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Sprechen macht stark

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Sprechen macht stark
Wie, wann und warum entstand unsere Sprachfähigkeit? Bis vor kurzem war das Thema in der Wissenschaft verpönt. Jetzt beginnen Forscher, dieses Geheimnis der Menschwerdung zu lüften.

Eine lange Leitung zu haben, gilt als wenig schmeichelhaft. Doch genau sie ermöglicht ein solches (Vor)Urteil überhaupt erst – vermutet Derek Bickerton. Für den Sprachforscher sind größere Gehirne mit längeren Informationsübertragungswegen in den Nervenbahnen der entscheidende Unterschied zwischen uns Menschen und allen anderen Lebewesen auf der Erde – und womöglich auch der Schlüssel zum Rätsel vom Ursprung unserer Sprachfähigkeit.

Bickerton, Professor für Linguistik an der Universität Hawaii in Honolulu, ist es maßgeblich zu verdanken, daß dieses Thema wieder ein seriöses, wenngleich noch immer spekulatives und gerade deshalb auch spektakuläres Forschungsgebiet ist. Vor wenigen Monaten hat er eine große interdisziplinäre Konferenz zu Ursprung und Evolution der Sprache mitorganisiert. Eingeladen waren Linguisten, Anthropologen, Archäologen, Kognitionspsychologen, Verhaltensforscher, Neurobiologen, Computerwissenschaftler und Philosophen aus aller Welt. Nichts illustriert besser die vielen Fortschritte und seriösen Modelle, die das Thema in letzter Zeit wieder salonfähig gemacht haben. Dabei hatte die erste sprachwissenschaftliche Gesellschaft, die Sociéte de Linguistique de Paris, im Jahr 1866 in ihrer Satzung Vorträge zum Sprachursprung auf ihren Konferenzen strikt verboten: Aufgrund immer wilderer Spekulationen sollte das Thema wissenschaftlich trockenge-legt werden. Und tatsächlich spielte es seither kaum mehr eine Rolle in der Linguistik. Dies hat sich inzwischen geän- dert – und der Veranstaltungsort der interdisziplinären Konferenz letztes Jahr war bezeichnenderweise Paris.

Bickerton, groß, hager, in ausgewaschenen Jeans und legerem Hemd, könnte durchaus in einem Wildwestfilm mitspielen. Sein Englisch klingt knurrend, und wenn er sich angegriffen fühlt, kontert er wie aus der Pistole geschossen – lässig und aus der Hüfte heraus. Angegriffen fühlt er sich häufig, denn wo originelle Ideen gedeihen, sind die Kritiker nicht weit, und Wissenschaft lebt von Kritik und Gegenkritik. Bickerton genießt es sichtlich, wenn er für Zündstoff sorgt – und jüngst in Paris bekam er mehr als einmal die Gelegenheit zum Schlagabtausch. Seine wissenschaftlichen Meriten hatte er sich freilich schon vorher erworben: durch das Studium der Pidgin- und Kreolensprachen. Pidgin ist die Bezeichnung für ein in Grammatik und Wortschatz extrem reduziertes Kauderwelsch, das sich vor allem als situationsspezifisches Verständigungsmittel in Kreisen verschiedensprachiger Händler, bei Lohnarbeitern in Kolonien und Sklaven an vielen Orten der Welt herausgebildet hat. Kinder, die in diesem sprachlichen Tohuwabohu aufwachsen, entwickeln gemeinsam Sprachformen aus dem Vokabular der dominierenden Sprache (meist Englisch, Französisch oder Portugiesisch), angereichert mit Pidgin-Begriffen aus den anderen Sprachen, und bisweilen einzigartigen grammatischen Formen.

Trotzdem gehorcht die kreolische Sprachstruktur Gesetzmäßigkeiten, wie sie Noam Chomsky, der am Massachusetts Institute of Technology lehrende „Papst“ der modernen Linguistik, für alle menschlichen Sprachen postuliert. Er geht nämlich davon aus, daß jeder Mensch eine Art angeborene Universalgrammatik in seinem Kopf hat, von der die Einzelsprachen nur Varianten sind. Bickertons Erkenntnisse über die Kreolensprachen haben diese Hypothese gestützt. Er prägte das Schlagwort vom Bioprogramm für Sprache, Chomskys Kollege Steven Pinker spricht sogar vom „ Sprachinstinkt“. Allerdings haben Chomsky und mit ihm viele Linguisten die neuronalen Grundlagen der menschlichen Sprachfähigkeit und ihre Evolutionsgeschichte lange Zeit völlig ausgeblendet. Dabei zeugen Tausende von unterschiedlichen Aphasien – Sprachstörungen nach Schlaganfällen, Hirnverletzungen und -tumoren – davon, daß das Sprachvermögen mehr oder weniger spezifisch beeinträchtigt oder ganz ausfallen kann. Und manche erstaunlichen Leistungen von Tieren werfen die Frage auf, ob die menschliche Sprachfähigkeit wirklich so einzigartig in der Natur ist. So haben Menschenaffen gelernt, sich mittels Gebärdensprachen oder Computersymbolen mit Menschen und auch untereinander zu verständigen (siehe „Die sprechenden Affen von Atlanta“, bild der wissenschaft 8/2000).

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In seinem gerade erschienenen Buch „Lingua ex Machina“ hat Derek Bickerton zusammen mit dem Hirnforscher William Calvin von der University of Washington in Seattle versucht, genau diese Lücken im Paradigma der modernen Linguistik zu schließen – das heißt, Noam Chomsky und Charles Darwin miteinander zu versöhnen. „ Einige Jahrzehnte lang wurde das Studium unserer Art und seiner einzigartigen Fähigkeiten verzögert und unterbrochen durch einen Streit, zu dem es nicht hätte kommen müssen“, ärgert sich Bickerton über den Argwohn und die Reserviertheit, mit denen Biologen und Sprachwissenschaftler sich lange gegenüberstanden. „ Die Indizien dafür, daß sich alle Arten, auch der Mensch, durch die natürliche Selektion entwickelt haben, die auf genetischen Variationen aufbaut, ist einfach überwältigend – genau wie die Indizien dafür, daß Sprache eine biologisch determinierte, artspezifische, erbliche Fähigkeit ist.“

Bickerton unterscheidet zwischen Protosprachen und echten Sprachen. Erstere sind weitgehend frei von spezifischen Verknüpfungen sprachlicher Einheiten zu Sätzen, das heißt von syntaktischen Eigenschaften wie Subjekt-Objekt-Verb-Ordnung, Pronomen, Artikeln, Adjektiven und Adverben, Deklination und Konjugation – kurz: alles, was für manche unerquickliche Schulstunde sorgt, was aber jeder in seiner Muttersprache exzellent und mühelos beherrscht. Diese komplexen Sprachen sollen aus primitiven Vorstufen ohne Syntax entstanden sein, meint Bickerton. Ein Nachklingen solcher Protosprachen sieht er im Brabbeln von Kleinkindern, den Kommunikationsweisen sprachlich unterrichteter Menschenaffen, den Sprachstörungen bei Aphasien und den reduzierten Formen der Pidgin-Sprachen. Doch wie sind aus den primitiven Protosprachen die syntaktisch ausgefeilten Sprachen entstanden? Wie kam die Universalgrammatik ins menschliche Gehirn? „Am Anfang war das Wort“, hat der Linguist John Simon einmal scherzhaft dieses große Problem formuliert, „ aber als das zweite Wort hinzukam, gab es Schwierigkeiten. Denn mit ihm kam die Syntax, die so vielen Leuten ein Bein stellt.“

Um die zauberhafte Lösung eines Deus ex machina zu vermeiden, vermutete Bickerton früher, daß die Lingua ex machina -– die Sprachfähigkeit des Gehirns – einer einzigen zufälligen genetischen Mutation zu verdanken ist, die sich aufgrund ihres Vorteils rasch durchgesetzt hat. Biologisch ist dies jedoch äußerst unplausibel. Bickerton hat sich hier inzwischen seinen Kritikern gebeugt – und eine neue Hypothese aufgestellt. Hier kommt die lange Leitung in der Großhirnrinde ins Spiel. „Sprache erfordert, daß das menschliche Gehirn Leistungen vollbringt, die die Fähigkeiten der bisherigen Primatenhirne weit übertreffen. Im Lauf der Evolution hat sich das Gehirn so entwickelt, daß es kurze, rasch verschwindende und undeutliche Signale verarbeiten kann. Die komplex gegliederte Sprache dagegen erfordert zusammenhängende, klare Signale, die relativ lange zur Verfügung stehen müssen“, erklärt Bickerton. Er glaubt, überspitzt gesagt, daß dieser gedankliche Schwebezustand durch die längere Informationsverarbeitung in der größeren Hirnmasse entstand. Und dadurch konnten die Gedanken zum Gegenstand syntaktischer Verarbeitungsprozesse werden – ähnlich wie man Fotos besser im Detail betrachten kann als eine rasche unzusammenhängende Bilderfolge.

In diesem Zeitgewinn besteht für Bickerton auch der entscheidende Unterschied zwischen den Bewußtseinszuständen von Mensch und Tier. „Tiere dürften sich der Flut ihrer Erfahrungen bewußt sein. Doch sie können diesen Erfahrungsstrom nicht bearbeiten oder sich zurücklehnen und denken ‚Das ist meine Erfahrung!‘ – einfach deshalb, weil der Prozeß viel zu schnell abläuft. Sie können keine Teile davon einfrieren, hin- und herwenden, anschauen und in neue Ordnungen bringen, so wie wir“, erläutert Bickerton seine spekulativen Überlegungen. „Das ist eine ganz simple Theorie des Bewußtseins. Tiere haben möglicherweise keinen Zugang zu ihrem Bewußtsein, weil für sie alles viel zu schnell geht – ähnlich wie bestimmte Bewegungen, die unser Auge nicht zu sehen vermag, weil sie zu rasch ablaufen. Bewußte Zustände könnten einfach dadurch entstehen, daß das Gehirn neuronale Reize eine gewisse Zeitspanne lang relativ unverändert aufrechterhält.“ Angenommen, Bickertons Hypothese trifft zu: Dann muß freilich noch immer erklärt werden, wie die Evolution den Sprung über die Schwelle der Protosprache geschafft hat und wie die „symbolische Spezies“ entstand – so nämlich hat der Evolutions- und Hirnforscher Terrence Deacon von der amerikanischen Harvard University den Menschen charakterisiert.

Dieser Intelligenzsprung wurde vor allem durch soziale Faktoren verursacht, sind viele Wissenschaftler überzeugt: Je größer und komplexer eine Gruppe aus Individuen ist, die eng miteinander kooperieren, aber sich auch ständig gegenseitig zu übervorteilen versuchen, desto mehr Brainpower ist für Gedächtnis, Handlungsplanung und Bündnispolitik nötig. Robin Dunbar von der University of Liverpool hat sogar eine direkte Korrelation von Hirnvolumen und Gruppengröße nachgewiesen und glaubt, daß die Entstehung der Sprache damit zusammenhängt: zunächst als eine verbale Form der bei Affen weitverbreiteten sozialen Fellpflege – eine Kontaktpflege im wahrsten Sinn des Wortes –, dann vor allem für Tratsch und Klatsch, was wiederum ein wichtiges Mittel im zwischenmenschlichen Ränkespiel wurde. Wer nämlich einen höheren Rang in einer Gruppe hat, kann sich meistens auch erfolgreicher fortpflanzen und damit seine Gene vermehrt in der nächsten Spielrunde der Evolution plazieren. Bickerton ist auch davon überzeugt, daß das Sprachvermögen auf komplexen sozialen Beziehungen einschließlich altruistischer Zusammenarbeit basiert – sprachliche Übereinkünfte beruhen schließlich darauf, daß die meisten sich fast immer an die herrschenden Regeln halten und sprachlich kooperieren, also nicht lügen oder absichtlich Unsinn erzählen.

Doch dies kann nicht die ganze Geschichte gewesen sein, lautet Bickertons Einwand. Er hält es für unplausibel, daß ein kognitives Wettrüsten um soziale Stellungen aus grunzenden Affenmenschen sprachbegabte symbolische Spezies machte, obwohl diese ständige Konkurrenz die Ausbildung komplexer sprachlicher Strukturen später bestimmt extrem forciert hat. Freilich ist schon das Sozialleben von Menschenaffen erstaunlich komplex – Primatenforscher wie Frans de Waal von der Emory University in Atlanta, Georgia, glauben sogar, in den sozialen Wechselwirkungen Parallelen zu den syntaktischen Strukturen zu erkennen, die Chomsky beschrieben hat –, doch eine reichhaltige Lautsprache haben sie nicht entwickelt. Die größere soziale Komplexität bei Menschen halten sie daher nicht für die Ursache, sondern eher für die Folge des Sprachvermögens. Und für Klatsch und Tratsch waren die Protosprachen einfach nicht reichhaltig und aussagekräftig genug. „Ökologische Bedingungen machten den hohen Selektionswert einer auch noch so rudimentären Sprachfähigkeit aus, und nicht primär die sozialen Bedingungen, wo Täuschung und Manipulation die Regel waren“, ist Bickerton überzeugt.

Im Gegensatz zum tropischen Regenwald mit seinem üppigen und gleichmäßig verteilten Nahrungsangebot, in dem die Menschenaffen lebten, mußten unsere Ahnen ihr Dasein unter den harschen Bedingungen in der Savanne fristen, wo überall gefährliche Tiere lauerten und es ihnen schwerfiel, genug Nahrung zu finden. „Worte spielten wohl vor allem dort eine Rolle, wo sie einem selbst kaum Nachteile brachten, das heißt, wo Kooperation über Konkurrenz dominierte, und wo rasch festgestellt werden konnte, ob die Worte der Wahrheit entsprachen oder nicht“, nimmt Bickerton an. Und das war hauptsächlich dann der Fall, wenn es darum ging, die Nahrungssuche zu koordinieren oder sich gegenseitig vor Raubtieren zu warnen.

Hier kommt ein weiterer entscheidender Nutzen der Sprachfähigkeit ins Spiel, den Stevan Harnad von der University of Southampton den „Vorteil des symbolischen Diebstahls über die ehrliche Plackerei“ genannt hat: die Kategorisierung. „Ehrliche Plackerei ist das gute alte Lernen mit Versuch und Irrtum. Es basiert auf den Rückmeldungen, die man aus den Folgen seines eigenen Verhaltens erhält. Ein Lebewesen, das sich beispielsweise von Pilzen ernährt, erfährt am eigenen Leib den Unterschied zwischen guten Pilzen und solchen, von denen einem schlecht wird. Anhand äußerer Merkmale kann es dann lernen, die beiden Pilz-Kategorien auseinanderzuhalten.“

Dieser mühselige und nicht selten gefährliche Wissenserwerb läßt sich durch verbale Hinweise wesentlich beschleunigen. „Wenn die Lebewesen in der Lage sind, einander die Eigenschaften der guten und schlechten Pilze zu beschreiben, wahrscheinlich in Verbindung mit dem Zeigen einiger treffender Beispiele, können sie sich eine Menge Schwierigkeiten ersparen“, sagt Harnad. Ähnlich nützlich sind Warnungen wie „heiß!“ und „tief!“ für Feuer und Flüsse. Wie vorteilhaft sich diese primitive Kommunikation auswirkt, haben Harnad und seine Mitarbeiter in Computermodellen demonstriert. Auch experimentell ist der Erfolg von Kategorisierungen gut bestätigt: Lange war rätselhaft, wie es manche Menschen mit großer Erfahrung schaffen, frisch geschlüpfte weibliche Küken von männlichen zu unterscheiden. Diese Fähigkeit hat große ökonomische Bedeutung, denn normalerweise sind nur Legehennen erwünscht, und die männlichen Küken sollen aus Kostengründen nicht unnötig durchgefüttert werden. Dieses „ Chicken-Sexing“ ist aber sehr schwierig und erfordert lange Übung, zumal die Experten selbst nicht so genau sagen kön-nen, worin sich die Geschlechter äußerlich eigentlich unterscheiden. Mit vielen Fotos gelang es Wissenschaftlern jedoch, einige Merkmale zu extrahieren. Wurden Sexing-Neulinge darauf hingewiesen, konnten sie innerhalb kurzer Zeit bis zu 90 Prozent des Niveaus der „Großmeister“ erreichen, was sonst nur mit einem monatelangen Versuch-und-Irrtum- Lernen glückt.

„Dieser symbolische Diebstahl, das Lernen vom Hörensagen, ist ein Verbrechen ohne Opfer – jedenfalls in Situationen, wo man vom Nachteil anderer selbst keinen Vorteil oder sogar eigene Nachteile hat“, sagt Harnad. „Es ersetzt nicht das Prinzip von Versuch und Irrtum, aber es ergänzt es wesentlich.“ Sein Fazit: Der Ursprung der Sprache hängt zusammen mit der Entstehung der Fähigkeit, Kategorien mit sprachlichen Symbolen zu bezeichnen und mit diesen Symbole Aussagen über die Welt zu machen, die wahr oder falsch sein können. Sicherlich waren es keine Küken und vielleicht auch nicht Pilze, über die sich unsere fernen Ahnen einst verständigten, doch wahrscheinlich die Fundorte von nahrhaften Wurzeln, Nüssen und Früchten oder Aas. Hinzu kamen Warnungen vor Raubkatzen, wenn beispielsweise jemand deren Spuren im Gras entdeckte. Die Protosprache hat sich vor 1,5 bis 0,5 Millionen Jahren verbreitet, als Homo erectus und seine Verwandten durch Afrika und später durch Asien und Europa streiften, schätzt Bickerton.

Die eigentliche Sprachfähigkeit entwickelte sich erst später, vor vielleicht 200000 bis 50000 Jahren, glaubt er. Eine wichtige Triebkraft dafür war der reziproke Altruismus nach dem Motto: „ Kratzt du mir den Rücken, so kratze ich ihn dir ebenfalls.“ Diese Kooperation war für den Jagderfolg unerläßlich. Hätten beispielsweise die Jäger, die das Wild erlegten, die Beute nicht mit den Treibern und ihren Familien geteilt, hätte niemand mehr als Treiber gearbeitet. Doch gegenseitiger Altruismus funktioniert nur, wenn Trittbrettfahrer keinen Erfolg haben – sonst wird der Altruist gnadenlos ausgenutzt und hat nicht nur die Arbeit und das Risiko, sondern auch das Nachsehen. Deshalb ist es notwendig, sich gut zu merken, wer wieviel investiert und abgibt.

Diese soziale Intelligenz scheint eine wesentliche Ursache für die Vergrößerung des Hirnvolumens der Frühmenschen in den letzten Jahrmillionen gewesen zu sein – und hat letztlich wohl auch zur Sprachfähigkeit geführt. Bickerton sieht sogar Parallelen zwischen den Voraussetzungen für das soziale Kalkül und den grundlegenden syntaktischen Strukturen für Subjekt, Objekt und Verb. Futterneid und Feilschen um einen Brocken Aas, Tratsch und Klatsch am Lagerfeuer – das also könnten die Wurzeln der Sprachgewalt von Homer, Shakespeare und Nietzsche gewesen sein.

Kompakt Die Sprachfähigkeit des Menschen entstand möglicherweise aufgrund seines größeren Gehirns. Dadurch konnte er seine Gedanken länger im Bewußtsein behalten und sie grammatisch strukturieren. Schon die frühen Menschen konnten lebenswichtige Informationen über Nahrung oder Gefahren ohne großen Aufwand austauschen: mit Hilfe einfacher Begriffe und durch Zeigen auf typische Beispiele. Komplexere Sprachfähigkeiten hat die Evolution vermutlich belohnt, weil die verbale Kontaktpflege Vorteile brachte, nicht zuletzt durch Klatsch und Tratsch.

Was Kehlen Verraten – Die evolution des sprechens

Von Knochen, Kehlkopf und Zungenbein – wie unsere fernen Ahnen belauscht werden.

Tonbandaufnahmen aus grauer Vorzeit gibt es leider nicht. Deshalb sind Wissenschaftler auf andere Indizien angewiesen, um herauszufinden, seit wann Menschen sprechen können.

Homo sapiens hat sich von seinen nächsten lebenden Verwandten, den Schimpansen und Bonobos, schon vor rund fünf bis sieben Millionen Jahren getrennt. Diese Zeitspanne entspricht etwa 300000 Generationen seit dem letzten gemeinsamen Ahnen. Ob die Sprache kontinuierlich oder in einem großen Sprung entstand, ist umstritten. Vielleicht verfügte nur der anatomisch moderne Mensch über eine Sprache mit komplexer Syntax. Womöglich war das auch der Grund für seine rasche Ausbreitung, bei der er die geistig und sprachlich unterlegenen Neandertaler und andere Menschenarten verdrängte.

Homo habilis stellte bereits vor 2,5 Millionen Jahren Werkzeuge her. Aus Abdrücken seines Schädelinneren wurde auf Asymmetrien der Großhirnhälften geschlossen – einschließlich der Windungen, die bei heutigen Menschen eine Voraussetzung zur Sprache sind. Allerdings haben auch Schimpansen solche Hirnasymmetrien, ohne zur Lautsprache befähigt zu sein. Homo sapiens entstand vor etwa 200000 Jahren in Afrika und verließ den Kontinent vor 100000 Jahren. Er schuf komplexere Werkzeuge als andere Frühmenschen, benutzte größere Wohnstätten, entwickelte weiträumige Handelsbeziehungen, lebte in regional unterschiedlichen Kulturen und schuf beeindruckende Kunstwerke. Die großen Populationen („Rassen“) begannen vor etwa 50000 Jahren sich auseinanderzu- entwickeln. Da sie heute alle die gleichen sprachlichen Fähigkeiten besitzen, gilt diese Zeit meist als jüngstes Datum für eine vollentwickelte Sprache. Die ältesten bekannten Schriftzeichen sind kaum älter als 5000 Jahre.

Fest steht, welche Voraussetzungen für das Sprechen nötig sind: eine willentliche Kontrolle der Atmung, eine Veränderung des Vokaltraktes sowie neuronale Entwicklungen zur Steuerung der Sprechmotorik, zur Fähigkeit lautlicher Imitationen und zur Bildung grammatischer Relationen. Wie Detektive versuchen Forscher nun, aus wenigen fossilen Überresten auf das Sprachvermögen unserer Ahnen zu schließen: Kontrolle der Atmung (bild der wissenschaft 4/2000, „Walkie-talkie und Gelächter“): Darüber könnte die Größe der Nervenkanäle in bestimmten Rückenmarksknochen Auskunft geben. Doch noch fand niemand eine eindeutige Größenzunahme in der Evolutionslinie hin zum Jetztmenschen. Flexibilität der Zungenmuskulatur: Sie wird vom zwölften Hirnnerv gesteuert. Er zieht durch einen Kanal im hinteren unteren Schädelknochen. Die Größe des Kanals könnte Aufschluß über die Muskelkontrolle geben, doch er ist in fossilen Menschenschädeln nicht eindeutig kleiner als bei uns. Stellung des Kehlkopfs: Bei den meisten Säugetieren, auch bei Menschenaffen, sitzt er hoch im Hals, gegenüber den ersten drei Halswirbeln, nicht jedoch beim erwachsenen Menschen, wo er sich in Höhe des vierten bis siebten Wirbels befindet. Der Vorteil: ein vergrößerter, fein modulierbarer Resonanzraum oberhalb der Stimmlippen. Deshalb können wir über 100 verschiedene Laute erzeugen, insbesondere Vokale. Der Nachteil: Im Gegensatz zu anderen Säugern sowie zu menschlichen Kleinkindern kreuzen sich durch die Kehlkopf-Absenkung beim Erwachsenen Speise- und Luftweg – wir können nicht gleichzeitig atmen und Nahrung schlucken. Schädelbasislinie: Ist sie flach, liegt der Kehlkopf oben im Hals, ist sie gewölbt, liegt er weiter unten. Bei den Australopithecinen, die vor 4 bis 1,5 Millionen Jahren in den Savannen Ost- und Südafrikas lebten, ist die Schädelbasis flach und ähnelt derjenigen der heutigen Menschenaffen. Sie verfügten demnach nur über ein begrenztes Lautrepertoire. Bei 300000 bis 400000 Jahre alten Schädeln des Homo erectus hatte der anatomische Abstieg des Kehlkopfs dagegen wohl schon begonnen. Beim Neandertaler ähnelten die Verhältnisse denen des modernen Homo sapiens. Zungenbein: Der nur wenige Zentimeter große Knochen liegt zwischen Zungenbasis und Kehlkopf und ist nicht mit anderen Knochen verwachsen. Sehnen und insgesamt elf Muskeln verbinden ihn mit Unterkiefer, Zunge und Kehlkopf. Fürs Sprachvermögen ist das Zungenbein wichtig, denn die Muskeln, die hier ansetzen, verändern die Lage des Kehlkopfs und somit auch das Volumen des Stimmrohrs. Ein in Israel gefundenes Neandertaler-Zungenbein unterscheidet sich nicht von dem der Jetztmenschen. Doch daraus läßt sich nicht die Kehlkopfstellung ablesen. Außerdem haben manche Tiere ein ähnliches Zungenbein, ohne sprechen zu können, während Papageien menschliche Laute mit einem ganz anderen Vokaltrakt nachahmen können. Bislang liefern die anatomischen Untersuchungen also mehr Fragen als Antworten. Ob Neandertaler oder gar Homo erectus reden konnten, werden wir wohl erst mit Bestimmtheit wissen, wenn es eines Tages gelingen sollte, sie aus dem Erbgut in ihren Knochen zu klonen – dann würden wir nämlich merken, ob sie uns etwas zu sagen haben.

Bdw community FERNSEHEN In Kooperation mit bild der wissenschaft hat „nano“, das Zukunftsmagazin in 3sat, einen Fernsehfilm über die Sprache produziert. Lassen Sie sich überraschen! Erstausstrahlung in 3sat: Mittwoch, 24. Januar 2001 um 18 Uhr 30Wiederholungstermine in SWR, BRalpha, MDR, SFB B1, WDR finden Sie im Internet: www.3sat.de/nano/

FORUM In einem speziellen Internet-Forum können bdw-Leser untereinander und mit bdw-Redakteur Rüdiger Vaas über Ursprung und Evolution der Sprache diskutieren. Besuchen Sie die bdw-Homepage www.wissenschaft.de und klicken Sie auf „Forum“.

INTERNET Sprachen der Welt www.suite101.com/welcome.cfm/world_languages

Gefährdete Sprachen 209.52.189.2/article.cfm/1482/53162

Ursprung und Evolution der Sprache members.aol.com/ursprach/xurstart.htm

Sprachentwicklung und soziale Kognition www.infres.enst.fr/confs/evolang/actes/_actes73.html

LESEN Allgemeinverständliche aktuelle Einführungen: Die Evolution der Sprachen Spektrum der Wissenschaft Dossier, 2000, DM 16,80

Jean Aitchison The Seeds of Speech Cambridge University Press, 2000, DM 31,19

William H. Calvin, Derek Bickerton Lingua ex Machina MIT Press, 2000, DM 64,47, im Internet: williamcalvin.com/LEM/

Luigi L. Cavalli-Sforza Gene, Völker und Sprachen Hanser, 1999, DM 45,–

Terrence Deacon The Symbolic Species Penguin Books, 1998, DM 31,33

Steven Pinker Der Sprachinstinkt Droemer/Knaur, 1998, DM 24,90

Zur Entstehung des Sprechens: W. Tecumseh Fitch the evolution of speech Trends in Cognitive Sciences, 2000, Nr. 4, S. 258–2 67

Zum Aussterben der Sprachen: Daniel Nettle, Suzanne Romaine Vanishing Voices Oxford University Press, 2000, DM 69,66

Zu Sprache, Denken, Weltbild und Kultur: Günther Stoll, Rüdiger Vaas Spurensuche im Indianerland S. Hirzel, 2001, Kapitel 6, DM 68,–

Rüdiger Vaas

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