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So früh wie möglich

Allgemein

So früh wie möglich
Achtet besser auf eure Mitmenschen, anstatt sie still leiden zu lassen – fordert der Ravensburger Psychiater Prof. Volker Faust. Denn je früher psychische Störungen behandelt werden, desto größer ist die Chance, sie noch abzufangen.

bdw: Der Surgeon General, der oberste Gesundheitshüter der USA, stellte unlängst fest: Jeder vierte Amerikaner hat irgendwann in seinem Leben mit einer psychischen Störung zu tun. Ist das auf Deutschland übertragbar?

FAUST: Nicht nur übertragbar – das ist eine wiederentdeckte Erkenntnis aus Deutschland, aus der Psychiatrie- Enquete der Bundesregierung vor über zwei Jahrzehnten. Inzwischen kam die Weltgesundheitsorganisation WHO für die erfaßten Industrieländer zum selben Ergebnis. Nimmt man auch minderschwere Störungen hinzu, leidet sogar jeder Dritte zeitweise daran.

bdw: Sie wollen jeden dritten Deutschen als zeitweilig verrückt abstempeln?

FAUST: Nicht als verrückt. Ich ziehe es vor, von „seelischer Störung“ oder von „seelisch bedürftig“ zu sprechen.

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bdw: … ein bißchen schwammig!

FAUST: Schon – aber es belastet weniger. Unter „seelisch bedürftig“ verstehe ich die ganze Bandbreite von der leichten Befindlichkeitsstörung bis zur schweren Psychose. Mit dieser Definition im Hinterkopf darf man beispielsweise sagen: Rund ein Prozent der Deutschen leiden unter Schizophrenie, etwa 9 Prozent unter Angststörungen. Die häufigste und gleichzeitig tödlichste seelische Krankheit ist die Depression. Rund 10 Prozent der Deutschen haben zumindest zeitweise Depressionen – davon etwa zur Hälfte leichte, was aber schon Leistungsabfall und Verlust an Lebensqualität bedeutet. Etwa ein Drittel der Depressionen sind mittelschwer, diese Menschen sind bereits dringend behandlungsbedürftig. Der Rest ist schwer krank und in Suizidgefahr.

bdw: Was kann man tun?

FAUST: Es ist wichtig, so früh wie möglich zu erkennen, daß ein Mensch dabei ist, in eine Depression oder eine andere seelische Schieflage zu geraten. Je früher er ärztliche Hilfe bekommt, desto wirkungsvoller kann man das noch abfangen. Und dazu kann jeder beitragen – indem er seine Mitmenschen genauer zur Kenntnis nimmt.

bdw: Das klingt nach allgemeiner gegenseitiger Überwachung.

FAUST: Was ich meine, ist: Man soll auf die Stillen und besonders auf die still Gewordenen achten. Im Freundeskreis, unter Angehörigen, unter Kollegen sollte man nicht wegsehen, wenn sich jemand „seltsam“ verhält. Man sollte diesen Menschen bei passender Gelegenheit ansprechen. Zum Beispiel mit einer der unverfänglichsten Fragen überhaupt: „Wie geht es dir?“

bdw: Ich kann mir nicht vorstellen, daß dann jeder sofort seine wahre Befindlichkeit aufdeckt.

FAUST: Mancher reagiert sogar schroff. Denn falls er ahnt, daß etwas mit ihm nicht stimmt, hat er ja Angst davor, als „verrückt“ abgestempelt zu werden.

bdw: Keiner hört gern, daß man ihn für seelisch bedürftig hält.

FAUST: Bloß nicht diesen Eindruck aufkommen lassen. Es wäre ein schlimmer Fehler, mit dem anderen so umzugehen, als hielte man ihn womöglich für seelisch gestört. Wenn er es tatsächlich ist, könnte ihn das noch tiefer in die Isolation stoßen. Man soll lediglich sinngemäß vermitteln: „In letzter Zeit habe ich den Eindruck, du bist ziemlich belastet.“ Wohlgemerkt: „belastet“, nicht etwa „überfordert“. Daraufhin wird keiner das Gespräch abbrechen. In unserer Leistungsgesellschaft gilt es ja fast als Auszeichnung, belastet zu sein.

bdw: Und wie geht es weiter – man könnte ihm doch gar nicht helfen?

FAUST: Um Himmels willen! Niemand sollte sich – bei allem mitmenschlichen Engagement – als Diagnostiker oder gar Therapeut aufspielen, wenn er nicht dafür ausgebildet ist. Das Ziel darf lediglich sein, auf eine sehr vorsichtige, nicht kränkende und nicht diskriminierende Weise dem anderen nahezulegen: „Geh doch mal zu deinem Hausarzt – ich mache mir Sorgen um dich.“ Wer so vorgeht, macht keinen Fehler.

bdw: Erkennt denn der Allgemeinmediziner eine seelische Störung, kann er sie fachgerecht therapieren?

FAUST: Es kommt darauf an, wie der betreffende Hausarzt eingestellt ist. Manche empfehlen nur, man solle mal richtig ausschlafen und sich ein schönes Hobby suchen. Andere haben ein Gespür für seelische Ursachen hinter körperlichen Symptomen. Das bekommt der Hilfesuchende rasch mit. Typischerweise sammeln sich bei diesbezüglich wachsamen Allgemeinmedizinern auch die Patienten mit „psychosomatischen Störungen“, wie das offiziell heißt. Im Regelfall wird ein Hausarzt, der sich nach erfolglosen Therapieversuchen bei einem Patienten überfordert fühlt, diesen sowieso an einen Facharzt überweisen. Spätestens dann kommt der seelisch Kranke, falls nötig, am Ende zu einem psychiatrischen Fachmann. Auch der wird sich übrigens noch häufig genug schwertun.

bdw: Worin liegt die Schwierigkeit?

FAUST: Das Problem beginnt damit, daß der Patient meist nur von körperlichen Begleiterscheinungen seiner Störung berichten kann: „Ich fühle mich matt und abgeschlagen“, oder: „Ich bin unruhig, ich schlafe schlecht“. Er weiß nichts anderes über seine Befindlichkeit zu sagen. Bei vielen Ausprägungen der Depression beispielsweise ist Schwermut – was viele für ein typisches Symptom halten – gar nicht im Spiel, zumindest nicht vordergründig. Der Kranke fühlt sich lediglich entsetzlich elend, wie auf dem Höhepunkt einer schweren Grippe. Schon deshalb trauen sich die Patienten ohne hilfreiche Anstöße ihrer Mitmenschen kaum, zum Arzt zu gehen. Denn wenn der fragen wird: „Was haben Sie?“, können sie wahrheitsgemäß nur antworten: „Mir geht es miserabel, aber ich weiß nicht, warum.“ Der Arzt hat seinerseits keine andere Chance, als beharrlich immer weiter zu fragen und zu bohren, anderes auszuschließen – bis sich gegebenenfalls der Verdacht einer „larvierten“, verborgenen Depression erhärtet.

bdw: Eines der gängigen Klischees über Psychologen und Psychiater lautet: „Die finden bei jedem was.“ Werden Gesunde krankgeredet, um sie dann profitabel behandeln zu können?

FAUST: Dazu paßt der Kalauer: „Gesund heißt lediglich unzureichend untersucht.“ Aber ich glaube, dieses Klischee ist auf dem Rückzug. Psychiater gehören bekanntlich zu den weniger gut verdienenden Fachärzten. Wer es auf den Mammon abgesehen hat, wird von vornherein eine andere Ausbildung wählen. Und vergessen Sie nicht: Mit der Diagnose steht der Facharzt gleichzeitig in der Pflicht zur Therapie – somit unter Erfolgsdruck. Das sind schlechte Bedingungen für Halbgott-in-Weiß-Allüren.

bdw: Wie erfolgversprechend ist denn die Therapie seelischer Störungen – wie groß ist die Chance auf Heilung?

FAUST: „Geheilt“ hieße ja: nie wieder. Aber bei einer Reihe seelischer Störungen gehören Rückfälle fast zum normalen Verlauf. Ich bin sehr froh, daß wir heute einige gute Medikamente haben und seelische Störungen, früh genug erkannt, ähnlich erfolgreich behandeln können wie körperliche. Wobei zur Behandlung oft mehr gehört als nur das Verschreiben von Pillen, beispielsweise die stützende Gesprächs- oder die kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen.

bdw: Dem Vernehmen nach verordnen Sie auch körperliche Aktivität gegen seelische Schieflagen.

FAUST: Ja, ich weiß schon – manche nennen mich den „ Gesundmarsch-Faust“. Für mich steht nach 33 Dienstjahren und Erfahrungen mit vielen Patienten aus Klinik und Ambulanz außer Frage, daß körperliche Aktivität in jeder Form eine wirkungsvolle Maßnahme ist, seelischen Druck abzubauen – besonders Depressionen und Angststörungen. Vor allem gilt das für den täglichen „ Gesundmarsch“ bei Tageslicht – besonders im Winterhalbjahr, nicht unter einer Stunde Dauer. Mir ist klar, wie banal das klingt, aber es funktioniert. Leider wird dieses Mittel zu wenig genutzt.

bdw: Sie selbst haben einen belastenden Beruf. Handeln Sie nach Ihrer eigenen Methode?

FAUST: Ich unternehme häufig nach Dienst lange Märsche durch die Wälder, egal zu welcher Jahreszeit. Wenn ich wieder nach Hause komme, sind viele zuvor belastende Probleme auf Normalmaß geschrumpft. Der Wald ist ein guter Psychotherapeut, das ist eine alte Erkenntnis.

Thorwald Ewe / Volker Faust

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