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Die Kolonie Britannien

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Die Kolonie Britannien
Viel Angelsächsiches stammt von den Nordmännern. Bevorzugtes Ziel der räuberischen Wikinger waren die schutzlosen Klöster. Aber als Siedler, Handwerker und Händler schufen die Invasoren auch kulturelle Grundlagen für das Inselreich.

Annähernd 350 Jahre haben wir und unsere Glaubensbrüder in Britannien friedlich gelebt, und niemals zuvor wurde in diesem Land eine solche Grausamkeit gesehen, wie wir sie nun durch die Hand heidnischer Männer erlitten haben”, klagt der König des nordenglischen Northumbrien im Jahre 793 n. Chr. „Bespritzt mit dem Blut der Priester Gottes, aller Einrichtungen beraubt – so haben die Heiden unsere Kirchen entweiht.” Die Wikinger verbreiteten im 8. und 9. Jahrhundert Angst und Schrecken auf den Britischen Inseln: Auf sommerlichen Raubzügen zogen Stoßtrupps mit ihren Schiffen die Küste der Britischen Inseln entlang und ruderten auf der Suche nach Beute die großen Flüsse hinauf. Mitte des 9. nachchristlichen Jahrhunderts schlossen sich die Nordmänner zu großen Heeren zusammen, stießen ins Hinterland von England vor und errichteten ihre ersten Überwinterungslager. Archäologische Ausgrabungen haben in den letzten zwei Jahrzehnten ein neues Bild der Wikinger in England entstehen lassen: Die angeblichen Raufbolde unterhielten in England ein weitverzweigtes Handelsnetz, ließen sich in geordneten Siedlungen als Handwerker nieder und nahmen schließlich das Christentum an. „Jedes Schulkind kennt König Knuth und Erich Blutaxt, den letzten Wikingerkönig von York”, erklärt der Yorker Archäologe Richard Hall die Situation in England. „Aber die Chroniken verraten nichts über die Gesellschaft, den Handel und das Alltagsleben jener Zeit.” Richard Hall ist Direktor des York Archaeological Trust. Im Vergleich zu den Denkmalämtern in Deutschland ähnelt diese Institution eher einer Interessengemeinschaft. Vor 26 Jahren begann sie mit knappen finanziellen und noch geringeren rechtlichen Mitteln, die frühmittelalterliche Epoche dieser von den Römern 54 n. Chr. gegründeten Stadt zu erforschen. Denn über die Zeit zwischen dem Rückzug der Römer im 4. Jahrhundert und der Rückeroberung der Stadt durch die Angelsachsen 954 liegt geschichtlicher Nebel. In den siebziger Jahren begann in York eine Stadtsanierung. Unter den mittelalterlichen Häusern kam die Historie zum Vorschein. Die Yorker Archäologiegesellschaft wurde gegründet und arbeitete anfangs auf Grundlage eines Gentlemen’s Agreement. Heute sind Stadtsanierungsprojekte verpflichtet, Gutachten über die archäologische Substanz des Untergrundes einzuholen. So auch bei der Neubebauung der Straße Coppergate am südöstlichsten Rand der Altstadt. Zwei Jahre wurden den Archäologen für ihre Arbeit zugestanden – es wurden fünfeinviertel. „Wir hatten anfangs nur ein Areal von einigen Quadratmetern, doch bei der Spurensuche gerieten wir tiefer und tiefer.” Noch heute schwingt in Richard Halls Stimme Begeisterung mit. „Geschichte auf neun Metern hinab, zehn Siedlungsschichten, jede Menge organisches Material – eine vergleichbare Stelle gibt es in ganz England nicht.” Die Archäologen legten rechtwinklige Fundamente von Langhäusern frei. Zwischen den Häusern liefen befestigte Fußwege. Die Wikinger hatten gleich nach der Eroberung mit dem Wiederaufbau des seit der Römerzeit verfallenen Yorks begonnen. Ein Vergleich der Stadtpläne einst und jetzt zeigt: Die großen Straßen und Standorte der wichtigsten Plätze wie Markt und Domplatz sind in der Wikingerzeit festgelegt worden. In den Hausruinen fanden die Wissenschaftler Unmengen von Metall- und Lederresten, Knochensplitter, Nadeln und Nägel – Handwerksutensilien. Die Wikinger hatten das Schwert gegen den Amboß getauscht und fertigten in spezialisierten Handwerkervierteln Waffen, Werkzeuge, Schmuck und Lederwaren. Mit dem Überseehandel – bis nach Byzanz und in den Vorderen Orient – entwickelte sich York zum wichtigsten Umschlagplatz für Mittelengland. Die neuen Herrscher brachten auch Geld in Umlauf. Unter den Münzen, die in York geprägt wurden, fanden sich Silberpennies mit dem Namen des Wikingerkönigs Olaf Guthfrithsson. Mit Handel und Handwerk bescherten die Wikinger den Britischen Inseln einen seit der Römerzeit nicht mehr gekannten wirtschaftlichen Aufschwung. „Diese Erkenntnisse bedeuten nicht weniger als eine Revolution unseres Geschichtsbildes”, faßt Hall zusammen. „Jedermann in England hat die Wikinger bisher nur mit Zerstörungen und Plünderungen gleichgesetzt, doch sie waren Gründer und Erschaffer.” Um dieses Wissen einem breiten Publikum zu vermitteln, haben die Yorker ein archäologisches Ausstellungsexperiment gewagt – das „Jorvik Viking Centre” in der Einkaufsstraße Coppergate. Es sieht aus wie ein normales Geschäftshaus – im Untergeschoß jedoch wurde auf den Fundamenten aus dem 10. Jahrhundert die Wikingersiedlung vollständig rekonstruiert. Die Besucher fahren in Geisterbahnwagen durch einen „Zeittunnel” vorbei an Kulissen zurück ins 10. Jahrhundert. Sie rollen zwischen den Häusern aus Flechtwerk und Strohdächern hindurch und begegnen einem Fischer, der sein Messer wetzt. Aus Lautsprechern ertönt ein Sprachgemisch aus Altenglisch und Skandinavisch. Es riecht nach gegerbtem Leder und Haustieren. Am Hafen wird gerade ein Langboot entladen. Schließlich kommen die Besucher zu einem Ausgrabungsareal. Die Besucher sehen, wie Tierknochen, Keramikscherben und Lederreste analysiert, konserviert und archiviert werden und erreichen am Ende eine Ausstellung mit Grabungsexponaten. Gab es Kritik an diesem ungewöhnlichen Konzept? Richard Hall: „Natürlich! Bei einigen Kollegen hat es schon Skepsis gegeben. Aber wir wollten vor allem der Bevölkerung, die ja das Geld für die Forschung bezahlt, etwas zurückgeben.” Noch tiefer in die eigene Geschichte führen die Ausgrabungen in Dublin, denn Irlands Hauptstadt wurde von den Wikingern gegründet. Im Stadtteil Templebar springen die Archäologen von einer gerade unbebauten Sanierungsparzelle zur nächsten. Etwa an der Essexstreet Ecke Fishamblesroad: Auf einer Fläche von 30 mal 20 Metern markieren Mitarbeiter der Archäologin Linzi Simpson jede Auffälligkeit im Untergrund. Es entsteht eine Wiese von weißen und blauen Pappschildchen mit Registriernummern. Der schwere Lehmboden hat, da er kaum entwässert, Siedlungsspuren über 1000 Jahre hinweg bewahrt: Spartanisch eingerichtete Langhäuser dienten als Wohnraum, kleinere Nebengebäude als Werkstätten und Lagerräume. Die Straßen und Fußwege zwischen den Parzellen waren mit Balken oder zertrampeltem „Sperrmüll” befestigt. In rund 250 Jahren Wikingerzeit entstanden 13 Siedlungsschichten. Die Siedlung war klein – im Vergleich zur Menge und Größe der Wikingerboote, die am Ufer lagen: Langschiffe aus England, Skandinavien und Frankreich, von den Mittelmeerhäfen und der Nordatlantikroute. Am Ufer stapelten sich Wollstoffe aus England, Seide aus Byzanz, Wein aus Frankreich, Elfenbein und Pelze aus der Arktis. Dublin war ein quirliger Umschlagplatz, an dem die Iren aus dem Hinterland Nahrungsmittel gegen die begehrten Waren aus Übersee tauschten. Vor zwei Jahren legte Linzi Simpsons Team Spuren einer Wikingersiedlung aus der Zeit 840 bis 860 n. Chr. frei. Nach der offiziellen Geschichte sollten die Wikinger erst um 915 auf dem Areal des heutigen Dublin gewohnt haben. Die Archäologen gruben nicht nur ein Wohnareal aus, sondern auch Teile eines Befestigungswalls, eines Deiches und einer Wellenbrechanlage – Beweise für die ausgeklügelte Technik, die es den Wikingern erlaubte, die flutgefährdete Flußmündung zu besiedeln. Nach dem Yorker Vorbild entstand ein Viking-Adventure-Center. „Die Menschen lieben alles, was mit dem Wikingerkult zu tun hat”, erklärt Linzi Simpson. „Es ist eine romantische Verklärung dieser rauhen Krieger und ihrer wilden Rituale.” Dabei war ihr Alltag harter Überlebenskampf. Ein Aspekt jedoch schimmert aus diesem Grau wie eine Perle hervor: das Kunsthandwerk. Die Wikinger fertigten sowohl kraftvollen wie filigranen Schmuck aus dem Gold und Silber. Sie verzierten auch die meisten ihrer Gebrauchsgegenstände: Waffen, Werkzeuge, Schiffsteile ebenso wie Kämme und Spindeln. Dieser anglo-skandinavische Stil hat zwei Grundkomponenten: Tiermotive – Löwen, Schlangen, Adler, Fabelwesen – und labyrinthartige Ornamente. Waren die Wikinger am Ende auf der Insel doch Kulturstifter, wie es der englische Historiker Peter Sawyer in den sechziger Jahren als erster formulierte? Während die Nordmänner in Dublin bis zum Ende des 11. Jahrhunderts lebten und arbeiteten, wurde York schon um 954 von den Engländern zurückerobert. Spätestens mit der Einnahme der Britischen Inseln durch die Normannen ab 1066 scheint die Wikingerzeit ein Ende gefunden zu haben. Der Schein trügt jedoch – in der Normandie hatten sich die Wikinger schon lange und erfolgreich etabliert: Der Wikinger Rollo hatte 911 vom westfränkischen König Karl dem Einfältigen Teile der Normandie als Lehen bekommen und sich mit seinem Gefolge dort niedergelassen. Verdanken die Normannen ihre Expansionslust unter Wilhelm dem Eroberer am Ende ihrem Wikingerblut?

Wolfgang Korn

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