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Der Schwindel mit dem Schwindel

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

Der Schwindel mit dem Schwindel
Simulanten täuschen Krankheiten und psychische Schäden vor, um sich eine Frührente oder Schmerzensgeld zu erschleichen. Jetzt können Psychotests die Betrüger aufspüren.

Bei Dem Unfall hatte der Beifahrer schwere Kopfverletzungen mit einem Hirninfarkt erlitten – daran bestand kein Zweifel. Trotzdem wurde der Gutachter Thomas Merten vom Berliner Klinikum im Friedrichshain misstrauisch, als er den jungen Mann im Auftrag der Versicherung des Schuldigen untersuchte. Angeblich hatte der Patient aufgrund des Unfalls seine Erinnerung verloren. Doch er erzählte mühelos Erlebnisse aus seiner Vergangenheit.

Vollends alarmiert war der Experte, als er den Patienten rechnen ließ: 3 plus 3 ergab bei ihm 5, 10 minus 6 machte 3 und 3 mal 5 war 14. Fast immer verrechnete er sich um eins. Dem Psychologen war keine Störung bekannt, die zu dieser eigenartigen Zahlenschwäche führt. Es war klar: Um so präzise daneben zu liegen, musste der Mann rechnen können. Wollte er eine höhere Entschädigung von der Versicherung herausholen? Der Gutachter konfrontierte den Patienten mit dem Befund, dass die Rechenschwäche vorgetäuscht sei. Das wirkte: Der Mann konnte plötzlich korrekt addieren und multiplizieren. Der Proband hatte offensichtlich simuliert. Doch nur selten haben es Versicherungsgutachter mit so leicht zu durchschauendem Betrug zu tun. Deshalb haben die Experten in den letzten Jahren raffinierte Tests entwickelt, die aufdecken sollen, ob ein Patient tatsächlich einen geistigen Aussetzer hat oder ob er simuliert. 2006 veröffentlichte Merten zusammen mit Kollegen von der Forensischen Psychiatrie der Universität Tübingen eine Glaubhaftigkeitsstatistik (siehe „Was kann man glauben?“ auf der nächsten Seite), die mit Hilfe der neuen Tests erstellt wurde. 235 Menschen waren im Auftrag von Versicherungen und Gerichten begutachtet worden. Sie litten nach eigenen Angaben unter Denkstörungen – hervorgerufen durch Gehirnerschütterungen, Gehirnprellungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Schleudertraumata der Halswirbelsäule oder psychische Erkrankungen wie Depressionen und Ängsten.

Ist Versicherungsbetrug zum Volkssport geworden? Eine Beobachtung in Litauen bestätigt diesen Verdacht: Als es dort noch keine Haftpflichtversicherung gab, hatten Opfer von Auffahrunfällen zwar auch oft Probleme mit der Halswirbelsäule. Doch daraus entwickelten sich nur selten die chronischen Schleudertraumata, wie sie in rundum versicherten Ländern wie Deutschland verbreitet sind. Der Neurologe Peter Henningsen von der TU München glaubt allerdings, dass die Beschwerden oft nicht inszeniert sind, sondern unbewusst ablaufen – wie bei einem Kind, das durch sein Geschrei mehr Zuwendung von der Mutter haben will. Wozu sollte man sich nach einem Unfall beim Arztbesuch zusammennehmen, wenn das nur Nachteile bringt?

MACHT DEPRESSION HUNGRIG?

Um den echten Betrügern auf die Spur zu kommen, entwickelten US-Forscher den „Strukturierten Fragebogen Simulierter Symptome“, der auch ins Deutsche übersetzt wurde. Mit dem sollen Betrüger identifiziert werden, die eine der fünf gängigen Störungen vortäuschen: verminderte Intelligenz, Depressionen, neurologische Beeinträchtigungen, Psychosen oder Gedächtnisprobleme. Dafür mischten die Tester realistische Aussagen mit solchen, die für eine Störung untypisch sind. Würde zum Beispiel ein Mensch mit niedriger Intelligenz behaupten, die Hauptstadt von Italien sei Ungarn? Würde ein Schwermütiger sagen: Je depressiver ich bin, um so mehr möchte ich essen? Meint ein Psychotiker, dass Telefonnummern nicht zufällig zugeteilt werden, sondern etwas über die Pläne Gottes aussagen? Und kann man sich erinnern, ob man jemals verheiratet war, wenn man an Gedächtnisproblemen leidet?

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Forscher der Rheinischen Kliniken in Düren testeten den Fragebogen an 204 Medizin- und Psychologiestudenten der Universität Bonn. Die meisten sollten ihn auf Wunsch der Forscher manipulieren. Sie sollten sich beispielsweise vorstellen, sie seien wegen schwerer Körperverletzung festgenommen worden und wollten nun eine verminderte Schuldfähigkeit attestiert bekommen. Der Test entlarvte 86 Prozent der Trickser. Auf der anderen Seite beschuldigte er keinen, der ehrlich geantwortet hatte, zu Unrecht. Auch 62 Patienten der Gerichtspsychiatrie Düren, von denen viele schwere Straftaten begangen hatten, bekamen den Test vorgelegt. Sie sollten ihn ehrlich beantworten. Bei einer Reihe der Täter verrieten die Akten, dass sie zum Vortäuschen von Krankheiten neigten oder anderweitig betrogen. Immerhin zwei Drittel derer, die beim Test durchfielen, gehörten zu dieser Gruppe.

psychologisches Wettrüsten

Der Test trennt die weißen von den schwarzen Schafen also nicht perfekt, aber er liefert starke Indizien. „Die Erfahrung zeigt, dass sich Gutachter, die ohne Simulationstest arbeiten, leicht täuschen lassen“, meint Merten. Allerdings: Neuropsychologische Standardtests, die einfach nur Kranke von Gesunden unterscheiden sollen, helfen den Gutachtern nicht viel weiter: In einer Studie konnten die Experten kaum erkennen, ob die Testprofile von echten Patienten mit einem Schädel-Hirn-Trauma stammten oder von Simulanten. Einige Fachleute rieten sogar auf Zufallsniveau herum.

Ein weiteres Problem für die Experten: Die Patienten wissen oft besser über ihr Leiden Bescheid als die Gutachter. Sie erinnern sich, wozu sie kurz nach einem Unfall in der Lage waren und können diesen Zustand simulieren. Viele Ärzte neigen überdies dazu, die Angaben der Patienten nicht zu bezweifeln, da sie das Gefühl haben, auf deren Seite zu stehen. Und: Wenn die Gutachter mit Tests zur Erkennung von Tricksereien aufrüsten, zieht die Gegenseite mit. In den USA präparieren windige Anwälte ihre Klienten gezielt für solche Tests. Ein nordamerikanischer Testverlag empfahl den Gutachtern bereits per Rundschreiben, das Deckblatt mit dem Namen des Tests außer Sichtweite des Patienten zu legen, damit dieser nicht auf die richtige Gegentaktik einschwenke. Gleichzeitig bemühen sich die Forscher darum, möglichst fälschungssichere Verfahren zu entwickeln.

Ziemlich gut funktioniert ein kanadischer Gedächtnistest, den Merten an deutsche Verhältnisse angepasst hat. Er ist so leicht, dass ihn auch geistig Behinderte und Patienten mit massiven Schädel-Hirn-Verletzungen meistern. Aber er wirkt so schwer, dass Simulanten eine schlechte Leistung für angebracht halten. Die Neuropsychologin Robbi Brockhaus vom Alexianer-Krankenhaus in Krefeld bat Psychologiestudenten und Gedächtnisexperten, den Test zu überlisten, um angeblich ein ordentliches Schmerzensgeld herauszuschlagen. Ergebnis: Der Test war nicht auszutricksen – er unterschied die Simulanten perfekt von den ehrlichen Teilnehmern.

In seltenen Fällen siegt das schlechte Gewissen reumütiger Simulanten, und sie sind sogar froh darüber, dass ihr Versteckspiel ein Ende hat. Ein Beispiel: Ein 50-jähriger Mann, der anderthalb Jahre lang über Schwindelgefühle, Kopfschmerzen und Denkstörungen geklagt hatte, glänzte mit extrem schlechten Testergebnissen. Misstrauisch wurde der Gutachter, als der Patient eine so lange Reaktionszeit hatte, wie sie allenfalls bei schwer Demenzkranken beobachtet wird. Doch noch bevor der Mann mit dem Verdacht konfrontiert wurde, vertraute er sich dem Psychologen an: Er hatte eine Frührente erschleichen wollen, weil er als Alkoholiker keine beruflichen Perspektiven mehr sah. Nun konnte dem Mann endlich geholfen werden. ■

Jochen Paulus

Was kann man Glauben?

Diagnose Simulationsverdacht in Prozent

Posttraumatische Belastungsstörung 51,1

Gehirnerschütterung 42,6

Gehirnprellung 45,6

Psychische Störung 44,4

Schleudertrauma 20,0

Im Auftrag von Versicherungen und Gerichten untersuchten Wissenschaftler der Universität Tübingen 235 Menschen, die angeblich unter Denkstörungen unterschiedlicher Ursache litten. Ihre Tests ergaben oft einen Simulationsverdacht.

Kompakt

· Manche Betrüger entlarven sich durch ihre primitive Taktik selbst.

· Forscher haben Tests entwickelt, die auch raffinierte Simulanten überführen.

· Die wiederum versuchen Strategien zu entwickeln, um die Tests zu überlisten.

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