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Am Anfang war das „TIK“

Allgemein

Am Anfang war das „TIK“
Jahrtausende weit stoßen Linguisten in die Vergangenheit vor, um die Wurzeln der heutigen Sprachen auszugraben.

Mit grausamen Experimenten wollten Menschen immer wieder dem Ursprung der Sprache auf die Spur kommen. So hatten Kaiser Friedrich II. (1194 bis 1250) und Schotten-König Jakob IV. (1488 bis 1513) angeordnet, Neugeborene nicht anzureden und nur mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen, um herauszufinden, welche Sprache sie dann sprechen würden. Doch den Babys fehlten die Worte, sie starben früh. Und schon Psammetich I., Pharao von Ägypten im 7. Jahrhundert v.Chr., soll dem griechischen Historiker Herodot zufolge befohlen haben, daß zwei Kinder ihren Eltern weggenommen wurden und bei einem stummen Hirten und seinen Ziegen aufwuchsen. Nach zwei Jahren riefen die Kinder angeblich „ bekos, bekos“, was im Phrygischen „Brot“ bedeutet. Daraufhin akzeptierte Psammetich Phrygisch als Ursprache.

So leicht machen es sich Linguisten heute nicht. Doch im Verbund mit Archäologen und Genetikern haben sie erkannt, daß die heutigen Sprachen auf viele Jahrtausende alte Wurzeln zurückgehen. Allmählich wird auch klar, wie sie sich ausgebreitet und verändert haben. Am Anfang stand eine folgenreiche Entdeckung von William Jones. Der englische Orientalist fand im Jahr 1786 auffällige Ähnlichkeiten zwischen Sanskrit – seit dem 4. Jahrhundert v.Chr. die Kunstsprache der altindischen Nationalepen – und Griechisch, Latein, Keltisch und Gotisch.

Daraus schloß er auf einen verwandtschaftlichen Zusammenhang und war überzeugt, daß kein Philologe die Sprachen „prüfen könnte, ohne zu der Überzeugung zu gelangen, daß sie aus einer gemeinsamen Quelle entsprungen sind, die vielleicht nicht mehr existiert“. Sprachforscher untersuchten daraufhin akribisch Wortschatz, Lautinventar und grammatische Eigenheiten vieler Sprachen. Aus dem Grad der Gemeinsamkeiten zwischen den Einzelsprachen teilten sie diese in Gruppen, Familien und noch umfassendere Ordnungen – wie bei einem Stammbaum, und das schon Jahrzehnte bevor Charles Darwin seine epochale Abhandlung „Von der Entstehung der Arten“ über die Evolution der Lebewesen schrieb.

Inzwischen wurde die Verwandtschaft vieler Sprachen aufgeklärt. So lassen sich fast alle Sprachen Europas – außer Finnisch, Ungarisch, Baskisch und Etruskisch – und die iranische und indische Sprachgruppe auf eine gemeinsame Urform zurückführen, die sich im Verlauf von vielleicht 6000 Jahren in die heutigen Sprachen differenziert hat. Diese Sprachfamilie wird – nach der geografischen Ausbreitung – als Indoeuropäisch oder – nach der wichtigsten westlichen und östlichen Sprachgruppe – als Indogermanisch bezeichnet. Sie besteht aus 140 Einzelsprachen und ist nun, hauptsächlich aufgrund der Kolonisierungen seit dem 15. Jahrhundert, mit mehr als zwei Milliarden Sprechern weltweit dominant. Doch woher stammt sie?

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Im Jahr 1926 stellte der australische Historiker V. Gordon Childe die These auf, Indoeuropäisch habe seinen Ursprung in den Steppen nördlich des Schwarzen Meeres und sei auf den Übergang zwischen später Jungsteinzeit und Bronzezeit zu datieren. Anhand archäologischer Befunde assoziierte er die Sprecher mit der Kurgan-Kultur – Schnurkeramikern, deren Tongefäße zusammen mit Streitäxten in Nord- und Osteuropa zu Beginn der Bronzezeit in aufgeschütteten Erdhügeln (russisch: Kurgans) gefunden wurden, den Gräbern der Vornehmen.

In der Folgezeit gab es viele Auseinandersetzungen um die indoeuropäische Urheimat. Diese lag je nach politischer Gesinnung der Forscher oder ihrer Methode der Wortauswahl in Nord- oder Mitteleuropa oder aber nördlich des Schwarzen Meeres. Nach gängiger Meinung waren die Indoeuropäer ein nomadisches Reitervolk, das immer größere Gebiete eroberte und den Einheimischen ihre Sprache aufzwängte. Einige Forscher wie Marija Gimbutas von der University of California in Los Angeles nahmen an, daß die Kurgan-Invasion um 4000 v.Chr. nördlich des Schwarzen Meeres begann, die erste westwärts gerichtete Eroberungswelle um 3500 v.Chr. Griechenland erreichte und sich dann in mehreren Schüben nach Norden und Süden ausbreitete. Diese These wurde jüngst aus vielerlei Gründen attackiert:

Immer mehr Archäologen halten die Schnurkeramiker nicht mehr für ein Reitervolk, sondern für eine bereits seßhafte, aristokratische Gesellschaft. Die rekonstruierten indoeuropäischen Wörter für Landschaftsbeschreibungen passen weder zu den Steppen beim Schwarzen Meer noch zum mitteleuropäischen Flachland. Die Lautregeln im indoeuropäischen Konsonantensystem haben Thomas W. Gamkrelidse von der Universität Tiflis und Wjatscheslaw W. Iwanow vom Institut für Slawische und Balkan-Studien in Moskau korrigiert. Sie hatten zahlreiche Sprachen neu analysiert, auch ausgestorbene wie Tocharisch (überliefert in Texten aus China), Hethitisch und andere anatolische Sprachen (erhalten auf über 3000 Jahre alten Keilschrifttafeln). Die Kurgan-Hypothese kann nicht erklären, was riesige Horden berittener Krieger veranlaßt hat, am Ende des Neolithikums westwärts zu ziehen, um Europas Ureinwohner sprachlich und anderweitig zu unterdrücken, und wie diese Fremdsprachen-Invasion überhaupt möglich gewesen sein soll.

Eine neue Erklärung haben deshalb Gamkrelidse und Iwanow sowie unabhängig von ihnen der Archäologe Colin Renfrew von der University of Cambridge gegeben. Sie paßt viel besser zu archäologischen und linguistischen Daten: Danach hat sich das Indoeuropäische nicht mit Eroberungen, sondern mit der friedlichen Ausbreitung der Landwirtschaft durchgesetzt.

Der Anbau von Weizen und Gerste sowie Schaf- und Ziegenhaltung begannen wahrscheinlich vor über 8000 Jahren in mehreren benachbarten Gebieten zwischen der heutigen Türkei und dem Iran. Landwirtschaft und die damit verbundene Seßhaftigkeit krempelten wie kein anderes Ereignis Leben, Kultur und soziale Organisation der Menschen um. Und es kam zu einer Bevölkerungsexplosion, denn Ackerbau und Viehzucht können bedeutend mehr Menschen ernähren. Die für Jäger und Sammler typische Bevölkerungsdichte von einer Person pro zehn Quadratkilometer hat sich rasch verzehn- oder sogar verfünfzigfacht. Modellrechnungen zeigen, wie der Ackerbau – und mit ihm Indoeuropäisch – von Zentralanatolien aus binnen 1500 Jahren Nordeuropa erreicht haben könnte. Eine Unterwerfung der ursprünglichen Jäger und Sammler war nicht notwendig – ihre viel geringere Zahl hatte einfach zur Folge, daß ihre Sprache mit ihnen oder ihrer Lebensweise allmählich ausstarb, oder sie gingen in der Bevölkerung der neuen Kultur auf.

„Neue Technologien breiten sich mit dem Vokabular dafür aus“, sagt Colin Renfrew. „Wir streiten uns allerdings noch, ob es eine Wanderung von Bauern war, die die Sprache mitbrachten, oder ein Anpassungsprozeß, bei dem sich die einzelnen Sammler- und Jägervölker nach und nach das Wissen – und die Sprache – der benachbarten Bauerngruppen aneigneten.“ Das hat erhebliche Konsequenzen für die europäische Vorgeschichte:

Es gab eine größere Kontinuität als bislang angenommen. Der kulturelle Bruch durch die hypothetische Ankunft einer indoeuropäischen Wanderwelle hat nicht stattgefunden. Europa ist nicht Ausgangs-, sondern Endpunkt der Wanderungen. Die nationalsozialistisch ausgeschlachtete These von Ariern als Übermittler der indoeuropäischen Sprache und Kultur nach Indien trifft nicht zu: Für den Transfer sorgten indoeuropäisch sprechende Iraner. Einige Sprachen haben der indoeuropäischen Expansion getrotzt – vielleicht, weil die einheimische Bevölkerung die Landwirtschaft selbst entwickelte oder aber von ihren Nachbarn übernahm, ohne sich mit ihnen zu vermischen. Dies könnte die Existenz einiger Sprachinseln erklären, die nicht zum Indoeuropäischen gehören, beispielsweise heute noch das Baskische oder die etruskische Sprache Mittelitaliens, die bis in römische Zeiten gesprochen wurde. Auch das Überdauern des Iberischen, einer frühen Sprache Spaniens, oder des Piktischen, einer vorkeltischen Sprache Schottlands, wäre so verständlich. Nicht nur Indoeuropäisch hat sich mit dem Ackerbau verbreitet, sondern auch die Bantu-Sprachen Afrikas, das Drawidische Indiens sowie in Südostasien Austroasiatisch und die austronesischen Sprachen, die sowohl nach Madagaskar als auch über Borneo, Neuguinea, Melanesien zu den Osterinseln expandierten. Sie alle haben ihre Wurzeln, wo Landwirtschaft entstand.

Auch die Molekulargenetiker basteln am Sprachenstammbaum der Menschheit mit. Einzelsprachen sind zwar nicht genetisch determiniert, sondern von der sprachlichen Gemeinschaft, in der ein Mensch aufwächst. „Aber wenn diese sich aufspaltet, werden sich sowohl der Gen-Pool als auch die Sprache auffächern, und daher verläuft die Geschichte von Genen und Sprachen im wesentlichen parallel“, faßt Luigi L. Cavalli-Sforza von der Stanford University den Forschungsansatz zusammen. Seine Analysen und die vieler anderer Wissenschaftler haben gute Übereinstimmungen mit den Linguisten erzielt.

Die Gen-Daten passen zu noch kühneren Ansätzen der kalifornischen Linguisten Joseph Greenberg und Merritt Ruhlen. Diese suchen nicht mehr nach einzelnen „Lautgesetzen“, um Sprachverwandtschaften zu ermitteln, sondern verwenden einen statistischen Massenvergleich, um noch tiefer in die Vergangenheit vorzustoßen. Damit werden Hunderte von Grundwörtern aus Dutzenden verschiedener Sprachen nach Ähnlichkeiten durchmustert. Dadurch gelang es Greenberg, fast alle afrikanischen Sprachen in vier und die Sprachen der amerikanischen Ureinwohner in drei große Familien zu gruppieren. Diese entstammen – wie die rund 20 anderen bekannten Sprachfamilien – einzelnen Ursprachen, die bis zu 10000 Jahre alt sind. Obwohl Kritiker schon diese Verwandtschaftskunde als zu unzuverlässig ablehnen, haben Greenberg und Ruhlen sowie ihre russischen Kollegen versucht, noch tiefer zu graben. Sie glauben, Indizien für einige wenige Superfamilien gefunden zu haben, die fast alle bekannten Sprachen in sich vereinigen. Eine davon wird Eurasiatisch oder Nostratisch genannt und umfaßt neben Indoeuropäisch beispielsweise auch Türkisch, Mongolisch, Koreanisch, Japanisch. Cavalli-Sforza sieht verblüffende Parallelen in seinen Gen-Karten.

Theoretisch könnte mit diesen Verfahren sogar auf eine einzige Ursprache rückgeschlossen werden, die dann wohl wie der anatomisch moderne Mensch aus Afrika stammen würde. Merritt Ruhlen hat versucht, einige Wortwurzeln zu (re)konstruieren, in denen noch ein schwaches Echo davon nachklingen soll. So habe sich das Urwort „tik“ (eins) zu Nilosaharisch „dik“ (eins), Eskimo „tik“ (Zeigefinger), Kede „tong“ (Arm), Proto-Afroasiatisch „tak“ (eins), Proto-Austroasiatisch „ktig“ (Arm, Hand) sowie zu Proto-Indoeuropäisch „deik“ (zeigen) und daraus zu Lateinisch „digitus“ (Finger) entwickelt. Auch „zeigen“ , „Zeichen“ und „Zeh“ sind laut Ruhlen mit „tik“ verwandt.

Daß bei der Suche nach solchen ersten Wörtern Vorsicht angebracht ist, zeigt allerdings schon die Geschichte von Psammetich I. Die armen Waisenkinder hatten wohl nicht „bekos, bekos“ gesagt, so argumentiert der Bonner Linguist Johann Knobloch, sondern Herodots Gewährsleute hatten die Laute mit der griechischen Endung -os ins eigene Sprachraster gepreßt. Ursprünglich riefen die Kinder wohl eher „bekbek“, womit sie die Laute der Ziegen nachahmten – die einzige „Sprache“, die sie jemals gehört hatten.

Kompakt Aus der Ähnlichkeit von Wortschatz und Grammatik der Sprachen, aber auch aus der genetischen Verwandtschaft der Sprecher, lassen sich Sprachen-Stammbäume und gemeinsame Urwörter rekonstruieren. Die Zugehörigkeit vieler Sprachen zu Sprachfamilien beruht nicht, wie früher gedacht, auf Eroberungen, sondern auf der Ausbreitung der Landwirtschaft. Dies gilt auch für die indoeuropäische Sprachfamilie, zu der das Deutsche zählt. Von den heute noch rund 6000 Sprachen weltweit sind ein Drittel vom Aussterben bedroht.

Sprachen in Gefahr! Die Verschiedenheit der Sprachen ist das wohl faszinierendste Zeugnis von der Vielfalt der menschlichen Natur. Heute gibt es weltweit noch ungefähr 6000 Sprachen, die meisten davon ohne schriftliche Form. Einige lassen sich nur schwer voneinander abgrenzen, da es viele Übergänge von Dialekten gibt. Vor 15000 Jahren, also vor der Erfindung der Landwirtschaft, existierten schätzungsweise 10000 Sprachen, obwohl die Zahl der Menschen damals vielleicht ein Fünfhundertstel von heute betrug.

Inzwischen sterben mehrere Sprachen pro Jahrzehnt mit ihrem letzten Sprecher. Und viele weitere Sprachen leben nur noch im Kopf von ein paar Dutzend alten Menschen fort, deren Kinder bereits mit einer anderen Sprache aufwuchsen. Rund ein Drittel aller Sprachen weltweit sind akut bedroht, da sie mittlerweile weniger als 1000 Sprecher haben. Und bis zu 90 Prozent aller heutigen Sprachen könnten in 200 bis 300 Jahren verschwunden sein, befürchten Linguisten. Die Situation ist also viel katastrophaler als in der Ökologie, wo derzeit zehn Prozent der Säugetiere und fünf Prozent der Vögel vom Aussterben bedroht sind. „Rote Listen“ allein können das Sprachensterben nicht verlangsamen oder gar verhindern. Ebenso illusorisch – und unwürdig – wäre es, Reservate für die letzten Völker ihrer Art anzulegen und wie Zoos zu pflegen.

Politische Rahmenbedingungen sind aber unerläßlich. Denn die Toleranz und Förderung von Zwei- und Mehrsprachigkeit ist wohl die einzige Möglichkeit, Sprachen vor dem Aussterben zu bewahren. Beim Erstellen von Wörterbüchern und Grammatiken sowie beim Training muttersprachlicher Lehrer ist die Hilfe von Sprachwissenschaftlern unverzichtbar. Die andere große Aufgabe der Linguisten besteht in einer möglichst umfassenden Dokumentation der bedrohten Sprachen. Der Schatz an Wörtern, grammatischen Strukturen, Ausdrucksmitteln und nicht zuletzt Denkweisen und Weltinterpretationen, der mit dem Verschwinden der Sprachen verlorengeht, ist unermeßlich. Weil viele Sprachen nur rudimentär erfaßt sind, läßt sich der geistige, kulturelle und wissenschaftliche Verlust kaum abschätzen

Rüdiger Vaas

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
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  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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