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Handwerker, Heilpraktiker, Ordnungshüter

Allgemein

Handwerker, Heilpraktiker, Ordnungshüter
Der Mensch ist nicht das einzige Kulturwesen. Auch Menschenaffen sind erstaunlich geschickt, medizinisch versiert und befolgen soziale Regeln.

„Die Frage, ob Tiere Kultur haben, ähnelt ein wenig der Frage, ob Hühner fliegen können“, sagt Frans de Waal von der Emory University in Atlanta, einer der international bedeutends-ten Primatenforscher. „Wenn wir sie mit dem Albatros oder Falken vergleichen, können sie es vielleicht nicht, aber Hühner haben Flügel, schlagen damit und können auf Bäume flattern. Ähnlich ist es mit Tieren, wenn wir von unseren kulturellen Höhepunkten wie Kunst und Wissenschaft ausgehen.“ Doch wir dürfen Tiere nicht an unserem Standard messen. Das hat schon Anfang der fünfziger Jahre der japanische Anthropologe Kinji Imanishi erkannt. Er schlug vor, Kultur nicht von Sprach- oder Lehrbefähigung abhängig zu machen, sondern als nichtgenetische Weitergabe von Verhaltensformen zu definieren. Tatsächlich lassen sich – eingeschränkt – auch bei Tieren kulturelle Merkmale finden. Beispiele sind die Ausprägung bestimmter Schlaf- und Überwinterungsstätten zahlreicher Arten und die regionalen Dialekte und Traditionsbildungen im Gesang vieler Vögel sowie der Wale und Delfine. In seinem Anthropozentrismus hat sich der Mensch jedoch häufig als das einzige Kulturwesen bezeichnet und daraus ein Artmerkmal und seine Sonderstellung abgeleitet. Kultur gilt dann als die Gesamtheit aller Lebensäußerungen und Leistungen eines Volkes oder der ganzen Menschheit, als eine menschliche Schöpfung im Gegensatz zu Naturprodukten. Aber der Mensch ist ein Teil der Natur, und die Humanbiologie definiert Kultur so allgemein, dass ihre Anfänge im Tierreich mit einbezogen werden können. Dies ermöglicht es, die Besonderheiten des Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren, aber zugleich die oft erstaunlichen Leistungen unserer nächsten Verwandten zu sehen und zu erforschen. Dass dies unser Selbstverständnis berührt, ist dann Irritation und Herausforderung zugleich. „Ich weiß noch genau, wie ich Louis Leakey von meinen ersten Beobachtungen der Schimpansen vom Gombe-Fluss berichtete und beschrieb, wie (der Affe, Anm. d. Red.) David Greybeard nicht nur mit einem Strohhalm nach Termiten fischte, sondern wie er Blätter von einem Zweig entfernte und ein Werkzeug zum Termitenangeln machte“, erinnert sich Jane Goodall, deren Forschungsergebnisse in den sechziger Jahren unser Affen- und Menschenbild erschütterten. „Leakey schickte ein Telegramm mit den Worten: ‚Nun müssen wir Werkzeug neu definieren, Mensch neu definieren oder akzeptieren, dass Schimpansen Menschen sind.‘ “ Der Mensch als Werkzeugmacher kann seither nicht mehr als anthropologische Definition gelten. Aber schon vor Goodalls Erkenntnissen wurden kulturelle Leistungen von Primaten in der Wildnis beobachtet. Berühmt sind die Japanmakaken auf der Insel Koshima, die Süßkartoffeln waschen. Dieses Verhalten entstand Ende der fünfziger Jahre und wurde von Shunzo Kawamura und Masao Kawai von der Kyoto-Universität im Detail beschrieben. Zunächst reinigte nur ein einziges weibliches Jungtier die zur Fütterung am Strand ausgelegten Kartoffeln von Sand. Dies machten dann Verwandte und Freunde nach, und innerhalb eines Jahrzehnts war es in fast der ganzen Population üblich – mit Ausnahme der älteren Männchen. Keiner der damaligen Affen lebt heute noch, aber das Waschen wird nach wie vor praktiziert. Ob es überwiegend auf Nachahmungslernen basiert, ist allerdings umstritten. Für Bennett Galef von der McMaster University in Hamilton, Ontario, dauerte die Ausbreitung des Verhaltens zu lange, um es mit Imitation erklären zu können. Er vermutet, dass die meisten Tiere von selbst auf die Idee kamen, gleichsam das Rad jeweils neu erfunden hatten. Dass Affen nachäffen können, ist inzwischen aber nicht mehr strittig. Das bewiesen Experimente, bei denen Schimpansen künstliche Früchte „schälten“ . Anwesende Jungtiere übernahmen das Vorgehen rasch und ohne wahlloses Ausprobieren. „Schimpansen imitieren, geeignete Umstände vorausgesetzt“, fasst Andrew Whiten von der schottischen University of St. Andrews das Ergebnis seiner Studie zusammen. Gemeinsam mit vielen anderen Schimpansen-Forschern hat er auch die bislang umfassendste Liste von über drei Dutzend Verhaltensformen zusammengestellt, die als kulturell gelten können (siehe Kasten rechts „Schimpansen-Kulturen“). Christophe Boesch, Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig, hat im Taï-Regenwald an der Elfenbeinküste sogar beobachtet, wie manche Schimpansen-Mütter ihre Sprösslinge unterrichten. Beim Nüsseknacken arbeiteten sie langsamer und modifizierten ihre Handlung oder veränderten sogar die Position der Nuss ihres Sohnes. Solche Beispiele sind freilich selten – in 20 Jahren wurde Boesch nur zwei Mal Zeuge eines solchen Lehrens. Auch von kulturellen Übergängen könnte man sprechen. Dafür hat Tetsuro Matsuzawa von der Kyoto-Universität ein experimentelles Beispiel: In der Nähe des Dorfs Bossou in Guinea lebt eine Schimpansen-Gruppe mit versierten Knackern von Palmnüssen. Als Matsuzawa Steine, Palmnüsse und – den Boussou-Affen unbekannte – Coulanüsse auf eine Lichtung legte, beobachtete er, wie ein ausgewachsenes Weibchen namens Yo auch die Coulanüsse aufschlug und verspeiste. Sie war wohl bei den benachbarten Schimpansen von Mount Nimba aufgewachsen und erinnerte sich noch an diese verbreitete Nahrungsquelle dort. Einige junge Schimpansen beobachteten Yo und öffneten später selbst die Coulanüsse – ein neuer Traditionsstrang war entstanden. Auch bei anderen Menschenaffen wurden Ansätze von Traditionsbildung beobachtet. Männliche Flachlandgorillas veranstalten wilde Planschereien in Teichen, um ihren Rivalen zu imponieren, wie Richard Parnell von der schottischen University Stirling beobachtete. Und auf Sumatra entfernen Orang-Utans mit kurzen Stöcken die Stacheln von den fetthaltigen Früchten des Neesia-Baums. „Orangs können Stunden damit zubringen“, entdeckte Carel P. van Schaik von der Duke University in Durham, North Carolina. Warum nicht alle Gruppen dieses Verhalten zeigen, ist unklar. Schaik spekuliert, dass die Neesia-Schlemmer es gelernt haben, weil sie durch ihr relativ großes Nahrungsangebot sehr sozial leben. Orangs anderswo, die ihr Futter schwerer finden, sind eher als Einzelgänger unterwegs, so dass sich neue Verhaltensweisen bei ihnen schwerer ausbreiten können. Das passt auch zu den Beobachtungen, dass Schimpansen-Gruppen mit ausgeprägterem Sozialverhalten – bewertet anhand von sozialer Fellpflege, dem Teilen von Nahrung und dergleichen – mehr und unterschiedlichere Werkzeuge benutzen. Selbst Kapuzineraffen verwenden Zweige, um nach Nahrung zu graben, wie Greg Westergaard herausfand, der in der Forschungsabteilung eines privaten Primaten-Instituts in Yemassee, South Carolina, arbeitet. Und Kimberly Phillips vom Hiram College, Ohio, beobachtete, wie Kapuzineraffen in der Wildnis Trinidads Blätter als Schwämme für Wasser verwendeten und mit einem Stock auf eine Schlange einschlugen. Bei Menschenaffen, die zusammen mit Menschen aufwuchsen, sind selbst Ansätze zu Sprachfähigkeit, Zeitbewusstsein und sogar zu Kunst und Schrift nachgewiesen (bild der wissenschaft 8/2000, „Die sprechenden Affen von Atlanta“). Das darf freilich nicht über die enormen Unterschiede hinwegtäuschen: „Die Erforschung der Menschenaffen hilft uns zu sehen, was einzigartig an Menschen ist“, betont Boesch. Vor allem die komplexe Sprache habe es dem Menschen ermöglicht, über große räumliche und zeitliche Entfernungen seine Kulturen zu verbreiten. „Menschenaffen bauen nicht auf ihren erworbenen Fähigkeiten und Erfindungen auf. Wir dagegen entwickeln komplexe Technologien und Rituale“, stimmt Bennett Galef zu. Boesch spricht von „kumulativer kultureller Evolution“. Praktische Heilkunde, so eine andere überraschende Erkenntnis, beherrschen Menschenaffen ebenfalls. Das Paradebeispiel haben Michael Huffman von der Kyoto-Universität und Mohamedi Seifu Kalunde vom Mahale-Mountains-Nationalpark 1987 in diesem Park im Westen Tansanias beobachtet. Sie sahen, wie sich Chausiku, eine erwachsene Schimpansin, von ihrer Gruppe zurückzog, weil sie Durchfall hatte. Sie suchte einen Mjonso-Baum (Veronia amygdalina) auf, den Schimpansen aufgrund seiner bitteren giftigen Blätter und Rinde normalerweise meiden. Doch Chausiku kaute auf den Blättern herum, ohne sie zu schlucken, schälte mit ihren Zähnen die Rinde von den Zweigen ab und lutschte dann das Mark. Das tat sie eine halbe Stunde lang und ging dann früh schlafen. Einen Tag später war sie wieder munter und aß wie gewöhnlich Ingwer, Feigen und Elefantengras. Huffman bat daraufhin Pflanzenbiochemiker Koichi Koshimizu und Hajime Ohigashi von der Kyoto-Universität, die Inhaltsstoffe des Baumes im Labor zu analysieren. Sie fanden 13 unbekannte Steroidglucoside mit antibakteriellen, antiparasitischen und sogar Tumor-bekämpfenden Eigenschaften. Tatsächlich wird der Bitterblattbaum Mjonso in Afrika auch zu Heilzwecken eingesetzt. Die Watongwe dort tränken die Blätter mit kaltem Wasser oder kochen sie und essen sie mit Fleisch, um Magenbeschwerden, Malaria- Fieber oder Darmparasiten zu bekämpfen, was oft binnen eines Tages – wie bei Chausiku – zur Genesung führt. Noch spektakulärer: Immer wieder schlucken Schimpansen unzerkaute stachelige Blätter bestimmter Bäume – über 30 Arten wurden bereits verzeichnet. Die Blätter haben keinen Nährwert und werden zerknittert, aber komplett und unverdaut wieder ausgeschieden. An ihnen haften oft Darmparasiten, etwa der bis zu drei Zentimeter lange Fadenwurm Oesophagostomum stephanostomum. Jane Goodall und Richard Wrangham von der Harvard University vermuten, dass die Blätter die Würmer im Verdauungstrakt einfangen oder mit ihren Stacheln aufspießen und dann aus dem Körper hinaustransportieren. Dafür spricht, dass Schimpansen Blätter hauptsächlich nach Beginn der Regenzeit fressen, wenn die Zahl der Parasitenlarven und die Infektionsgefahr rasch zunehmen, und dass nur kranke Tiere die Blätter verzehren. Auch bei Bonobos und östlichen Flachlandgorillas wurde dieses Verhalten beobachtet. „Wissen die Tiere, wie sie ihre Leiden heilen können? Wie begann das Verhalten?“, fragt Jane Philips-Conroy von der Washington University, die Selbstmedikation bei Pavianen erforscht. „Nur weil ein Affe eine bestimmte Pflanze isst, heißt das nicht, dass er weiß, wie sie medizinisch wirkt. Wir brauchen genauere Studien, die zeigen, dass eine Pflanze effektiv gegen eine bestimmte Krankheit hilft, so wie in Huffmans Fall.“ Dieser stimmt zu und vermutet, dass der Heilpflanzenverzehr tradiert wird. Menschenaffen verbringen Jahre mit ihren Müttern und lernen dabei, was genießbar ist und was nicht. „So wird das Wissen und die Erfahrung der Gruppe in Form von Verhaltenstraditionen weitergegeben, und die Gefahr, sich bei individuellen Versuchen mit giftigen Pflanzen zu schaden, ist begrenzt.“ Vielleicht lernen die Tiere dabei auch, welche Pflanzen helfen, wenn sie sich krank fühlen. Zum Beispiel beobachtete Chausikus Sohn Chopin, wie sie die bitteren Blätter kaute, als sie Durchfall hatte. Er bekam auch ein Stück von ihr, roch daran, nahm es in den Mund, spuckte es aber gleich wieder aus und labte sich weiter an Ingwer. Mittlerweile haben zahlreiche Forscher Indizien für Selbstmedikation auch bei anderen Affen und Menschenaffen beobachtet (siehe Kasten rechts „Mediziner im Dschungel“). „ Afrika, die Geburtsstätte der Menschheit, dürfte auch der Geburtsort für die Evolution der modernen Medizin gewesen sein“, sagt Huffman, der inzwischen einen neuen Wissenschaftszweig mitbegründet hat – das Studium der Zoopharmakognosie oder Tierselbstheilung. Das könnte auch für uns sehr nützlich sein. Huffman betont: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir von den Schimpansen etwas über die medizinische Nutzung von Pflanzen lernen können.“ Unsere modernen Medikamente basieren meist auf einer einzigen Komponente gegen den Krankheitserreger, die zwar hocheffektiv ist, aber die Gefahr der Resistenz birgt. In der Natur gibt es viele verschiedene Waffen. Jede allein ist zwar nicht hinreichend gegen eine Krankheit, aber zusammen sind die Toxine effektiv, und die Parasiten können gegen die Mixtur nicht so einfach resistent werden. Huffman nennt ein Beispiel: „ Bitteres Veronia-Mark enthält 20 oder mehr Komponenten mit verschiedenen Aktivitätsebenen und Wirkungen auf Parasiten.“ Einige paralysieren den Wurm, andere verhindern die Eiablage, wieder andere vergiften ihn.

Als moralisches Tier haben manche Philosophen den Menschen charakterisiert, als „animale morale“. Wie aber kam der Mensch zur Moral? Wenn Frans de Waal Recht hat, dann sind stammesgeschichtliche Vorstufen unserer – in der Praxis schwerlich vollendet zu nennenden – Moralität auch bei unseren nächsten Verwandten zu finden. Zwar steht für de Waal außer Zweifel, dass unsere Normen viel abstrakter und ausgereifter sind als die der Schimpansen. Doch aus seinen Beobachtungen im holländischen Arnheim-Zoo und im Yerkes-Primatenzentrum in Atlanta schließt er, dass Schimpansen ebenfalls über soziale Reglements verfügen, die das Verhalten der Individuen maßgeblich prägen. Erhält beispielsweise eine Gruppe hungriger Schimpansen die Nahrung auf einmal, kommt es nicht unbedingt zu einem Kampf darum, sondern häufig zu einem komplizierten Vorgang der Verteilung. Individuen, die großzügig abgeben, erhalten bei späteren Gelegenheiten von ihren Begünstigten ebenfalls Nahrung, während zunächst eher geizige Tiere dann aggressiv zurückgewiesen werden. Der wechselseitige Altruismus kann auch in anderen „ Währungen“ erfolgen, insbesondere in Form von Sozialkontakt und Körperpflege sowie geschlechtlicher Zuwendung. In der Wildnis kommt es bei Schimpansen häufig zu gemeinsamen Treibjagden mit anschließender Fleischverteilung – Früchte dagegen werden nur von Müttern an ihre Kinder verschenkt. Doch bei der Jagd ist eine Arbeitsteilung unumgänglich, Treiber sind genauso wichtig wie Fänger. Bekäme nicht jeder etwas von der Beute, würde kaum noch einer mitjagen. Männchen, die sich nicht an der Jagd beteiligt haben und erst nach Erlegung der Beute am Fressplatz auftauchen, erhalten allerdings – unabhängig von ihrem Rang – wenig oder gar nichts, und Weibchen bekommen fast immer etwas ab. Auch Bestrafungen hat de Waal beobachtet: Die Pfleger im Arnheim-Zoo hatten beschlossen, den Schimpansen erst Nahrung zu geben, wenn die ganze Gruppe im Schlafquartier beisammen war. Eines Abends kamen zwei heranwachsende Weibchen zu spät, was die Fütterung der ganzen Gruppe um zwei Stunden verzögerte und entsprechend Unmut auslöste. Die beiden Tiere mussten daraufhin sogar in einem getrennten Schlafkäfig untergebracht werden, um Vergeltungsmaßnahmen zu verhindern. Dennoch wurden sie am nächsten Tag von der Gruppe gejagt und verprügelt – und waren dann am Abend zuerst am Ort der Fütterung. Die Aggression zwischen verschiedenen Schimpansen-Gruppen kann eine Grausamkeit erreichen, die sonst nur von Menschen bekannt ist. Jane Goodall hat regelrechte Vernichtungsfeldzüge beobachtet, die zur Massakrierung und Ausrottung einer ganzen Gruppe führten. Und Frans de Waal spricht von „wilden Diplomaten“ und einer raffinierten Machtpolitik. Immer wieder verbünden sich zwei Tiere gegen ein überlegenes drittes. „Individuen mit einem hohen Rang sind nicht notwendigerweise die stärksten, sondern können auch solche sein, die die meiste Unterstützung mobilisieren.“ Wechselseitiger Altruismus bei Nahrungsteilung, Fellpflege und Bündnispolitik sowie Bestrafung beim Verstoß gegen Gruppeninteressen kommen nach dem bisherigen Wissensstand nur bei den Primaten mit besonders komplexen Sozialverbänden häufiger vor, insbesondere bei Menschenaffen. Dasselbe gilt für so genanntes Trostverhalten: Nicht selten wird beobachtet, dass ein jüngerer Schimpanse seinen Arm um einen älteren Artgenossen legt, wenn dieser soeben in einem Kampf mit einem Kontrahenten eine herbe Niederlage eingesteckt hat. Bei Nichtmenschenaffen wurde eine solche Verhaltensweise noch nie gesehen.

„Ist Moral nun ein biologisches oder ein kulturelles Phänomen? Es gibt keine einfache Antwort auf eine solche Frage, die man schon mit der Überlegung verglichen hat, ob Trommeltöne vom Trommler oder von der Trommel erzeugt werden“, spitzt es Frans de Waal zu. „Natürlich ist in der menschlichen Gesellschaft aufgrund unserer Fähigkeit, Verhaltensregeln zu formulieren, zu diskutieren und schriftlich zu fixieren, alles deutlicher ausgeführt. Dennoch kann man ohne weiteres von der Annahme ausgehen, dass die Verhaltensweisen unserer Vorfahren von Dankbarkeit, Verpflichtung, Vergeltung und Entrüstung gesteuert wurden, und zwar lange bevor sich eine für einen moralischen Diskurs ausreichende Sprachbefähigung entwickelt hatte.“ Fest steht, dass ohne die folgenden Fähigkeiten, die in eingeschränkter Weise auch bei Menschenaffen vorkommen, menschliche Moral kaum vorstellbar ist: Mitgefühl: Zusammengehörigkeitsgefühl, Einfühlungsvermögen, Hilfe, emotionale Übertragung. Normen: Regeln befolgen und verinnerlichen, Bestrafungen antizipieren und vermeiden. Wechselseitigkeit: Tauschbeziehung zwischen Nichtverwandten, Rache, Bestrafung von Ausbeutern. Miteinander auskommen: Beziehungspflege, Kompromissbereitschaft, Konfliktvermeidung, Versöhnung. Offenbar gehen mit der stammesgeschichtlichen Entwicklung intellektuelle, soziale und moralische Fähigkeiten Hand in Hand. Letztere sind, so de Waal, eine Form von sozialer Kooperation, auf deren Basis erst die moralischen und ethischen Überzeugungen und Handlungen bei uns Menschen entstehen konnten. Dies sollte ein Grund mehr sein, unsere nächsten Verwandten nicht weiter so „unmenschlich“ zu behandeln. Stattdessen zeichnet sich ihre Ausrottung in den nächsten Jahren ab. „Wir verlieren nicht nur Schimpansen, sondern wir verlieren viele verschiedene Schimpansen-Kulturen“, klagt Whiten. „Es geht um Jetzt oder Nie“, betont auch Christophe Boesch die Dringlichkeit notwendiger Gegenmaßnahmen. „Oder wollen wir einfach akzeptieren, dass die uns so ähnlichen Menschenaffen für immer von unserem Planeten verschwinden?“

Kompakt

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Zu den erstaunlichsten Merkmalen der Menschenaffen zählen Werkzeuggebrauch, Selbstmedikation und komplexes Sozialverhalten (Mitgefühl, Altruismus, Verhaltensregeln, Diplomatie und Bündnispolitik). Affen und Menschenaffen können sozial lernen, nachahmen und generationenübergreifend Wissen vermitteln – die ersten Anzeichen von Kultur. Traditionsbildung ist also nicht auf den Menschen beschränkt.

Schimpansen-Kulturen

In einer konzertierten Aktion haben viele langjährige Schimpansen-Feldforscher – darunter Christophe Boesch, Jane Goodall, William McGrew, Toshisada Nishida und Andrew Whiten – über drei Dutzend Verhaltensformen zusammengestellt, die als kulturell gelten können. Denn sie variieren zwischen verschiedenen Gruppen oder kommen nicht bei allen vor – beispielsweise hämmern die Schimpansen im Staat Elfenbeinküste östlich des Flusses Sassandra-N’Zo im Gegensatz zu ihren wenigen Dutzend Kilometer weiter westlich lebenden Artgenossen keine Nüsse auf, obwohl es dort auch welche gibt. Kulturelle Unterschiede dürfen sich nicht auf genetische Differenzen zurückführen lassen. Und sie sind nicht ökologisch bedingt wie die Schlafgewohnheiten von Schimpansen – sie schlafen nur dort in Bodennestern, wo keine Gefahr durch Leoparden und Löwen besteht. Verschiedene Verhaltensformen aufgrund von Umweltunterschieden wären nämlich kein hinreichendes Kriterium für Traditionsbildung. Die Forscher sprechen inzwischen sogar von verschiedenen Schimpansen-Kulturen, die sich nicht nur in einer einzigen Verhaltensweise, sondern in ganzen Bündeln von Traditionen unterscheiden. Alle diese Handlungen sind nicht angeboren, sondern durch einsichtiges Lernen entstanden. Sie werden sozial tradiert und können auf verschiedene Weisen demselben Zweck dienen. Zu den erstaunlichsten Verhaltensmustern zählen: Kurze Zweige werden zum „Angeln“ von Termiten benutzt, die dann wie „ Eis am Stiel“ abgeschleckt werden. Lange Zweige werden in Termitenstöcke oder Ameisenhaufen gebohrt, bis sich genug Insekten daran festgebissen haben. Dann werden sie mit der Hand abgewischt und zum Mund geführt. Mit kleinen Stöckchen wird das Mark aus den langen Röhrenknochen eines erjagten Affen gekratzt. Mit einem Hammer aus Holz oder Stein werden – mitunter stundenlang – nahrhafte Nüsse auf einem Amboss aus Wurzelholz oder Stein aufgeschlagen. Mütter lehren ihren Kindern zuweilen aktiv, wie die Werkzeuge einzusetzen sind. Steine und Äste werden als Waffen zum Angriff oder zur Verteidigung verwendet, manchmal auch geworfen. Blätter werden verwendet, um den eigenen Körper zu reinigen oder Artgenossen zu kraulen. Blätter dienen als Unterlage, um nicht auf feuchtem Boden sitzen zu müssen. Bestimmte Blätter werden auf Wunden gelegt. Blätter werden zu Büscheln zusammengefasst, um damit Bienen oder Fliegen zu vertreiben. Blätter werden zu einem Schwamm zusammengeknüllt, um damit Wasser aufzusammeln und sich in den Mund zu träufeln. Bei Stellen mit abgestandenem Wasser werden in der Trockenzeit Löcher in den Sand gegraben (oft mit Hilfe von Stöcken). Erst dieses – weitgehend keimfreie! – Wasser, das sich darin sammelt, wird getrunken. Fellparasiten werden auf Blätter oder den Innenarm gesetzt, begutachtet und dann entweder zerquetscht, gefressen oder weggeworfen. Zwei Schimpansen geben sich mit erhobenen Armen die Hand über dem Kopf und lausen sich mit der freien Hand gegenseitig. Männchen machen auf sich aufmerksam, indem sie mit den Fingerknöcheln gegen Baumstämme klopfen oder geräuschvoll Blätter zerfetzten, ohne sie zu fressen. Mit Ästen wird Lärm gemacht, um die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu lenken. Bei Regen wird von manchen Gruppen eine Art Tanz aufgeführt: Die Tiere springen herum, ziehen Äste hinter sich her und hauen auf Wurzeln oder den Boden. Mediziner Im Dschungel Es gibt zahlreiche anekdotische Berichte von Affen-Selbstmedikation: Ein Orang-Utan mit Kopfschmerzen aß bestimmte Blüten und war innerhalb einer Stunde wieder munter. Berggorillas verzehrten die Rinde des Dombeya-Baums. Darin sind Stoffe – unter anderem Antibiotika –, die gegen Darmbakterien wie Escherichia coli wirken. Japanmakaken fraßen im Frühling ein Bambus-ähnliches Gras namens Takenigusa, das giftige Alkaloide enthält. In der traditionellen chinesischen Medizin wird es gegen Geschwüre und Ohreninfektion eingesetzt. Und die Makaken von Arashiyama nehmen bis zu drei Gramm Erde pro Tag zu sich. Die Kaolin-Mineralien darin kurieren Durchfall, indem sie die Wirkung von Pflanzenalkaloiden im Darm abpuffern. Rote Kolobusaffen auf der Insel Sansibar fraßen proteinreiche Blätter von Mandel- und Mangobäumen. Sie enthalten allerdings auch Phenole und andere Sekundärstoffe, die Verdauungsbeschwerden verursachen. Zusätzlich schlucken die Affen Kohle von verbrannten Bäumen – ein gutes Absorptionsmittel für Phenole, so dass die Nahrung bekömmlich wird. Muriki-Spinnenaffen in Brasilien scheinen abhängig von den ökologischen Randbedingungen mit einer Diät ihre Fruchtbarkeit zu verringern: Mit Blättern von Apulia leiocarpa und Platypodium elegans, deren Isoflavanoide ähnlich wie das Geschlechtshormon Östrogen aufgebaut sind, und mit Früchten von Enterlobium contortisiliquim, die Stigmasterol enthalten, eine Vorstufe des Schwangerschaftshormons Progesteron. Kapuzineraffen auf Costa Rica verwendeten „Insektenschutzmittel“: Sie nehmen ein Bad in hohlen Baumstümpfen, wo sich Wasser angesammelt hat, das mit Harzen angereichert ist. Oder sie rieben sich ihren Pelz mit bestimmten Blättern, Samen oder Rinden ein, die teilweise auch die lokale Bevölkerung gegen Hautstörungen und Insekten einsetzt.

Lesen

Über die Entwicklung von Moral bei Menschen und anderen Tieren: Frans de Waal DER GUTE AFFE dtv 2000, € 13,50 Spannende Diskussion ob, wie und was Tiere denken können: Marc D. Hauser WILDE INTELLIGENZ C. H. Beck 2001, € 24,50 Sehr schön bebilderte Einführung in die neuen Erkenntnisse der Verhaltensforschung: Volker Sommer, Karl Amman DIE GROSSEN MENSCHENAFFEN BLV 1999, € 29,90 Pointierte Erörterung, warum die Kultur an unserer Natur zu scheitern droht: Franz M. Wuketits DER AFFE IN UNS Hirzel 2002, € 24,00 Fachbuch über Verhaltenstraditionen bei Tieren: Eytan Avital, Eva Jablonka (Hrsg.) ANIMAL TRADITIONS Cambridge University Press 2000, £ 40,00

INTERNET

Orangutan Foundation International www.orangutan.org Berggorilla & Regenwald Direkthilfe e.V. www.berggorilla.com Jane Goodall Institute www.janegoodall.org Wild Chimps Foundation www.wildchimps.org Great Apes Survival Project www.unep.org/grasp Infos zur Bushmeat-Krise mit vielen Links www.wissenschaft.de

Besuchen

Das „Pongoland“ des Zoos Leipzig ist die größte Menschenaffen-Anlage der Welt. Hier wurde Urwald-Atmosphäre für Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang- Utans geschaffen. Außerdem kann man Forschern des Max-Planck-Instituts bei Verhaltensexperimenten mit den Tieren zuschauen. Die Tests finden meist wochentags zwischen 9.00 und 10.30 Uhr statt sowie zwischen 11.00 und 12.30 Uhr. Zoologischer Garten Leipzig Pfaffendorfer Straße 29 04105 Leipzig Tel. 0341 | 5933500 www.zooleipzig.de

Rüdiger Vaas

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♦ Di|sthen  〈m. 1; Chem.〉 Mineral, chem. Aluminiumsilikat; Sy Zyanit … mehr

Hand|schrift  〈f. 20〉 1 die Schriftzüge eines Schreibenden 2 Art dieser Schriftzüge … mehr

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