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Die Psyche gibt Frühalarm

Allgemein

Die Psyche gibt Frühalarm
Viele seelische Störungen kündigen sich zeitig an – eine Chance, sie abzufangen und Menschen Jahre des Leidens zu ersparen. Doch Fehldiagnosen und beklommenes Wegschauen verhindern das allzuoft, sagen Fachärzte – und gehen jetzt in die Früherkennungs-Offensive.

Es ist halb vier in der Nacht, als der 38jährige Prokurist Matthias Berndt (Name geändert) schweißgebadet aufwacht. Sein Herz rast und scheint immer wieder zu stolpern. Es würgt ihn im Hals, und er bekommt nicht mehr richtig Luft. Als er aufsteht, um sich aus der Küche ein Glas Wasser zu holen, sacken ihm fast die Knie weg, und er zittert. Nach einigen Minuten ist der Spuk vorbei. Doch Wochen später kehrt er wieder. Diesmal nicht in der Nacht, sondern mitten im Arbeitstag – auch noch kurz vor einer Besprechung. Berndt fürchtet einen Herzinfarkt und geht zu seinem Hausarzt. Der schickt ihn zum Internisten. Der wiederum überweist ihn zum Kardiologen. Keiner kann etwas finden.

Ein Freund tippt schließlich auf Panikattacken, wie er sie schon bei Bekannten erlebt hat, und empfiehlt einen Besuch beim Psychiater. Der Fachmann bestätigt nach ausführlichen Gesprächen den Verdacht: Berndt leidet an einer Angststörung. Einmal erkannt, läßt sie sich meist mit Psychotherapie und eventuell mit Medikamenten erfolgreich behandeln. Der Fall ist typisch: Psychische Probleme werden oft erst nach langer Zeit richtig diagnostiziert. „Der Patient geht von Arzt zu Arzt, und jeder sagt ihm: ,Sie haben nichts, seien Sie froh‘ – oder, noch demütigender für den Kranken: ,Das ist bloß seelisch‘ “, zieht Prof. Volker Faust vom Zentrum für Psychiatrie der Universität Ulm in Ravensburg-Weissenau (siehe anschließendes Interview „So früh wie möglich”) die Summe aus vielen Patientengeschichten.

Selbst mit der Schizophrenie, der klassischen Geisteskrankheit schlechthin, tun sich viele Hausärzte und Internisten schwer. „ Nicht wenige glauben, das sei wie bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde”, moniert Prof. Martin Hambrecht von der Universität Köln. Doch mit einem gespaltenen Geist hat die umfassende Störung des Denkens und Fühlens nichts zu tun. Mit der Diagnose einer Depression sieht es keinen Deut besser aus, fand 1999 ein Team des Münchener Max-Planck-Instituts für Psychiatrie. Die Forscher untersuchten in über 700 Praxen, wie gut deutsche Allgemeinmediziner diese seelische Störung erkennen. Ergebnis: Die Doktoren übersahen fast jede zweite Depression. Noch schlechter schnitten sie bei der Therapie ab: Nicht einmal jeder fünfte Betroffene erhielt eine adäquate Behandlung oder wurde auch nur zum richtigen Spezialisten überwiesen.

Vielen Erkrankten ist selbst nicht klar, daß sie ein behandlungsbedürftiges Leiden haben. Wissenschaftler der Universität Dresden untersuchten vor kurzem 1866 repräsentativ ausgewählte Dresdenerinnen im Alter zwischen 18 und 25. Sie stellten fest: Nur jede zweite, die von den Fachleuten als therapiebedürftig eingestuft war, wollte Hilfe in Anspruch nehmen. Die Dresdener Studie bestätigte ein weiteres Mal, was Experten seit einer Reihe von Jahren beobachten: Psychische Störungen sind alles andere als selten. Auch in Dresden leidet jede vierte junge Frau daran, und jede zehnte so schwer, daß eine Therapie angezeigt wäre – die allerdings nur jede fünfzigste tatsächlich erhält. Zu ähnlich bedenklichen Ergebnissen kommt die erste umfassende deutsche Untersuchung, der „Zusatzsurvey psychische Störungen” der Münchener Max-Planck-Forscher. Mehr als 7000 Menschen füllten zunächst einen Fragebogen aus, über 4000 der Einsender wurden anschließend genau untersucht. Wieder war das Ergebnis eindeutig: Psychische Störungen „sind in allen Altersgruppen (zwischen 18 und 65 Jahren) der deutschen Allgemeinbevölkerung weit verbreitet”, resümierten die Fachleute.

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Im einzelnen: 9 Prozent der Untersuchten litten an Ängsten, 7,5 Prozent an psychosomatischen Beschwerden, 6,3 Prozent an affektiven Störungen wie Depressionen. Weil nicht wenige der Befragten mehrere Probleme gleichzeitig hatten, lassen sich diese Zahlen nicht addieren, doch unter dem Strich sind allein von diesen drei Störungen bereits 17,3 Prozent der Deutschen betroffen. Das sind über acht Millionen Menschen. Die Folgen sind gravierend. Forscher der Weltgesundheitsorganisation WHO machen psychische und neurologische Störungen – weltweit in umfangreichen Studien ermittelt – für 28 Prozent aller gesundheitlichen Einschränkungen verantwortlich. Ein großer Teil davon geht auf das Konto der Depression. Allein wegen ihr versäumen Deutsche nach den Statistiken der Krankenversicherungen 13 Millionen Arbeitstage im Jahr: Verluste für die Wirtschaft sowie – für die Betroffenen – an Lebensqualität.

Dabei könnte vielen Kranken besser geholfen werden, wenn ihre Probleme früher erkannt würden. Welch gewaltige Fortschritte dabei noch möglich sind, zeigt das Beispiel Schizophrenie. Meist bricht die Krankheit im Twen-Alter aus. Scheinbar aus heiterem Himmel werden die überwiegend männlichen Opfer von Wahnvorstellungen heimgesucht. Einer beklagt sich beispielsweise, daß jemand über Nacht alle seine Kugelschreiber vertauscht habe. Ein anderer ist überzeugt, seine Frau habe einen Liebhaber, weil in der Straße viele rote Autos parken und Rot die Farbe der Liebe ist. Doch bevor es einmal so weit gekommen ist, hat die Schizophrenie schon lange ihre Schatten vorausgeworfen – nur hatte niemand sie erkannt. Schon im Alter von sieben Jahren reagieren spätere Schizophrene öfter ängstlich und feindselig als andere Kinder, fanden britische Forscher in einer großen Langzeit-Studie heraus. Solche Zeichen sind allerdings äußerst vieldeutig – längst nicht jedes ängstliche Kind wird schizophren. „Oft kann man erst hinterher sagen: Aha, da hatte es eigentlich schon begonnen”, räumt Psychiater Hambrecht ein. Später aber werden die Anzeichen deutlicher. Dann zeigen sich die sogenannten Basissymptome: Die Wahrnehmung präsentiert seltsame Dinge, die Gedanken jagen sich. Ein Betroffener mußte unaufhörlich an die Bildzeitungsaktion „Ein Herz für Kinder” denken, obwohl die ihm eigentlich nicht viel bedeutete. Prognostizieren Experten anhand solcher Symptome eine Schizophrenie, liegen sie in 95 von 100 Fällen richtig.

Zwar kann nur etwa ein Viertel der späteren Schizophrenen so früh identifiziert werden. Doch auch die übrigen könnten zeitiger gefunden werden: Sogar wenn die Psychose voll ausgebrochen ist, kommen derzeit 73 Prozent der Kranken erst nach über einem Jahr in Behandlung, oft sehr viel später – so eine Untersuchung des Mannheimer Zentralinstituts für Seelische Gesundheit. Selbst dann noch zögern manche Ärzte mit der Diagnose: Sie wollen die Patienten „nicht so früh damit belasten”, wie Hambrecht kritisiert. Damit nehmen sie ihnen die Chance auf frühzeitige Behandlung.

Hambrecht und Kollegen anderer Universitäten versuchen dagegen seit Anfang 2000 in einem großen Projekt, Schizophrene anhand früher Krankheitszeichen schon vor dem Ausbruch der Psychose zu finden und zu unterstützen. Dabei helfen ihnen bundesweit Ärzte, Schulpsychologen, Beratungsstellen und Krankenhäuser. Sie untersuchen Gefährdete mit einem speziellen Fragebogen und leiten sie bei verdächtigem Befund an eine der Unikliniken weiter. Die Forscher setzen bei schon vorhandenen Problemen an, etwa Kontaktschwierigkeiten. Dazu kommt psychologisches Training, beispielsweise wie man mit Streß umgeht oder in der Familie Konflikte löst.

„Das schadet keinem”, argumentiert Hambrecht – und wenn die Schizophrenie tatsächlich irgendwann kommt, helfen solche Fähigkeiten außerordentlich. Sobald sich psychoseähnliche Symptome zeigen und vielleicht obendrein eine familiäre Belastung dazukommt, empfehlen Hambrecht und seine Kollegen zusätzlich niedrig dosierte Psychopharmaka. Bei Patienten, die nach dem ersten Aufenthalt in der Psychiatrie in ihre Familien zurückkehren, läßt sich offenbar die Hälfte der Rückfälle kappen: In einer neuen Studie wurden in der speziell betreuten Gruppe binnen 18 Monaten 17 Prozent der Patienten rückfällig – gegenüber 34 Prozent in der Kontrollgruppe. Hambrecht und sein Kölner Team haben demnach gute Chancen, ihr anspruchsvolles Ziel zu erreichen: Bei jedem zweiten Schizophrenie-Gefährdeten wollen sie den Ausbruch der Psychose komplett verhindern.

Kompakt Die ersten Alarmsignale seelischer Störungen werden oft übersehen oder mißdeutet. Den meisten ist nicht klar, daß sie ein behandlungsbedürftiges Leiden haben. Rechtzeitig erkannt, sind seelische Störungen ähnlich erfolgreich zu therapieren wie körperliche. Psychiater beginnen Frühwarnsysteme einzurichten.

Jochen Paulus

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