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Denkende Kleider

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Denkende Kleider
Kleidung ist bald nicht nur zum Wohlfühlen da und zum Schutz gegen Wetterunbill. Die neuen Textilien werden zum Kommunikationszentrum und zur Apotheke.

Wieviel Speicherkapazität hat Ihr PC? Was kann Ihr Handy? Geben Sie mir Ihre E-Mail-Adresse! – Fragen und Forderungen an die neuen Technologien und ihre Benutzer. Aber keiner fragt seinen Gesprächspartner auf der Skihütte: Was kann dein Skianzug? Nach wie vielen Sekunden löst er bei einem Unfall Alarm aus? Oder: Wieviel Salbe transportiert dein Pullover, wo ist in der neuen roten Bluse das Telekommunikationssystem eingewebt? Gerade auf solche Fragen möchte die Textilforschung in den kommenden Jahren Antworten geben. Intelligente Textilien, „smart clothes”, heißt das futuristische Zauberwort. Zwar werden Schüler ihr Sweatshirt nicht zum Spickzettel umfunktionieren können, aber Hilfestellung im weitesten Sinn sollen die Textilien der „dritten Bekleidungsgeneration” schon bieten. „Smart Chlothes sind die Grundlage für nahezu grenzenlose Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten des mobilen Menschen. Der Mensch wird über die intelligente Kleidung in die Lage versetzt, völlig unabhängig vom Standort mit anderen zu kommunizieren, weltweit Wissen übers Internet abzurufen und beliebige Aktivitäten in der Ferne zu steuern”, so eine Projektskizze des Bekleidungsphysiologischen Instituts Hohenstein in Bönnigheim bei Heilbronn.

Die finnische Firma Reima hat sich bereits aufs Produktionseis gewagt: Für Arktisforscher und ähnliche Extremgruppen hat sie mit der Universität Lappland einen Outdoor-Anzug entwickelt – ein wirklich intelligentes Kerlchen: Mit Hilfe eines in den Anzug eingebauten Chips fordert er bei einem Unglück über GPS nach 30 Sekunden Hilfe an, sagt – wenn alles gut geht – das Wetter vorher und fungiert mit seiner Kompaß-Funktion als Wegweiser. Pentti Hurmerinta, der optimistische Reima-Chef, sieht den Durchbruch für die intelligente Kleidung in vier Jahren kommen. „Wie heute das Handy, wird man bald die mitdenkende Kleidung nicht mehr vom Markt wegdenken können”, ist er überzeugt. In Krefeld beim Deutschen Textilforschungszentrum Nord-West (DTNW) arbeitet Privatdozent Dr. Dierk Knittel an der Schaffung von „ funktionellen Textilien”. Er will mit modifizierten Faseroberflächen die „Wasserfreundlichkeit” erhöhen und damit die Komponenten des menschlichen Schweißes binden, die einen unangenehmen Körpergeruch verursachen. Eine solche Aufwertung des Textils könnte auch als hautfreundliches Depot für Pharmazeutika genutzt werden. Zudem arbeitet Knittel an einem Verfahren, mit dem Stoffe „ohne einen Tropfen Wasser” gefärbt werden können. Ein besonders wirkungsvolles Feld für den IQ-Einsatz von Textilien ist der medizinische Bereich – vor allem bei der Therapie von Hautproblemen. Rund acht Millionen Bundesbürger leiden unter Berufsdermatosen, die Zahl der Neurodermitiker wird auf drei bis fünf Millionen geschätzt. Kleider machen hier keine Leute, sondern gesund, indem sie auf die Haut, das flächenmäßig größte menschliche Organ, kontinuierlich heilende Substanzen bringen: Dafür werden Nanokapseln mit der Wirkstofflösung auf die Fasern gebracht, die sie gleichmäßig an die Haut abgeben. Allerdings muß der Kontakt lang genug sein, um das Arzneimittel wirken zu lassen. Ein anderer Weg sind Fasern, die als Superabsorber die Wirkstofflösungen aufnehmen und in einem sich selbst regulierenden System an die Haut abgeben. Schluß soll dann sein mit Therapiemüdigkeit, besonders bei Kindern und Jugendlichen.

Für kleine Kinder gibt es bereits Neurodermitiker-Strampelhosen. Bandagenhersteller, die auf ihre Binden Wirkstoffe zur Wundversorgung und -heilung aufbringen könnten, interessieren sich vehement für die Zukunftspläne der Textilforschung. Auch Kosmetik-Hersteller spitzen die Ohren. Denn die Bodylotion im Schlafanzug, die in gleichbleibender Dosis feuchtigkeitsspendende Präparate auf die Haut bringt, spart der Benutzerin Zeit, und überläßt das lästige Eincremen nach dem Bade ganz entspannt dem Pyjama. Der ist vielleicht auch noch mit schlaffördernden Substanzen beladen. Die ausgepowerte Kleidung muß natürlich nicht wie ein Wattepad in den Mülleimer. Die Textilforscher haben ein Mehrwegtextil geplant – waschbar und von Profis wieder beladbar.

Die Textilien der Zukunft werden ihre Intelligenz nicht nur auf der Haut unter Beweis stellen: Den Skihandschuh mit dem integrierten Chip für die Liftbenutzung gibt es bereits. Die Firma Bugatti stellte ein Herrenjackett mit eingebautem Geruchsfilter vor – Schluß also mit dem Lüften nach dem Besuch in der verräucherten Kneipe. Handys sind bald von gestern – ein klitzekleiner Apparat in der Hemdmanschette löst sie ab. Die Hausfrau der Zukunft kann beim Einkaufen über einen Sender im Blusenärmel schon mal den Backofen anheizen. Ein weiteres weites Feld der Textilforschung ist der UV-Schutz. Die zunehmende Zahl von Hautkrebserkrankungen erfordert Vorsichtsmaßnahmen. Nach den Erkenntnissen von Dermatologen steigt das Risiko für Hautkrebs mit der Zahl der Sonnenbrände im Kindesalter. Diese Zahl über die Kleidung zu senken, ist das Ziel der textilen UV-Schutzforschung: Die schädlichen Strahlen sollen in den Fasern an schützenden Pigmenten hängenbleiben. Die Pigmente könnten anorganische keramische Stoffe sein, die beim Waschen nicht abgelöst werden. Sie böten einen permanenten UV-Schutz. Bis dahin allerdings müssen solche neuen Fasern zu erschwinglichen Preisen und mit möglichst kleinen Pigment-Partikel entwickelt werden. Natürlich soll Kleidung möglichst genau passen. Wer aber nicht eine maßgenaue Konfektionsfigur hat, steht oft vor dem Spiegel und erkennt: Ärmel zu lang, Hosenbeine ebenfalls, im Bund muß dagegen was raus. Die Figur des normalen Konsumenten erfordert jede Menge Korrekturen, bei deutschen Männern immerhin bei jedem zweiten.

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Vor zehn Jahren hatte der Gründer der Hohensteiner Forschungsinstitute Professor Dr. Ing. Otto Mecheels deshalb das ehrgeizige Ziel, einem jeden Menschen sein passendes „Kleid” zu verpassen. Die Idee mündete schließlich in das Forschungsprojekt „ Bekleidung nach Maß” im Rahmenkonzept Produktion 2000 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Projektpartner sind das Bekleidungsphysiologische Institut Hohenstein, die Tecmath GmbH, die Expert Systemtechnik und die Pfaff AG. Dr. Stefan Mecheels, der heutige Chef in Hohenstein, will damit „zukunftsweisende Konzepte für eine industrielle Maßkonfektion ausarbeiten und erproben”. Wie sieht der Anzugkauf der Zukunft aus? Zunächst einmal wird Mann ebenso berührungslos wie ganzheitlich über 3D-Body-Scanner mit 16 Kameras oder über ein 2D-Kontur-System mit zwei Kameras erfaßt. Die Körpermaße werden in der automatischen Schnittkonstruktion umgesetzt, der Zuschnitt erfolgt mit Einzellagen-Cutter. Mit Hilfe des Produktionsleitsystems läuft alles per Informationsvernetzung bis zur Fertigung an modernsten Näharbeitsplätzen. Hineingeschlüpft – fertig ist der neue Anzug.

Hoffentlich hat Mann in der angestrebten Fertigungszeit von sieben bis zehn Tagen nicht zugenommen. Ab 600 Mark läßt sich ein solcher Maßanzug schon erstehen – in mittlerweile 15 Geschäften in Deutschland (siehe Community-Kasten rechts). Maßkonfektion muß nach Forscheraussagen nicht viel mehr kosten als Kleidung von der Stange. Produziert wird nur, was bestellt ist. Der Handel benötigt keine Lagerhaltung, Ladenhüter gehören der Vergangenheit an. „In jedem Kleide werd ich wohl die Pein des engen Erdenlebens fühlen”, jammert Goethes Faust. In einem finnischen High-Tech-Anzug, einem geruchsfressenden Designer-Jackett, mit einem engmaschigen Sonnenschutz oder einem mit Paraffinkügelchen ausgerüsteten Mantel, der die Außentemperatur ausgleicht, würde wohl auch er befreiende Zukunftsluft schnuppern.

Schonend Reinigen mit Kohlendioxid Dem Verbraucher lästig wegen seines schlechten Geruchs ist das in der Reinigung verwendete Perchlorethylen als chloriertes Lösungsmittel. In Deutschland ist sein Marktanteil immerhin auf 70 Prozent gesunken, und seit zehn Jahren wird in der Textilreinigung nach umweltverträglichen und wirtschaftlichen Alternativen für die chlorierten Lösungsmittel gesucht. Vor rund vier Jahren kam als revolutionierendes Reinigungsmittel das flüssige Kohlendioxid in die Diskussion, da es bei der Reinigung von Leiterplatten schon sein Können unter Beweis gestellt hatte.

In den Hohensteiner Instituten wird derzeit das Reinigungsverfahren mit CO2 getestet. In einer riesigen Anlage, einer Waschmaschine wie für Goliaths Schmutzwäsche, werden Textilien unter Druck mit flüssigem Kohlendioxid gereinigt. Den fettlöslichen Schmutz nimmt das flüssige Kohlendioxid auf; wasserlösliche Stoffe können darin nicht gelöst werden. Um trotzdem wasserlösliche Verschmutzungen – wie Dreck oder Schweiß – entfernen zu können, werden geringe Mengen Wasser und Tenside zugegeben. Tenside verteilen einerseits das Wasser fein im Kohlendioxid, andererseits lösen sie den Schmutz aus den Textilien. Im Jahr 2005 soll die neue Technik serienmäßig anwendbar sein. Der Energiebedarf soll – im Vergleich mit Perchlorethylen – um rund 40 Prozent sinken. Samt, Seide, Baumwolle, Viskose und alle synthetischen Fasern können aufatmen – ihnen rückt die neue Methode nicht zu Leibe. Prof. Josef Kurz von den Hohensteiner Instituten setzt schon heute positive Eckdaten des neuen Verfahrens: „Zwar liegen die Kosten für den Verbrauch von Kohlendioxid etwa 20 Prozent höher als bei Perchlorethylen. Dafür entfallen aber die Entsorgungskosten für chlorhaltige Rückstände, die in der Regel als Sonderabfall der Verwertung zugeführt werden müssen.

Das bedeutet für die deutsche Textilbranche eine jährliche Einsparung von 4,8 Millionen Mark.” Innerhalb der nächsten sieben Jahre werden weltweit rund 70000 Reinigungsmaschinen abgeschrieben und ersetzt. Die erforderlichen Investitionen werden auf 14 Milliarden Mark geschätzt. Ein serienreifes Verfahren dieser umweltschonenden Technologie hätte nicht nur in Deutschland ein großes Marktpotential, sondern auch ausgezeichnete Exportchancen. Prof. Kurz ist überzeugt: „Die damit verbundene Umweltentlastung wäre auch global gesehen erheblich.”

Kompakt Der Lift-Paß im Skihandschuh ist Realität. Der salbengetränkte Strampelanzug hilft Babys mit Neurodermitis. Auch den maßgeschneiderten Anzug aus dem Scanner kann man kaufen.

Bdw community Fernsehen In Kooperation mit bild der wissenschaft hat „nano”, das Zukunftsmagazin in 3Sat, einen attraktiven Fernsehfilm über High-Tech-Kleidung produziert. Die Erstausstrahlung in 3Sat ist am Mittwoch, 25. April 2001 um 18.30 Uhr. Die Wiederholungstermine in SWR, BRalpha, MDR, SFB/B1 und WDR finden Sie im Internet unter der Adresse: http://www.3sat.de/nano/

INTERNET Unter www.tecmath.de stehen Informationen des Unternehmens Tecmath AG in Kaiserslautern – und alles über den Bodyscanner. Sie können sich auch selbst einscannen und nachmodellieren lassen, um sich einen Kunststoff-Klon in Ihren Garten zu stellen.

Die Hohensteiner Institute in Bönnigheim (bei Heilbronn) informieren unter www.hohenstein.de über ihre Forschungsvorhaben und präsentieren weiterführende Links. Hier gibt es auch eine Liste der 15 Bekleidungsgeschäfte in Deutschland, die den Körperscanner einsetzen.

Lesen Stefan Mecheels VIRTUAL REALITY – DIE TECHNOLOGISCHE REVOLUTION IN DER BEKLEIDUNGSINDUSTRIE Jahrbuch für die Bekleidungsindustrie 1998 Verlag Schiele&Schön, Berlin, DM 68,90

Wolf.-D. Hartmann, Astrid Ullsperger SMART CLOTHES – WIE INTELLIGENT WIRD UNSERE BEKLEIDUNG IM NÄCHSTEN JAHRHUNDERT SEIN? Jahrbuch für die Bekleidungsindustrie 1999 Verlag Schiele&Schön, Berlin, DM 72,–

Ulrike Kieser

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

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Dop|pel|bre|chung  〈f. 20; Opt.〉 Eigenschaft mancher Kristalle u. a. Substanzen, bei der das einfallende Licht in zwei Komponenten zerlegt wird, die unterschiedlich stark gebrochen werden, so dass bei geeigneter Blickrichtung zwei Bilder zu sehen sind

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