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Heißer Draht zu langen Ketten

Allgemein

Heißer Draht zu langen Ketten
Was zwei Weltrekorde, drei Nobelpreise, Mini-Drähte, Fußbälle und Diamanten miteinander zu tun haben.

Einen Längen-Weltrekord stellten Chemiker an der Universität Erlangen-Nürnberg auf: Sie synthetisierten eine chemische Verbindung, in der 16 Kohlenstoff-Atome wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht sind. An beiden Enden hält je ein Platin-Atom die Schnur fest – nur so ist sie stabil. Es ist die bisher längste Atomkette, bei der so etwas gelungen ist. Über Kohlenstoff-Ketten machen sich die Wissenschaftler schon lange Gedanken. So schrieb Adolf von Baeyer, Chemie-Nobelpreisträger von 1905, in seiner ersten Mitteilung „Über Polyacetylenverbindungen” im Jahre 1885: „Man sieht hieraus, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach gelingen wird, noch längere Ketten von Kohlenstoff-Atomen aufzubauen, wenn nicht die … leichte Zersetzbarkeit einen Strich durch die Rechnung machen sollte. Im günstigsten Fall stehen jedenfalls interessante Resultate zu erwarten.” Dem kann John Gladysz, Professor am Institut für Organische Chemie der Universität Erlangen-Nürnberg, auch über 100 Jahre später nur beipflichten: „Die Länge der Kohlenstoffkette wird eine ewige Herausforderung bleiben.” Seine Arbeitsgruppe hat diese Herausforderung angenommen, und den beiden Diplom-Chemikern Wolfgang Mohr und Jürgen Stahl gelang kürzlich das weltrekordtaugliche Experiment. Das Ergebnis gehört in die Schublade „Grundlagenforschung”. Doch das mit Hilfe von Röntgenstrahlen aufgenommene Bild des Supermoleküls erinnert an einen Draht – und das legt praktische Anwendungen beispielsweise in der Nanotechnologie nahe: Solche Kohlenstoff-Ketten sind molekulare Drähte. Zwar ist die Erlanger Kette mit einer Gesamtlänge von gut zweimilliardstel Meter kein wirklicher Draht, aber sie besitzt ähnliche Eigenschaften. Drähte leiten den elektrischen Strom, da sich Elektronen frei in ihnen bewegen können. Das funktioniert tatsächlich auch bei den molekularen Drähten. Der „ultimative molekulare Draht” ist für Liam Cox von der University of Birmingham eine Verbindung namens Carbin: Das ist nichts anderes als die Erlanger Kohlenstoff-Kette – ins Unendliche verlängert. Cox stellt im World Wide Web ein hypothetisches Szenario vor, in dem er die Draht-Analogie weiter treibt. Er will seinen Mini-Draht isolieren, genau wie einen richtigen Draht: Das soll die Kohlenstoff-Kette schützen und „ chemische Kurzschlüsse” bei der Berührung zweier Drähte verhindern. Auch John Gladysz und sein Team arbeiten daran, ihre Ketten zu isolieren. Allerdings streiten sich die Experten seit vielen Jahren, ob es das Carbin überhaupt gibt. Gladysz ist davon überzeugt. Sein Rekordmolekül dient ihm als Modell, mit dessen Hilfe er chemische und physikalische Eigenschaften des „ ultimativen Drahtes” vorhersagen will. Einige Forscher vermuten, dass sich Carbin leicht zu anderen Molekülen verbiegen lassen müsste – beispielsweise zu den Fullerenen, die als Fußballmoleküle oder „Bucky-Balls” berühmt geworden sind (bild der wissenschaft 6/1999, „Ein Wunderstoff – und was aus ihm wurde” ). Neben Carbin und den Fullerenen gehören noch zwei weitaus bekanntere Vertreter zur Familie des reinen Kohlenstoffs: Diamant und Graphit. Im Diamant bilden die Kohlenstoff-Atome ein dreidimensionales Gitter, im Graphit zweidimensionale Schichten und im Carbin, als logische Fortsetzung, eindimensionale Ketten – die molekularen Drähte. Die Erlanger Forscher haben gleich noch einen zweiten Weltrekord aufgestellt: Sie räumten auch in der Kategorie „krumme Drähte” ab. Sie synthetisierten nämlich ein Molekül mit einer 12er-Kohlenstoffkette. Die ist im Gegensatz zu der 16er-Kette nicht gerade, sondern gekrümmt. Es ist die drastischste Krümmung aller bisher bekannten Drähte, schreiben die Forscher in der Fachzeitschrift „Inorganic Chemistry”. Die beiden „Moleküle der Superlative” zierten hier die Titelseite. John Gladysz gibt sich indes mit 16 Kohlenstoff-Atomen nicht zufrieden. „Wir werden unsere Synthese-Methoden so weit verbessern, bis wir Ketten aus 32 Kohlenstoff-Atomen in den Händen haben”, hofft er. Mit den Worten von Adolf von Baeyer: „Im günstigsten Fall stehen jedenfalls interessante Resultate zu erwarten.”

Renee Dillinger

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