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Krebsmedizin – die Strategien im 21. Jahrhundert

Allgemein

Krebsmedizin – die Strategien im 21. Jahrhundert
Zwei Jahrzehnte lang haben Krebsforscher nach den Molekülen gesucht, die eine Zelle zur Krebszelle machen und mit ihren Erkenntnissen neuartige Medikamente entwickelt. Jetzt kommen die ersten davon auf den Markt.

Im „Fly Lab“ ist es eng und stickig. Der fensterlose, neonbeleuchtete Raum steht voll mit watteverstöpselten Flaschen, in denen sich Hundertschaften munterer Fruchtfliegen tummeln. Das Labor mit der Nummer 1360 3a gehört zur mächtigen Forschungsanlage des US-Pharmaunternehmens Bristol-Myers Squibb im amerikanischen Hopewell. Zwei der winzigen Insekten mit dem wissenschaftlichen Namen Drosophila melanogaster hat die Biologin Pamela Carroll betäubt und unter ein Mikroskop gelegt. Die eine der beiden ist so zierlich wie ihre quirligen Artgenossen in den Flaschen ringsum. Doch die zweite ist ein Fliegen-Schwergewicht: Rund und prall liegt sie neben ihrer zarten Schwester. „Fliegen kann sie gerade noch“, sagt die „Herrin der Fliegen“ lächelnd und schätzt, dass die mopsige Fliege etwa zweimal so schwer ist wie ihre Artgenossin. Sie wiegt deshalb so viel, weil die Wissenschaftlerin ihr mit gentechnischen Methoden ein Mäuse-Fett-Gen eingepflanzt hat. Aber was hat das mit Krebsforschung zu tun? „Auf den ersten Blick nichts“, sagt Pamela Carroll, „aber man kann in Drosophila genauso menschliche Krebsgene einpflanzen.“ Die molekularbiologische Methode bleibt gleich – das wissenschaftliche Ziel ebenso: Die Forscher „ pflanzen“ Gene in Modellorganismen wie Mäuse oder Fliegen, um zu verstehen, wie Gene etwas verursachen: Fettleibigkeit zum Beispiel – oder Krebs. An dieser Krankheit sterben weltweit jährlich weit über fünf Millionen Menschen – Tendenz steigend. Bis zum Jahr 2010, schätzen Experten, werden es weltweit acht Millionen Menschen sein. Nicht mehr die Herz-Kreislauf-Krankheiten, sondern Tumore werden dann in den Industrienationen die häufigste Todesursache sein. Fortschritte sind dringend notwendig, denn trotz wichtiger diagnostischer und therapeutischer Verbesserungen in den letzten 20 Jahren ist der entscheidende Durchbruch gegen die Erkrankung bislang nicht gelungen. Doch es glimmt Licht am Ende des Tunnels. Krebsforscher in aller Welt spüren in ihren Labors den molekularen Ereignissen nach, die aus einer gesunden Zelle eine Krebszelle werden lassen. Akribisch versuchen sie, die komplexen biochemischen Wege nachzuzeichnen, die eine Zelle vom rechten Pfad abkommen lassen und in ein gefährlich egozentrisches Wachstum treiben. Das Ziel der immensen Forschungsanstrengungen ist die Entdeckung von molekularen Zielstrukturen im Körper – neuhochdeutsch „Targets“ – und die Entwicklung von Wirkstoffen, die gegen sie maßgeschneidert sind. Die Erwartungen an die molekularen Methoden sind groß. Selbst von sonst eher zurückhaltenden Wissenschaftlern wie Prof. Peter Lichter vom Forschungsschwerpunkt Genomforschung am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg ist zu hören, dass das Verständnis der molekularen Veränderungen in Krebszellen „vorhersehbar zu einer ganzen Reihe neuer Medikamente für die Behandlung von Krebspatienten“ führen wird. Das Pharmaunternehmen Hoffmann-La Roche nennt konkrete Zahlen: „Im Laufe der nächsten zehn Jahre“, schätzt Prof. Bärbel Porstmann, Leiterin der „ Integrated Cancer Care Unit“ bei La Roche in Basel, „könnten etwa 50 bis 100 neue Tumorpräparate auf den Markt kommen.“ Was den Krebsforschern zu so viel Optimismus Anlass gibt, sind die über 1700 Wirkstoffe, die gegenwärtig in verschiedenen Phasen der vorklinischen und klinischen Entwicklung stehen. Insgesamt haben die Wissenschaftler rund 100 unterschiedliche molekulare Zielstrukturen in der Zelle als mögliche Angriffspunkte für neue Wirkstoffe ausgemacht. Die Hoffnungsträger, von denen Krebsforscher heute in aller Welt reden, heißen Signaltransduktion Anti-Angiogenese, Zellzyklus-Kontrolle und Apoptose. Was verbirgt sich hinter den kryptisch anmutenden Bezeichnungen? „Signaltransduktion bedeutet Nachrichtenübermittlung“, sagt Prof. Bernd Groner vom Georg-Speyer-Haus in Frankfurt (siehe Kasten „Platzverweis für Krebs-Gene“). „Zellen ,reden‘ viel miteinander und erteilen sich Befehle – biochemische natürlich. Dann sorgen sie dafür, dass sich die einzelne Zelle im Einklang mit den Bedürfnissen des Gesamtorganismus vermehrt. Treten jedoch Übermittlungsfehler auf, kann das Gegenteil – ein unabgestimmtes, schädliches Wachstum – die Folge sein.“ Die Befehle müssen innerhalb der Zelle in ihre „ Kommandozentrale“ geleitet werden: den Zellkern mit der Erbinformation. Am Gelingen dieser Nachrichtenübermittlung sind zahlreiche Moleküle beteiligt. Sie reichen eine Botschaft wie Staffelläufer den Staffelstab von der äußeren Zellhülle, dem „ Start“, weiter bis zum „Ziel“, den Genen im Kern der Zelle. Eine große Rolle spielt ein „Staffelläufer“ namens Ras, ein wachstumsregulierendes Protein. Wie die Krebsforscher mittlerweile erkannt haben, ist genau das Gen, das den Bauplan für Ras enthält, bei sehr vielen Krebserkrankungen mutiert: Bei der Hälfte der Patienten mit Dickdarmkrebs, bei einem Fünftel mit Lungen- oder Eierstocktumor und bei 85 Prozent mit Bauchspeicheldrüsenkrebs findet sich ein verändertes Ras-Gen. Auf dieser Feststellung basieren die Überlegungen der Arzneimittelentwickler: Gelänge es, Ras mit einer geeigneten Substanz zu hemmen, müsste das ein unkontrolliertes Zellwachstum zum Stillstand bringen. Noch arbeiten die Grundlagenforscher daran, die Details der Nachrichtenübertragung mit Ras zu klären: Zum Beispiel indem sie das menschliche Ras-Gen in die Fruchtfliege Drosophila übertragen. Einen vielversprechenden Hemmstoff gibt es bereits: Er blockiert gezielt ein Enzym – die Farnesyl-Transferase –, das notwendig ist, um das zunächst „ tatenlose“ Ras-Protein zu aktivieren. Die Folge: Das Protein kann die Nachricht nicht mehr weiterreichen. Die Zelle hört auf, sich unkontrolliert zu vermehren. In Tierexperimenten konnten die neuen „Ras-Farnesyltransferase-Hemmer“ Tumoren gänzlich zurückbilden.

Das Konzept der Anti-Angiogenese – den Tumor verhungern zu lassen, indem man seine Blutversorgung verhindert – stammt noch aus den siebziger Jahren. Zunächst schlugen alle Versuche fehl. Die Forscher fanden keine Substanz, die Tumore daran hindert, Blutgefäße zu bilden, ohne dass sie dabei andere Organe schädigt. Das änderte sich, als der deutsche Krebsforscher Axel Ullrich vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried ein Protein – den so genannten VEGF-Rezeptor – identifizierte. Ullrich entdeckte, dass dieser Rezeptor die Angiogenese in Tumoren steuert. Jetzt testen die Krebsforscher monoklonale Antikörper, die den Rezeptor blockieren. Auf dem Prüfstand steht derzeit auch ein „altes“ Medikament, Thalidomid, besser bekannt als „Contergan“ , das in den frühen sechziger Jahren eine Katastrophe auslöste. Mittlerweile wissen die Forscher, wie Contergan die Fehlbildungen der Gliedmaßen verursachte: Es verhinderte in der Frühschwangerschaft, dass sich versorgende Blutgefäße ausbildeten. Dieser Anti-Angiogenese-Effekt verhilft dem Wirkstoff jetzt zu einer Renaissance als mögliches Krebsmedikament. Bei einer Gruppe von Patienten, die an einer bösartigen Erkrankung von Knochenmarkszellen, dem Multiplen Myelom, litten, brachte Thalidomid erstaunliche Besserungen.

Krebsforscher, die den Zellzyklus von Tumorzellen kontrollieren wollen – und damit alle Vorbereitungen der Zelle zur Teilung –, beschäftigen sich mit einer sehr einflussreichen Molekülfamilie, den Cdks. Sie sind die Hüter des Zellzyklus. Ihr Name ist die englische Abkürzung für „zyklinabhängige Kinasen“. Sie halten den Zyklus an bestimmten Stellen an und prüfen, ob er ordnungsgemäß abläuft. Dabei kontrollieren sie, ob die Erbinformation der Zelle fehlerfrei verdoppelt wurde oder ob dabei Schäden entstanden sind, die repariert werden müssen. Die Cdk-Prüfer sind unerbittlich: Eine Zelle, die nicht ihren hohen Ansprüchen an eine perfekte Zweiteilung genügt, wird in den programmierten Tod, die Apoptose, geschickt. Wenn aber die gestrengen Prüfer selbst Schaden erlitten haben und ihren Aufgaben nicht mehr gerecht werden können, sind die Folgen fatal: Defekte Zellen vermehren sich unkontrolliert und werden zu einer Gefahr für den gesamten Organismus. Gestörte Cdks haben die Krebsforscher mittlerweile bei vielen häufigen Krebsarten wie Tumoren der Brust, des Darmes, der Prostata oder der Lunge gefunden. Derzeit versuchen sie, die chaotisch arbeitenden Prüfer in den Krebszellen durch verschiedene Wirkstoffe auszuschalten. Eine dieser neuen Verbindungen, das Flavopiridol, scheint nach jüngsten Ergebnissen mit den klassischen Krebsmedikamenten, wie Zytostatika, zusammenzuarbeiten und ihre Wirkung zu verstärken.

Auf solche Synergieeffekte setzen auch die Forscher, die derzeit so genannte Apoptose-Modulatoren entwickeln. Das sind Substanzen, die Krebszellen dazu zwingen, sich selbst umzubringen. In jeder Körperzelle gibt es ein Selbstzerstörungsprogramm, das in Kraft tritt, sobald die Zelle einen nicht zu reparierenden Schaden erleidet. Bei vielen Krebszellen ist aber genau dieses Programm defekt. Eine der Folgen: Die Tumorzellen werden unempfindlich gegen Zytostatika. Die Apoptose-Modulatoren sollen diese Resistenzen überwinden. Die molekularen Wirkprinzipien sind zum ersten Mal seit Einführung der Zytostatika in den fünfziger Jahren etwas wirklich Neues in der Krebsbehandlung. Die ersten Mittel sind bereits auf dem Markt (siehe Kasten unten „Erste Erfolge“) und geben den Krebstherapeuten neben Chirurgie, Strahlen- und Chemotherapie ein weiteres Werkzeug in die Hand. Optimistische Onkologen rechnen schon bald mit einer für jeden einzelnen Patienten maßgeschneiderten Therapie. Sie wollen bei jedem Patienten die molekularen Ursachen seiner Krebserkrankung herausfinden und gezielt bekämpfen. Doch selbst mit einer derart ausgefeilten Strategie wird ein so komplexes Leiden wie Krebs wohl kaum geheilt werden. Aber aus Krebs könnte eine erträgliche Krankheit werden, die bei guter Lebensqualität dauerhaft behandelbar ist. Vielen Patienten würde diese Aussicht bereits genügen.

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Kompakt

Krebs kann durch viele unterschiedliche molekulare Schäden in der Zelle entstehen. Rund 100 mögliche Angriffsziele für Medikamente haben die Forscher in Krebszellen entdeckt. Die molekulare Krebsmedizin liefert den Ärzten zum ersten Mal seit Einführung der Chemotherapie ein neues Behandlungsprinzip.

Claudia Eberhard-Metzger

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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