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Ein Medikament für mich allein

Allgemein

Ein Medikament für mich allein
Maßgeschneiderte Arznei – das verspricht die Fusion von Gen- und Computertechnik, die Pharmacogenomic. Jedes Jahr sterben Tausende von Menschen, weil sie Standardmedikamente nicht vertragen. Ein neuer Diagnose-Automat könnte dies verhindern.

Besorgt betrachtet die Ärztin ihren fiebrigen Patienten. „Wir machen jetzt eine Chip-Analyse, und dann sehen wir, ob sich mein Verdacht bestätigt und welche Therapie die beste ist.“ Sie nimmt eine kleine Lanzette und sticht dem Kranken ins Ohrläppchen. Blut quillt hervor. Die Ärztin tropft es in ein fingernagelgroßes flaches Kästchen. Sie geht damit zu einem Apparat, der entfernt an einen CD-Player erinnert. Sie läßt das Kästchen von der Ladeluke in den Apparat ziehen und startet das Analyse-Programm.

Wenige Minuten später erscheint das Ergebnis auf ihrem Bildschirm. „Es ist wirklich Tuberkulose“, erklärt sie, „unglücklicherweise einer der neuen resistenten Stämme. Wir können Ihnen also keines der gängigen Medikamente wie Rifampizin und kein Ethambutol geben. Wir müssen auf andere Mittel ausweichen. Die Analyse Ihrer DNA zeigt mir aber, daß Sie das neueste Therapeutikum nicht gut vertragen würden. Der Rechner schlägt statt dessen eine speziell für Sie geeignete Kombination an Wirkstoffen vor, hochdosiert, weil Ihre Leber so aktiv ist, daß sie die Medikamente sonst zu rasch abbauen würde.“

Noch ist diese Szene eine Vision, aber bereits in einigen Jahren wird sie sich so oder ähnlich in Deutschlands Krankenhäusern abspielen. In der Medizin haben Genforschung und Computertechnologie Hochzeit gefeiert. Die Forscher sehen immer klarer, wie die Erbinformation eines einzelnen Menschen den Verlauf einer Krankheit und den Behandlungserfolg beeinflußt. Pharmacogenomic heißt der neue Forschungszweig.

Zugleich entstehen die ersten computerunterstützten Apparate, mit denen die Ärzte zum ersten Mal Tausende von Gendaten innerhalb weniger Stunden auswerten können. Genchips heißen die neuen Wunderwaffen. Mit der Kombination von Pharmacogenomic und Chip soll es bald maßgeschneiderte Medikamente für jeden einzelnen Patienten geben.

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„Sie werden die nächste Revolution in der Medizin einläuten“, glaubt Francis Collins, Direktor des US-amerikanischen Human Genome Research Institute. „Bisher träumten die Pharmafirmen von dem einen guten Medikament, mit dem sie alle Patienten behandeln können, die an der gleichen Krankheit leiden“, erklärt Daniel Cohen, Vorstandssprecher der französischen Biotech-Firma Genset SA in Paris. „Aber das Leben ist anders.“ Wie die Pharmaforscher erkennen mußten, sind Menschen auch auf molekularer Ebene höchst unterschiedlich. Ähnlich wie es resistente Bakterien gibt, gibt es auch medikamentresistente Menschen.

Ein Beispiel: Das Antidepressivum Prozac kann krankhafte Schwermut effizient vertreiben und hat nur wenige Nebenwirkungen. Unglücklicherweise wirkt es nur bei etwa 40 Prozent aller Patienten. Bis jetzt haben die Nervenärzte nur eine Möglichkeit: Sie verschreiben das Medikament und warten, ob es wirkt. Wenn nicht, probieren sie ein anderes Antidepressivum. So können Monate vergehen, bis sie zusammen mit dem Patienten einen geeigneten Wirkstoff gefunden haben. Für schwer depressive Menschen, die von Selbstmordgedanken gequält werden, eine katastrophale Situation.

Andere Medikamente wirken bei 99 Prozent aller Patienten ohne Komplikationen. Bei einem Prozent aber haben sie schwerste, zuweilen lebensbedrohliche Nebenwirkungen. Bisher gab es keine Möglichkeit diese Gefahren vorherzusagen. „Die Ärzte wagen bei jeder Therapie einen Schuß ins Blaue“, sagt George Poste, Forschungsleiter beim Pharmariesen SmithKline Beecham.

Wie bedrohlich die Situation ist, zeigte eine Studie, die im letzten Jahr im Fachblatt Journal of the American Medical Association (JAMA) veröffentlicht wurde. Danach leiden in den USA im Durchschnitt etwa zwei Millionen Menschen pro Jahr unter Nebenwirkungen von Medikamenten.

Etwas mehr als 100000 von ihnen sollen durch falsche oder falsch dosierte Arzneimittel sterben. Damit wären Nebenwirkungen die vierthäufigste Todesursache in den USA. Weniger krass sind die Schätzungen für Deutschland. Hochrechnungen des Bremer Zentralkrankenhauses ergaben vor einigen Jahren etwa 4000 Tote durch die Nebenwirkungen von Medikamenten. An der Hochschule Witten/Herdecke schätzt man, daß hierzulande rund 2000 Menschen jedes Jahr an ärztlich verordneten Medikamenten sterben.

Inzwischen haben die Forscher einige der Schuldigen an diesem Debakel ermittelt. Es sind ein paar Dutzend Enzyme im menschlichen Körper, die sich mit der Entsorgung von Arzneimitteln beschäftigen. Sie knacken die Wirkstoffe und heften ihnen biochemische Markierungen an mit der Anweisung „Gefährlicher Sondermüll – entsorgen!“. Oder sie machen sie für den Abtransport über die Niere fertig. Viele dieser Entgifter-Enzyme sitzen in der Leber. Sie arbeiten aber nicht in allen Menschen gleich gut.

Dr. Jürgen Brockmüller vom Berliner Universitätsklinikum Charité hat das Leberenzym CYP2D6 genauer untersucht. CYP2D6 verarbeitet unter anderem Hustenmittel und Blutdrucksenker. Der Berliner entdeckte, daß es mindestens 19 verschiedene Genvarianten dieser Entgifter gibt. „Manche Menschen haben die genetische Information für dieses Enzym sogar doppelt“, erklärt Brockmüller, „während andere nur schwache Enzyme haben. Für sie können die Medikamente eine große Belastung darstellen.“ Die Forscher können inzwischen mit einem Gentest sehr präzise vorhersagen, wie ein Patient auf bestimmte Medikamente reagiert.

Neben unerwarteten Arzneimittelwirkungen müssen Patienten noch mit anderen Unsicherheiten leben: Von krankheitserregenden Bakterien und Viren gibt es oft viele Untertypen. Manche lassen sich gut mit bestimmten Antibiotika oder Chemotherapeutika bekämpfen, gegen andere sind die Keime resistent. Oft verbergen sich hinter einer Bezeichnung verschiedene Erkrankungen. Es gibt viele Arten von Brustkrebs, je nachdem welche molekulare Sicherung durchgebrannt ist. Jede Krebsart braucht eine andere Therapie. „Wir wollen dem Patienten sagen kön-nen, wie gut ein bestimmtes Medikament bei ihm wirken wird – und das, bevor er es genommen hat“, erklärt Dr. Michele Pedrocchi von Hoffmann-LaRoche in Basel. Wie sich Roche die Zukunft vorstellt, haben die Forscher an ihrem Antitumormittel Herceptin demonstriert, das gerade in der EU zugelassen wird.

Herceptin wirkt gegen Brustkrebs, aber nur gegen einen ganz bestimmten Tumortyp. Bei diesen Krebszellen sitzen auf der Außenseite zu viele molekulare Wachstumsregulatoren – HER2 getauft – und treiben sie in einen tödlichen Vermehrungszyklus. Herceptin findet diese Regulatoren und schaltet sie ab. Dieses neue Mittel wirkt nur bei Brustkrebs, der durch zuviel HER2 ausgelöst wird, bei allen anderen Krebsformen ist es wirkungslos. Darum gibt es für Herceptin ein spezielles Diagnostikverfahren, mit dem die gefährlichen Wachstumsregulatoren nachgewiesen werden können. Nur zusammen mit dem Nachweisverfahren ist das Krebsmittel sinnvoll.

„So wirken moderne Medikamente“, meint Michele Pedrocchi. „Im Gegensatz zur breit anwendbaren Chemotherapie werden sie nur noch einer kleinen, bestimmbaren Gruppe von Patienten helfen, diesen Menschen aber viel effektiver und mit weniger Nebenwirkungen.“

Bei Herceptin ist der Vorweg-Nachweis einfach. Hier muß nur ein Parameter bestimmt werden. Aber wie sieht es aus, wenn gleichzeitig die Wirkung und Verträglichkeit mehrerer Therapeutika getestet werden soll? Viele Mediziner verfügen zwar über Diagnoselabore, in denen sie Zellen und Gene analysieren lassen können. Aber bis heute braucht man für jeden untersuchten Einzelfaktor Proberöhrchen, Farbstoffe, Antikörper, DNA-Sonden und Trenngele. Die Proben müssen für jeden Analyseschritt von einem Gefäß in ein anderes gefüllt oder mit einer neuen Chemikalie versetzt werden. Das kostet Material, Zeit und Geld. Würden die Ärzte alles analysieren, was möglich ist, fielen bei den Untersuchungen außerdem riesige Datenmengen an, die von einem Menschen kaum zu sichten wären. Dazu braucht man eine direkte Kopplung von Genanalyse und Computerauswertung.

Die kalifornische Firma Affymetrix hat gezeigt, wie ein sinnvoller Gencheck aussehen könnte. Sie entwarf den ersten kommerziellen Genchip. Dieses streichholzschachtelgroße Analysegerät enthält die gesamte Erbinformation aller Aids-Virus-Typen, inklusive aller Mutationen. Zusammen mit einem speziellen Computerprogramm kann es dem Arzt innerhalb von fünf Stunden mitteilen, an welcher HIV-Mutante der Patient erkrankt ist. Bisher werden dafür Blut- oder Spermaproben in Speziallabore geschickt, und der Arzt erfährt das Ergebnis erst nach einigen Tagen. Affymetrix will das Computerprogramm noch verfeinern. Es soll dem Arzt demnächst auch mitteilen, welche Medikamentenkombination für einen speziellen Patienten die beste wäre.

Die USA haben bei der Entwicklung der Genchips einen großen Vorsprung. Doch auch mehrere deutsche Firmen sind in die Forschungen eingestiegen. Vorreiter hierzulande ist die Freiburger Firma BioChip. Sie hat jetzt ihren ersten Genchip auf den Markt gebracht – zum schnellen Nachweis von Krankheitskeimen in Lebensmittel. „Die Suche nach Bakterien in Tiefkühlkost unterscheidet sich chiptechnisch nicht grundsätzlich von der nach Viren im menschlichen Körper“, meint Geschäftsführer Dr. Hubert Bernauer. „Low Cost, High Tech“ nennen die Freiburger ihre Einstiegsstrategie. „Medizinische Verfahren brauchen Jahre bis zur Zulassung. So lange wollten wir aber nicht ins Blaue hineinforschen“, erklärt Bernauer. Später will die Firma auch in den medizinischen Diagnostikbereich vordringen.

Die Aussichten sind verlockend. Zur Zeit werden weltweit etwa eine halbe Milliarde Dollar für Gendiagnostik ausgegeben. Experten erwarten noch Zuwachs: Bis zum Jahr 2005 soll der Markt auf sechs Milliarden Dollar wachsen.

Bei Affymetrix glaubt man, daß Genchips bald zum Standardinstrument der Ärzte werden. Es gibt bereits Forschungs-chips, bestückt mit 6000 menschlichen Genen. Manche Forscher denken schon an Standardtests für Babys. Jeder Mensch wird dann bei seiner Geburt per Diagnosechip durchgecheckt. So könnten Erbkrankheiten wie die Phenylketonurie frühzeitig erkannt werden. Diese Stoffwechselkrankheit führt unbehandelt zu Hirnschäden und Schwachsinn. Wenn sie aber rechtzeitig erkannt wird, ermöglicht eine spezielle Diät ein sonst normales Leben.

Doch nicht alle Forscher sind von Pharmacogenomic und Genchips überzeugt. William Haseltine, Gründer der Genforschungsfirma Human Genome Sciences in Rockville im US-Bundesstaat Maryland, fürchtet, daß die Pharmaforschung in die falsche Richtung läuft. „Es wird nicht mehr darum gehen, die besten Arzneimittel für aktuelle Krankheiten zu entwickeln, sondern die Leute zu finden, die genetisch zu den Medikamenten passen, welche die Pharmafirmen verkaufen wollen.“ Zum Beispiel durch den erwähnten Routine-Gencheck nach der Geburt.

Eine Gefahr liegt auch in der Technik selbst. Der Stoffwechselforscher Irvine Wainer von der McGill Universität warnt die Ärzte, ihren Apparaten und den Gendaten zu sehr zu trauen: „Die Gene sind nicht an allem schuld. Ihr Einfluß verändert sich auch mit dem Krankheitsverlauf.“ Wainer entdeckte, daß sich bei Aids-Patienten mit der Zeit einige Stoffwechselprozesse verlangsamen. Auch bei den Leberenzymen, die Jürgen Brockmüller untersucht, hängt die Aktivität von äußeren Umständen ab.

Umweltgifte – etwa Tabakrauch -, aber auch Medikamente verändern den Arzneimittelstoffwechsel. Manche Schüler vertrauen ihrem Taschenrechner, auch wenn er defekt und das Ergebnis offensichtlich unsinnig ist. Genauso könnten unerfahrene Ärzte die Zahlen und Daten, die ihnen ein Genchip liefert, akzeptieren, ohne den ganzen Patienten untersucht und seine Krankengeschichte berücksichtigt zu haben.

Genchips verhelfen dem Arzt nicht zu einer Komplettdiagnose aus dem Automaten. Die Pharmacogenomic wird zwar ein wichtiges Hilfsmittel sein. Doch die Ärzte werden erst lernen müssen, deren Tücken und Mißdeutungsgefahr richtig einzuschätzen. Die menschliche Zuwendung kann sie ohnehin nicht ersetzen.

So funktioniert der Genchip Die Grundplatte eines Genchips besteht meist aus einem ganz einfachen Material: Glas. Mit einer Spezialtechnik werden für eine bestimmte Diagnose DNA-Schnipsel aus einer Bank mit Mustergenen ausgewählt und an die Glasplatte geheftet – entweder Gene für verschiedene Krankheiten oder unterschiedliche Mutationen eines bestimmten Gens. Der Chip der US-Firma Affymetrix ist zum Beispiel mit allen Genen des Aids-Virus und seiner Mutationen bestückt. Auf dem Biochip des Freiburger Unternehmens BioChip sitzen dagegen nur wenige markante Gene der Bakterien, die Lebensmittel verderben können. Die Felder könnten aber auch Sequenzen von Krebsgenen oder beliebigen anderen Genen enthalten. Das Ergebnis sieht aus wie ein Schachbrett mit Tausenden von Feldern.

Für die Diagnose nimmt der Arzt eine Blut- oder Gewebeprobe. Mit der Polymerase-Ketten-Reaktion – einer Art Genkopierer – vervielfältigt er die Teile der Erbinformation, auf die es ankommt, und markiert sie gleichzeitig mit Farbstoffen.

Dann tropft er diese Mischung auf den Genchip. Wenn Teile der Erbinformation aus dem Blut des Patienten mit Genabschnitten auf dem Chip übereinstimmen, bleiben sie wegen ihrer dazu passenden Molekülstruktur daran hängen. Bei einem Tumorpatienten haften die defekten Krebsgene, bei einem Aids-Patienten mit einer bestimmten HIV-Mutante nur die Virusgene für diese mutierte DNA.

Der Arzt schiebt jetzt den Chip in ein Lesegerät. In einem feinen Lichtstrahl leuchten die Farbstoffe auf, mit denen die Patienten-DNA markiert wurde. Das Lesegerät überträgt die Daten an einen Computer. Der Rechner ist so programmiert, daß er weiß, was jeder einzelne Punkt auf der Glasplatte medizinisch bedeutet. Er entschlüsselt die Fakten und teilt sie dem Arzt mit.

Thomas Willke

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