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Dichtung und Wahrheit

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Dichtung und Wahrheit
Was ist dran an der Pannenserie der Bahn? Das „Unternehmen Zukunft” kommt aus den Schlagzeilen nicht mehr heraus. Immer wieder melden die Medien Unfälle. bild der wissenschaft hat den Wahrheitsgehalt von drei Thesen zum Thema Bahnsicherheit untersucht.

These 1: In den letzten Monaten haben sich die Unfälle bei der Bahn gehäuft. Im westfälischen Minden entgleiste ein Regionalzug wegen eines Radbruchs. Bei Göttingen brannte ein Güterwagen. In Immenstadt im Allgäu rammte ein Interregio einen Intercity, weil eine Weiche unter dem Zug verstellt worden war. In Hannover fuhr eine Rangierlok frontal auf einen Güterzug. Die Liste von Bahnunglücken aus den letzten Monaten ließe sich weiter fortsetzen.

Sprechen die Unfallberichte für sich? Die Experten meinen, nein. “Heute wird jede Entgleisung beim Rangieren gemeldet”, sagt Edmund Mühlhans, Professor für Eisenbahnwesen an der Technischen Universität Darmstadt.

Sein Kollege Thomas Siefer von der Universität Hannover pflichtet ihm bei: “Alles, was passiert, wird publiziert.” Seit der Katastrophe von Eschede vor einem Jahr kämen viele Unfälle in die Medien, die früher keine Zeile wert gewesen wären. Jörn Pachl, der an der Universität Braunschweig Eisenbahnwesen und Verkehrssicherung lehrt, ist überzeugt: “Läßt man Eschede beiseite, ist 1998 nicht mehr passiert als früher.”

Für den März dieses Jahres haben zwar auch die Fachleute eine außergewöhnliche Serie von Unglücken festgestellt. Doch sie halten das lediglich für eine Laune des Zufalls. “So wie es ab und zu kalte Sommer gibt”, sagt Mühlhans.

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1971 sei es ebenfalls zu überdurchschnittlich vielen Unfällen gekommen, berichtet der Darmstädter Professor. Selbst im nachhinein habe sich damals keine gemeinsame Ursache finden lassen. Damit rechnet er auch bei der jüngsten Pechsträhne.

Konkrete Zahlen von der Deutschen Bahn zu bekommen, sei allerdings schwierig, bemängelt Mühlhans. Seit sie zur Aktiengesellschaft mutierte, rücke sie kaum noch Daten heraus: “Wir werden heute wie Spione behandelt.”

Nach der Kritik der Öffentlichkeit an der Bahn in den letzten Monaten präsentierte deren Chef Johannes Ludewig allerdings stolz eine Statistik, der zufolge die Bahnbetriebsunfälle in den letzten sieben Jahren um 38 Prozent abgenommen haben – in Fachkreisen gilt sie als glaubwürdig.

Eschede, 3.6.1998

Auch ein Jahr nach der Katastrophe von Eschede, die 101 Menschen das Leben kostete, gibt es keine völlige Klarheit über die Unfallursache. Fest steht: Sechs Kilometer vor der Unglücksstelle brach ein Radreifen des ICE “Wilhelm Conrad Röntgen”. Er brachte den Zug an einer Weiche zum Entgleisen. Ein Waggon prallte bei Tempo 200 gegen den Pfeiler einer Brücke, die einstürzte und einen Teil des Zugs unter sich begrub.

Außer bei Eschede gab es im Hochgeschwindigkeitsverkehr der Bahn bislang keinen größeren Zwischenfall, weder beim ICE, der seit 1991 rund 150 Millionen Fahrgäste beförderte, noch beim Shinkansen, der in Japan seit 35 Jahren über die Gleise saust, noch beim TGV, der seit 1981 durch Frankreich fährt.

Nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes passierten 1997 im Bahnverkehr rund ein Drittel weniger Unfälle, bei denen Menschen verletzt wurden, als 1991. Bahnreisen seien nicht gefährlicher geworden, bestätigt Mark Wille vom Eisenbahnbundesamt. Die Aufsichtsbehörde der Bahn betreibt zwar keine Statistik, verfügt aber über eine Datenbank, in der sämtliche Unfälle – inklusive Selbstmorde – verzeichnet sind. Bei den ständigen unangekündigten Betriebskontrollen durch das Bonner Amt sei keine Häufung von Mängeln aufgefallen, sagt Wille.

Fazit: Seit der Katastrophe von Eschede neigen die Medien dazu, jede Panne bei der Bahn zu melden. Dessen ungeachtet gab es im März dieses Jahres eine ungewöhnliche Unfallserie, die allerdings wohl zufällig ist. Es ist schwer, sich ein genaues Bild zu verschaffen, da die Deutsche Bahn AG nur spärlich Informationen herausgibt.

These 2: Der Personalabbau bei der Deutschen Bahn AG führt zu mehr Unfällen. Seit ihrer Privatisierung steht die Bahn unter einem gewaltigen Kostendruck. Um rund 120000 Mitarbeiter hat sie ihr Personal in den vergangenen Jahren auf 252000 verringert. Bis 2003 sollen nach Angaben der Gewerkschaft weitere 60000 Angestellte eingespart werden. Ein großer Teil davon arbeitet derzeit noch in den Stellwerken und Werkstätten. Führt die enorme Rationalisierung nicht zwangsläufig zu mehr Pannen?

Für den Eisenbahn-Experten Thomas Siefer läuft die Diskussion darüber in die falsche Richtung. Die Bahn könne ihr Personal nur reduzieren, weil sie automatisiere. Und das führe nicht zu mehr, sondern zu weniger Unfällen, sagt er.

Sein Braunschweiger Kollege Pachl zeigt sich ebenfalls über-zeugt, daß die Einsparungen bisher nicht zu Unfällen geführt haben. Die Lokomotiven und Waggons kämen heute zwar seltener zur Wartung in die Werkstatt als früher. Doch das liege an der verbesserten Technik: “Beim Auto müssen Sie heute auch nur noch alle 30000 Kilometer das Öl wech-seln statt wie früher alle 10000.” Wenn die Mitarbeiterzahl aber weiter schrumpfe, könne das irgendwann durchaus auf Kosten der Sicherheit gehen.

“Die Bahn tut alles, um die Sicherheit zu gewährleisten”, sagt Hubert Kummer, Pressesprecher der Gewerkschaft der Eisenbahner (GdED). Doch er gibt zu bedenken, daß dank neuer Technik heute ein Mann die Arbeit verrichte, die früher 100 Leute leisteten.

Solange alles funktioniere, sei das in Ordnung. Aber sobald es zu Unvorhergesehenem käme, würden nach wie vor Menschen gebraucht. “Und dann ist jeder Fehler weit folgenreicher als bisher”, sagt Kummer. Die Eisenbahner-Gewerkschaft fordere daher eine “Rationalisierungsdenkpause”.

Fazit: Der Personalabbau bei der Bahn ist enorm. Die Elektronik verdrängt die Mitarbeiter. Doch Experten meinen, das führe bisher nicht zu einer Beeinträchtigung der Sicherheit.

These 3: Die Bahn ist immer noch das sicherste Verkehrsmittel. Zwischen 1990 und 1997 kamen bei Eisenbahnunfällen jährlich durchschnittlich 290 Menschen um, etwa 100 davon allein bei Kollisionen an Bahnübergängen. Nur 40 waren Reisende – so viele Menschen sterben auf deutschen Straßen binnen zweier Tage.

Ein korrekter Vergleich der verschiedenen Verkehrsmittel scheitert oft an unterschiedlichen Verfahren zur Erfassung der Daten. Jörn Pachl von der Universität Braunschweig mißtraut neueren Zahlen und zitiert eine Studie, die die Firma Prognos bereits 1985 für die Bundesregierung anfertigte. Ihr zufolge werden auf der Straße knapp 25mal so viele Menschen pro Personenkilometer schwer verletzt oder getötet wie auf der Schiene.

Das Statistische Bundesamt berechnete für 1997 ein zehnmal so hohes Risiko für Reisende auf der Straße wie für Fahrgäste der Bahn, bei einem Unfall umzukommen. Für Flugzeugpassagiere ist es der Behörde zufolge dreimal so hoch. Die Wiesbadener weisen aber darauf hin, der Vergleich sei auf Grundlage von Daten erstellt, die “für diesen Zweck nur eingeschränkt verwendbar sind”.

Gegenüber dem Auto hat die Bahn einen Nachteil: Weil die Haftreibung von Stahl auf Stahl etwa achtmal geringer ist als die von Gummi auf Asphalt oder Beton, hat eine Lok einen entsprechend längeren Bremsweg. Bei einem langen Güter- oder Personenzug kommt die Trägheit des Bremssystems hinzu. Bei 160 Kilometern pro Stunde braucht ein Zug einen Kilometer, bis er steht.

Die Bahn hat dieses Manko in einen Vorteil verwandelt. Statt auf Sicht zu fahren, setzte sie von Anfang an auf technische Sicherungen.

So ist das gesamte Schienennetz mit seinen über 70000 Gleiskilometern in lauter Blockabschnitte von einem bis fünf Kilometer Länge eingeteilt. Ein Zug darf in den nächsten Abschnitt nur hineinrollen, wenn dieser bereits frei ist. Andernfalls muß er an einem Haltesignal stehen bleiben. Sollte der Lokführer das Signal übersehen, bemerkt das die automatische Zugüberwachung und stoppt das Gefährt. Desgleichen lassen sich Züge bremsen, wenn sie zu schnell an Kurven heranbrausen.

Für Markus Hecht von der TU Berlin passieren trotzdem immer noch zu viele Unfälle. Die Bahn müsse sich mehr um die passive Sicherheit kümmern, kritisiert der Leiter der Fachgruppe Schienenfahrzeuge. Anders als in Deutschland würden in England und Frankreich die Knautschzonen neuer Fahrzeuge Crash-Tests unterzogen. Überdies gebe es hierzulande zu viele alte Signalanlagen, vor allem auf den nichtelektrifizierten Strecken. Das Unglück von Immenstadt etwa, bei dem zwei Menschen starben, wäre bei neuer Signaltechnik nicht passiert, meint Hecht.

Dennoch: Wer ohne Bedenken ins Auto steigt, hat objektiv gesehen keinerlei Anlaß, sich zu ängstigen, wenn er mit der Bahn fährt. Subjektiv sieht das anders aus. Im ICE fühlt man sich der Technik ausgeliefert. Am Steuer meint man hingegen, sein Schicksal selbst zu bestimmen und ist deswegen bereit, ein höheres Risiko in Kauf zu nehmen. Psychologischen Studien zufolge akzeptiert der Mensch im Individualverkehr ein rund zehnmal höheres Unfallrisiko als bei der Bahn.

Fazit: Die Bahn bleibt das mit Abstand sicherste Verkehrsmittel. Grund ist die größtenteils automatisierte Überwachung des Zugverkehrs. Weitere Investitionen könnten die Unfall- und Verletztenrate aber weiter senken.

Wolfgang Blum

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