Forscher Anfang der 1990er-Jahre nach Berlin. Mittlerweile wird auf jeder deutschen Frühchenstation „gekänguruht“. Einst fürchteten Mediziner, dass die Eltern beim Körperkontakt gefährliche Keime auf ihre Kinder übertragen würden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Es kommt seltener zu Infektionen. Außerdem atmen die Kinder auf der Brust des Erwachsenen ruhiger und tiefer. Atemaussetzer sind seltener. Sie verdauen besser und nehmen rascher zu. Die Kängurupflege lindert sogar Schmerzen.

„Wir werden trotz EFIB nie so gut sein wie die Natur“, stellt Pöschl klar. Bisher kann er vor allem kurzzeitige Erfolge vorweisen. Die Kinder kommen früher nach Hause. Sie nehmen schneller zu und brauchen nur halb so viel Koffein zur Unterstützung der Atmung wie vor der Einführung des Konzepts. Die Frühgeborenen werden im Vergleich zu anderen Kliniken seltener und kürzer beatmet. Weniger Kinder sterben, und es kommt zu weniger Hirnblutungen und Schädigungen der weißen Substanz. Die Gretchenfrage lautet für Pöschl aber, ob die Frühchen nach der sanften Pflege später geistig, körperlich und seelisch fitter sind. Mit drei Monaten und im Alter von zwei und vier Jahren werden sie kognitiven, motorischen und psychologischen Tests unterzogen. Die Ergebnisse stehen noch aus.

Langzeitergebnisse des NIDCAP-Programms liegen dagegen bereits vor. Sie lösten eine Kontroverse aus: 2007 waren im niederländischen Leiden Developmental Care Project 192 Kinder aufgezogen worden, davon 98 nach dem neuen NIDCAP-Konzept und 94 mit althergebrachter Versorgung. Mit zwei Jahren unterschieden sich die Kinder der beiden Gruppen nicht in den geistigen und körperlichen Fähigkeiten, stellten die Ärzte fest. Im April 2009 legte ein Team um die Leidener Kinderärztin Celeste Maguire nach: Im Fachblatt Pediatrics stand, dass die Pflege weder die Beatmungszeit und die intensivmedizinische Behandlung verkürze noch die neuromotorische Entwicklung und die Gewichtszunahme fördere. Der Streit war perfekt, als Kathrine Leigh Peters von der kanadischen University of Alberta wenige Monate später heftig widersprach: Zufällig ausgewählte Frühgeborene wären mit NIDCAP im Schnitt zehn Tage früher entlassen worden und hätten weniger chronische Lungenerkrankungen gehabt. Mit anderthalb Jahren wurden zudem weniger Beeinträchtigungen wie geistige Entwicklungsverzögerungen diagnostiziert. Auch die Begründerin Heidelise Als hat positive Effekte ihres Konzepts publiziert: Die Frühgeborenen kämen leichter mit den Eltern in Kontakt. In den Gehirnen ließen sich mehr Verbindungen zwischen den Nervenzellen nachweisen. Der Kopfumfang nehme schneller zu. Die Kinder seien mental und motorisch mit neun bis zwölf Monaten besser entwickelt. Weniger Kinder würden sterben. In einer ihrer jüngsten Veröffentlichungen legt sie dar, dass Frühgeborene sogar im Alter von acht Jahren noch von der frühen Pflege profitierten: Sie könnten etwa mit abstrakten Zusammenhängen besser umgehen.

SCHRECKENSSZENARIEn

Man brauche eine größere Studie, um die Lage zu klären, fordern Forscher in der Zeitschrift Pediatrics. Gewiss wäre es für Eltern entlastend zu wissen, wenn die angediehene Pflege bei den Frühchen verhindern könnte, was an Schreckensszenarien herumgeistert. Im Alter von elf Jahren hatten 219 Frühgeborene, die vor der 25. Schwangerschaftswoche geboren waren, schlechtere Schulnoten als reif Geborene. 13 Prozent gingen auf Sonderschulen. 55 Prozent bekamen Förderunterricht oder Nachhilfe, wertete die Psychologin Samantha Johnson an der University of Nottingham in London 2009 aus.

Die erste epidemiologische Multicenter-Studie 2008 zur Situation der Frühgeborenen erhellt die Lage in Deutschland: Zwischen 17 und 24 Jahren waren 291 ehemals Frühgeborene mit ihrem Leben genauso zufrieden wie andere und hatten einen normalen bis sehr guten Schulabschluss. „Ein großer Teil der extrem früh Geborenen hat die Chance, ein normales Leben zu führen“, wagt Studienleiter Hans-Michael Straßburg von der Universitätskinderklinik Würzburg eine ermutigende Prognose. Allerdings hatte nur knapp jeder dritte Angeschriebene geantwortet. Es könnte sein, dass von den Betroffenen, die an Spätfolgen leiden, weniger auf den Fragebogen reagiert haben.

„Die Angst, ob das Kind behindert sein wird, kommt sehr früh in den Beratungsgesprächen auf“, berichtet die Psychologin Tuba Cay. „Dafür werden die Kinder regelmäßig untersucht. Sobald es Auffälligkeiten gibt, bekommen sie Sprachtherapie, Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie – was auch immer sie brauchen.“ Stefanie weiß von Berufs wegen, dass Frühgeborene ein höheres Risiko für Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten tragen. Sie arbeitet in einer sozialen Einrichtung mit Kindern, die geistig behindert sind und sich auffällig verhalten. Darunter sind etliche Frühgeborene. „Es kann mir keiner sagen, ob Lasse mal ein Gymnasium oder eine Sonderschule besuchen wird“, sagt sie. „Wir gehen einfach Schritt für Schritt.“

Am 29. September 2010 sieht Lasse zum ersten Mal sein Kinderzimmer. Mit 2500 Gramm ist er zum errechneten Geburtstermin kräftiger als manch reif geborenes Kind. Ein Sensor wacht über seinen Atem, seinen Herzschlag und die Sauerstoffsättigung im Blut. Die erste Zeit wird er neben dem Bett der Eltern schlafen. „ Für Frühchen, die so lange von ihren Eltern getrennt waren, ist das gut“, erklärt Stefanie, die sich mit ihrem Mann freut, dass sie endlich eine „normale“ Familie sind.

Die Berliner Wissenschaftsautorin SUSANNE DONNER hat großen Respekt vor Eltern, Pflegern und Ärzten, die rund um die Uhr für die Frühchen sorgen. Dem Frankfurter Fotografen TIM WEGNER ging seine Arbeit für die Fotoreportage sehr unter die Haut.

von Susanne Donner (Text) und Tim Wegner (Fotos)

Urteil im Frühchenstreit

Ab 1. Januar 2011 dürfen nur noch solche Kliniken Frühgeborene unter 1250 Gramm aufnehmen, die pro Jahr mehr als 30 Kinder mit diesem Gewicht versorgen. Das hat der Gemeinsame Bundesausschuss nach dreijährigem Streit im Juni 2010 entschieden. Die Zahl der Krankenhäuser, die frühe Frühchen betreuen dürfen, halbiert sich damit von 128 auf 64. Hintergrund der Entscheidung ist eine Kosten-Nutzen-Analyse der neonatologischen Versorgung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in Köln. Es hatte zehn Beobachtungsstudien auf die Überlebensrate der frühen Frühchen hin ausgewertet. Je mehr Babys eine Klinik im Jahr versorgte, desto besser die Ergebnisse, resümierte das Institut, räumte aber ein, dass sich kein einheit-liches Bild ergeben habe.

Die Entscheidung wird von der Deutschen Kinderhilfe und auch von Patienten- und Kassenvertretern begrüßt. Die Bundesärztekammer und die Deutsche Krankenhausgesellschaft hatte sie bis zuletzt abzuwenden versucht und die wissenschaftliche Basis angezweifelt. Nachteilig ist: In einigen Regionen Deutschlands kann es aufgrund der Vorgabe nun zu Anfahrtswegen von über 100 Kilometern kommen. Da man Babytransporte aufgrund der Gefahr von Hirnblutungen möglichst vermeidet, sollte die Schwangere rechtzeitig in die Spezialklinik gebracht werden, was bei einer plötzlichen Frühgeburt kaum zu bewerkstelligen ist.

KOMPAKT

· Bei Frühchen verläuft die Hirnentwicklung häufig schleppend, und sie leiden später vermehrt an Verhaltensstörungen und geistigen Defiziten.

· Sehr wichtig ist eine frühe Förderung, die sich nach den Bedürfnissen der Babys richtet.

· Der Körperkontakt zu den Eltern, der früher aus Angst vor Infektionen verboten war, hat sich als medizinisch und psychisch sinnvoll erwiesen.

MEHR ZUM THEMA

INTERNET

Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e.V.: www.fruehgeborene.de

Elternkreis Frühgeborene und kranke Neugeborene: www.fruehchen.de

Virtuelle Selbsthilfegruppe für die Eltern frühgeborener Kinder: www.frühchen-netz.de

Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin: www.gnpi.de/cms

Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin: www.dgkj.de

LESEN

Gerhard Jorch Frühgeborene Urania, Freiburg 2006, € 14,95

Edith Müller-Rieckmann Das frühgeborene Kind in seiner Entwicklung Reinhardt, München 2006, € 17,90

Hildegund Wulfgramm Elternintegration in der Pflege frühgeborener Kinder VDM Verlag Doktor Müller Saarbrücken 2008, € 49,–

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♦ Die Buchstabenfolge elek|tr… kann in Fremdwörtern auch elekt|r… getrennt werden.

Ab|sturz  〈m. 1u〉 1 (tödlicher) Fall, Sturz in die Tiefe 2 Abgrund … mehr

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