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Das letzte Buch

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Das letzte Buch
Das elektronische Papier kommt, der Drucker geht. Eine US-Firma bringt elektronisches Papier auf den Markt, das sich beliebig oft löschen und neu beschreiben läßt. Naht das Ende des gedruckten Buches und der Tageszeitung?

Smith Place 29, Cambridge, lautet das Ziel. Eigentlich eine gute Adresse hier draußen vor den Toren Bostons im Einzugsgebiet der Route 128, dem zweitgrößten Zentrum der Computerbranche nach dem kalifornischen Silicon Valley. Die innovativsten Firmen der Welt logieren hier, nicht weit vom berühmten Massachusetts Institute of Technology und der Harvard University. Daß junge US-Firmen nicht viel Wert auf Äußerlichkeiten legen, ist bekannt, aber das Gebäude mit der Nummer 29 unterbietet noch die geringsten Erwartungen: ein grauer fensterloser Flachdachbau. Eine bescheidene Behausung für ein Unternehmen mit einem so anspruchsvollen Ziel: E-Ink will nichts weniger als den Buchdruck abschaffen. Vom Wirtschaftsmagazin Fortune wurde E-Ink 1998 zu den zwölf „coolsten“ Firmen gewählt.

Drinnen sieht es auch nicht besser aus: Winzige Büros und ein chemisches Labor mit Tausenden bunten Fläschchen, die allein schon vom Anschauen einen leichten Juckreiz erzeugen. Aus Minilautsprechern lärmt abwechselnd Heavy Metal und Punk, und die Trophäe des Digi-Globe-Preises, den die Firma im vergangenen Jahr in München für ihre Erfindung des elektronischen Papiers verliehen bekam, vibriert im Takt mit. Immerhin, der Empfang ist freundlich. „Willkommen Bild der Wissenschaft“ steht in großen blauen Lettern auf einer Tafel. Vielmehr stand, denn plötzlich ist die Schrift verschwunden und wie von Geisterhand erscheint jetzt ein Werbeslogan der Firma. Zehn Sekunden später ist der alte Text wieder da. Ziemlich beeindruckend, das elektronische Papier: Der Hintergrund ist gleichmäßig tiefblau, die Buchstaben sind papierweiß. Geht man ganz nah ran, sieht es so aus, als würde von hinten feiner Schnee auf die Tafel rieseln, wenn ein Buchstabensegment von blau auf weiß wechselt.

Tatsächlich funktioniert die elektronische Tinte ein bißchen wie die beliebten wassergefüllten Schneekugeln aus Kindertagen: Wenn man die Kugel schüttelt, werden weiße Flocken aufgewirbelt, die langsam auf die Figürchen im Innern herunterrieseln. Das elektronische Papier besteht aus Millionen nur 40 Mikrometer kleinen, transparenten Plastikkügelchen, die wie ein Lack auf eine Folie aufgebracht werden. In den Kügelchen ist eine blaue oder rote ölige Tinte eingeschlossen, in der weiße Farbpigmente schwimmen. Dieser weiße Staub ist negativ geladen. Legt man über hauchdünne Elektroden auf der Vorder- und Rückseite der Folie ein schwaches elektrisches Feld an, werden die weißen Pigmente in den Plastikkügelchen je nach Feldrichtung entweder nach oben gedrückt – das Kügelchen wird weiß – oder nach unten gezogen – das Kügelchen erscheint in der Farbe der Tinte. Ein farbiges Kügelchen macht aber noch keine Schrift. Erst wenn viele dieser mit bloßem Auge fast unsichtbaren Farbtupfer im richtigen Muster angeregt werden, ergeben sie einen Buchstaben oder gar einen ganzen Text.

Das Herstellungsverfahren der Kügelchen ist streng gehütetes Betriebsgeheimnis. Lisa Downey Merriam, bei E-Ink für Marketing zuständig, verrät zwischen dem Genuß von zwei Büchsen Coca-Cola, daß die ölige Tinte mit Wasser vermischt wird und darin Tröpfchen bildet. Dann wird ein flüssiger Kunststoff zugegeben, dessen Moleküle sich an die Tröpfchen heften und diese hermetisch umschließen. Nach dem Trocknen werden die Kügelchen in einem trickreichen Verfahren nach der Größe sortiert. „Streng geheim“, zwinkert Lisa Downey Merriam hinüber zur der Ecke des Labors, wo die Apparatur zum Sortieren der Kügelchen steht. Eigentlich sei das Ganze überhaupt kein Hexenwerk. „Die Herstellung der Tintenkügelchen dauert zwei Tage, die eigentliche Fertigung des elektronischen Papiers nur zwei Stunden“, sagt sie beim Verlassen des Labors.

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Die E-Ink-Kügelchen sind eine echte Revolution, vergleichbar mit der Erfindung der beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg. Seit Jahrhunderten werden Bücher und Zeitungen hergestellt, indem im Prinzip Farbe nach einem bestimmten Muster auf Papier gestempelt wird. Da machen selbst modernste Digitaldrucker keine Ausnahme, auch wenn die Verfahren heute vielfältiger und raffinierter sind. Einmal bedruckt, ändert eine Seite ihr Aussehen nicht mehr. Anders bei E-Ink: Die Tintenkügelchen können mehrere millionenmal ihre Farbe wechseln – das löschbare und immer wieder neu beschreibbare Papier oder gar Buch ist damit in greifbare Nähe gerückt. Besonders einleuchtend wird der Nutzen bei der Tageszeitung: Ist sie ausgelesen, wird sie weggeworfen oder höchstens noch zum Einwickeln von Biomüll verwendet – „nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern“, heißt es deshalb zu Recht. Jedes Jahr werden allein in Deutschland fast 16 Millionen Tonnen Holz zu Papier verarbeitet. Das elektronische, mit E-Ink beschichtete Papier dagegen könnte jeden Morgen auf Knopfdruck aus dem Internet mit den aktuellen News des Tages gefüttert werden. Das elektronische Papier vereinigt damit die Vorzüge aus der Welt des Buchdrucks und der Computerwelt: Schrift und Bilder können sich nach Belieben ändern – damit ähneln sie einem Computerbildschirm. Andererseits leuchtet das Papier nicht von selbst wie ein Computerbildschirm, man braucht zum Lesen immer Licht. Dafür bleiben Schrift und Bilder stabil, auch wenn die Spannungsversorgung abgeschaltet wird. Die Seiten eines elektronischen Buches „vergilben“ also nicht, wenn das Werk über Monate im Regal steht oder wenn die Batterie leer ist – darin ähnelt es einem normalen Buch. Der Strombedarf ist extrem gering: Mit der Energie, die eine Glühlampe in einer Sekunde verbraucht, kann man den Text 100mal ändern – dafür reicht sogar eine kleine Solarzelle.

Der Erfinder der E-Ink-Technologie, Prof. Joe Jacobson vom Medialab des Massachusetts Institute of Technology arbeitet an einem Projekt, das er „das letzte Buch“ nennt – eine für traditionsbewußte Bücherwürmer geradezu apokalyptische Prophezeiung. Das letzte Buch soll aus Hunderten von wiederbeschreibbaren Seiten bestehen, im Buchrücken ist ein kleiner Speicherchip integriert, der über Funk oder über eine Infrarotschnittstelle mit Texten und Bildern vom PC oder direkt aus virtuellen Bibliotheken im Internet gefüttert wird. Joe Jacobson träumt bereits vom Buch, das sich selbst schreibt: Es wälzt zu einem bestimmten Thema alle Quellen in einer elektronisch verfügbaren Bibliothek und trägt die Auszüge zu einem neuen Werk zusammen. „Wenn jede Seite einen kleinen Mikroprozessor enthielte, hätte man sogar intelligentes Papier“, sagt Jacobson: Kleine Schnipsel könnten als Preisschilder im Supermarkt dienen und einen Text mit dem aktuellen Sonderangebot zeigen. Als Tapete verschmölzen Fernsehbildschirm und Zeitung zu einem Megadisplay. Doch das ist Zukunftsmusik. Eines der Probleme, die E-Ink noch Kopfzerbrechen bereiten, ist die Frage, wie man jedes einzelne Tintenkügelchen separat ansteuert – nur dann erscheinen Schriften gestochen scharf und Bilder detailgetreu. Im Prinzip müßte man auf die Folie, die die Tintenkügelchen trägt, ein feines Maschennetz aus Tausenden Leiterbahnen und Transistoren aufbringen – ähnlich wie bei modernen LCD-Computerbildschirmen. E-Ink arbeitet deshalb mit den Bell-Labs von Lucent Technologies zusammen: Dort wurden elektrische Schaltungen entwickelt, die komplett aus Kunststoff bestehen. Sie könnten auf die Trägerfolie gedruckt werden, hinter jedem Kügelchen ein Transistor. Das elektronische Papier wäre damit gleichzeitig auch ein neuartiger Bildschirm zum Beispiel für Minicomputer am Handgelenk, das Display könnte sogar aufgerollt werden. Allerdings ist der Farbwechsel in den Kügelchen mit rund einer halben Sekunde noch zu langsam, um auch bewegte Bilder darzustellen.

Während elektronische Bücher und Zeitungen noch ein paar Jahre Entwicklung vor sich haben, bringt E-Ink in diesen Wochen große Reklametafeln auf den Markt, die in Supermärkten Kunden über neue Angebote informieren, als Fahrzielanzeige in Bahnhöfen dienen oder den Speiseplan in der Werkskantine zeigen sollen. Bei Immedia Signs – so lautet der Produktname der Schrifttafeln, die wie übergroße Skateboards aussehen – sind die Buchstaben mehrere Zentimeter groß und wie bei heute üblichen Anzeigetafeln aus wenigen Segmenten zusammengepuzzelt. Dadurch ist der elektronische Aufwand zur Steuerung der Schrift relativ gering. Die nötigen Mikroprozessoren und Speicherchips sind in eine dünne Platte integriert, die auch das elektronische Papier trägt, und sind mit den Schriftsegmenten über Leiterbahnen und Elektroden verbunden. E-Ink hat eine Funktechnik entwikkelt, mit der die Texte ferngesteuert in Sekundenschnelle geändert werden können, zum Beispiel wenn sich eine Zugverbindung ändert. Tests in Läden der amerikanischen Supermarktkette JC-Penny mit großen Reklametafeln, die laufend neue Sonderangebote zeigen, verliefen erfolgreich, und andere Interessenten stünden Schlange, heißt es bei E-Ink. Die Preise erscheinen zivil: Je nach Größe kostet die Miete eines Displays für 90 Tage zwischen 100 und 1000 Dollar, inklusive Funksender zum Aktualisieren der Anzeige.

Im Wettlauf um echtes elektronisches Papier ist E-Ink mit seinen knapp 100 Leuten ein Zwerg, der von einem Branchenriesen gejagt wird: Xerox in Palo Alto, das mit Druckern und Fotokopierern sein Geld verdient und das mit dem Slogan „the document company“ wirbt. Elektronisches Papier wäre für diese Marktmacht eine ernste Bedrohung, deshalb hat Xerox schon vor E-Ink mit eigenen Entwicklungen von elektronischem Papier begonnen und als Ergebnis „Gyricon“ (von „gyro“: rotieren, und „ icon“: Symbol) präsentiert. Das Prinzip ist ähnlich, aber doch nicht gleich: In einer Silikonfolie sind winzige Kügelchen eingeschlossen, die sich in einer Flüssigkeitshülle frei drehen können. Die eine Seite der Kügelchen ist weiß, die andere schwarz. Da beide Seiten gegensätzlich geladen sind, lassen sich die Kügelchen mit einem elektrischen Feld auf die gewünschte Seite drehen. Auf einen Quadratzentimeter passen etwa 8000 Kügelchen – das erlaubt eine Auflösung, die bereits deutlich besser ist als bei einem Fax.

Die Firma 3M stellt bereits Folien mit der Gyricon-Technologie her, die man als Meterware von der Rolle kaufen kann und die sich fast wie Papier anfühlen, nur etwas dicker. Im direkten Vergleich zur kontrastreichen Schrift bei E-Ink ist das Xerox-Produkt aber deutlich schlechter: Schwarz-weiß ist hier eigentlich eher dunkelgrau-hellgrau. Xerox betont, im Labor schon viel weiter zu sein, will aber noch keine Proben des Wunderpapiers zeigen. Dennoch gibt das Xerox/3M-Produkt eine Ahnung, was mit elektronischem Papier einmal alles möglich sein könnte: In A4-Format geschnitten, könnte es in speziellen Druckern oder Kopierern verwendet werden, die mit Minielektroden elektrische Felder erzeugen und die Kügelchen drehen. Wird das Dokument nicht mehr gebraucht, kommt es wieder ins Gerät, wo es beim nächsten Druck gelöscht und neu beschrieben wird. Joe Jacobson hat einen solchen Drucker auch für E-Ink-Papier bereits demonstriert und damit große Plakate ausgedruckt. Kommt damit endlich das papierlose Büro, das uns die Computerindustrie seit 20 Jahren verspricht? Die Chancen stehen gut. Nicholas Negroponte, Chef des MIT Medialab und Vordenker des digitalen Zeitalters, kennt einen ganz simplen aber wichtigen Test, den elektronische Bücher bestehen müssen: „Auf Bücher kann man draufstehen, um sich ein bißchen größer zu machen als man ist. Ich bin mal auf meinen Laptop getreten – das Ergebnis war eine Katastrophe.“ Das elektronische Papier würde den Test bestehen.

Bernd Müller

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