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Die Mainzer Kult-Kneipe

Allgemein

Die Mainzer Kult-Kneipe
Erstmals haben Archäologen eine römische Tempelanlage in Deutschland freigelegt, in der sie auch die Kulthandlungen nachvollziehen können.

Im Schatten des Innenhofes richten die Gläubigen kleine Altäre her. Auf einem Stapel Holz werden Datteln, Feigen und Pinienzapfen verbrannt. Der Duft von Räucherwerk durchzieht die heiligen Räume. Nebenan opfern andere den Göttinnen Magna Mater und Isis. Aus der Gaststätte dringt der Lärm eines rituellen Gelages. So rekonstruieren Archäologen das sakrale Treiben im Mainz der Römerzeit. Mit der Ausgrabung ist den Landesarchäologen ein Coup der Extraklasse gelungen. Dr. Marion Witteyer sitzt wieder an ihrem Schreibtisch, vor sich eine Kiste mit Kostbarkeiten aus dem Tempelareal, und schwelgt in den Ergebnissen der Buddelei: „Über die Tempelarchitektur weiß man Bescheid. Aber wir hatten hier die einmalige Chance, etwas über die Kulthandlungen zu erfahren.“ Nur drei Monate waren den Archäologen zugestanden worden, dann sollten die Bauarbeiten für die Einkaufsmeile in der Mainzer Lotharpassage fortgeführt werden. Doch mit einer Plakat- und Unterschriftenaktion „Gebt den Archäologen Zeit“ unterstützte die Mainzer Bevölkerung die Wissenschaftler in Zeitnot. Insgesamt ein Jahr konnte dann geforscht werden. Ergebnis: Der römische Tempelbezirk bestand vom Ende des 1. bis zum 4. Jahrhundert n.Chr. Er lag an der Hauptstraße, die vom Legionslager auf dem Berg hinunter zur Rheinbrücke führte. Hier lebten sonst Handwerker und Händler. Das Heiligtum war mit einer rechtwinkligen Mauer umschlossen. Im Innern gab es neben zwei Tempelgebäuden und einem Restaurant ein freies Hofareal, in dem die Gläubigen ihre Opferhandlungen vollzogen. Hier verbrannte man seine Gaben auf einem Altar oder vergrub sie im Boden. An den meisten Opferstellen fanden sich Unmengen von Asche und darin die immer gleichen Früchte: Datteln, Feigen und Pinienkerne. Stolz ist Marion Witteyer auf die Entdeckung eines Reiskorns. Keine von diesen Pflanzen wuchs in den unwirtlichen Breiten nördlich der Alpen, Früchte und Samen kamen aus dem Mittelmeergebiet. „Südimporte sind etwas absolut Seltenes“, erklärt die Ausgräberin. Im Tempelbezirk in der Lotharpassage klaubte sie die fremden Früchte zu hunderten aus dem Boden. Der größte Teil der Opfergaben sind Speisen, doch es gibt auch Gruben, in denen Nichtessbares für die Götter niedergelegt wurde. Gebrannte Tierfiguren aus Ton zum Beispiel, die vermutlich ein echtes Fleischopfer ersetzten. 300 Öllampen zeigen deren wichtige Rolle bei den Brandopfern. Teils verbrannt lagen sie auf den Holzkohleschichten der Altäre. Offenbar hat man die Lichtspender am Ende eines Ritus geopfert. Bei einer neuen Kulthandlung ließ man sie an ihrem Platz auf der Kohle, stapelte neue Scheite darüber und zündete ein Feuer an. Zum römischen Gottesdienst gehörten auch rituelle Feste. Die Archäologen haben innerhalb des Heiligtums eine Gaststätte ausgegraben: An zahlreichen Herden lagen Geschirr und Weinkrüge in Scherben herum, vermischt mit Essensresten. Die Überbleibsel von mehreren Festgelagen bilden eine dicke Schicht auf dem Fußboden. Die Mainzer Archäologin rätselt: „Vielleicht gab es die Kehrwoche im Heiligtum nur einmal im Jahr?“ Vom Fleisch eines geopferten Tieres bekamen die Götter nur die Eingeweide oder Knochen als Brandopfer. Einen weiteren Anteil erhielt der Priester für seine Dienste, den Rest verspeisten die Gläubigen selbst. Opferfleisch konnte ein Römer problemlos auf dem Markt erwerben. Dann lud er zur Party ins Tempelrestaurant – Mainz besitzt Deutschlands älteste Kult-Kneipe. Noch zwei Monate vor Ende der Grabung wusste niemand, welche Götter in den Tempeln verehrt wurden. Die Archäologen hatten keinerlei relevante göttliche Zeugnisse gefunden. Dann tauchten zwei in den Boden eingelassene Steinplatten auf. Zwei identisch formulierte Inschriften („ Weihungen zum Wohl der Kaiser, des römischen Volkes und des Heeres“) unterschieden sich nur durch den Namen der Gottheit, für die sie gestiftet wurden: Auf der einen Tafel wurde die anatolische Fruchtbarkeitsgöttin Magna Mater, auf der zweiten die ägyptische Isis geehrt. Magna Mater taucht in Mainz selten auf, Isis war den Wissenschaftlern hier bislang völlig unbekannt. Marion Witteyer datiert die Inschriften in die Regierungszeit des flavischen Kaiser Vespasian (69 bis 79 n.Chr.). Auf einem anderen, kleineren Inschriftenfragment im Mainzer Heiligtum wird Vespasian zusammen mit Magna Mater genannt. Mit der Göttin Isis verbindet ihn sowieso ein enges Band: Vespasian war 69 n.Chr. in Alexandria vom Militär zum Kaiser erkoren worden. Die ägyptischen Götter, vor allem das Paar Isis und Serapis, betrachtete er seither als seine persönlichen Schutzgötter. Nach der Eroberung Jerusalems 70 n.Chr. verbrachte er mit seinem Sohn Domitian die Nacht vor dem Triumphzug in Rom im Isis-Heiligtum vor den Toren der Stadt. Vor diesem Hintergrund wagt die Mainzer Archäologin die Hypothese: „Die flavischen Kaiser richten in der Provinz einen Kult ein, der eng mit ihrer Person verbunden ist – wird hier der Versuch unternommen, eine Dynastie zu gründen?“ Die Flavier stammten aus bescheidenen Verhältnissen. Mit der Stiftung solcher Heiligtümer stellten sie sich unter den besonderen Schutz einer Gottheit und schufen sich so eine göttliche Legitimierung ihrer weltlichen Macht. Soweit die offizielle Seite des Mainzer Tempels. Neben den anerkannten Kulten sind aber auch Zauberhandlungen belegt, die im Römischen Reich verboten waren. Etliche zusammengerollte Bleitäfelchen zeugen vom Aberglauben des Volkes. Auf ihnen schrieben die römischen Mainzer ihre geheimsten Wünsche auf, rollten sie um einen magischen Gegenstand und vergruben sie bei Nacht und Nebel im Tempelhof. Die Bleiröllchen aus der Lotharpassage müssen noch restauriert werden, Spezialisten müssen das heute bröckelige Blei vorsichtig auseinander biegen. Marion Witteyer ist gespannt: „Das sind so intime Quellen. Da erfährt man die Gedanken einer Person, die sonst völlig verschlossen bleiben.“ Aus antiken Schriftquellen kennen die Historiker derlei Hokuspokus. Die Zaubersprüche reichen von juristischen Dingen wie „Bestrafe den Dieb!“ bis zu Liebesleid: „Wenn ich sie nicht kriege, soll sie keiner haben!“ Die Archäologin zieht ein erstes Resümee: „Das Heiligtum ist schillernd, da wurden nicht nur die zwei Hauptgöttinnen verehrt. Es war ein Platz, an dem jeder jedem Gott gehuldigt hat.“ Das Besondere des Ortes soll sichtbar bleiben. Die Mauern des heiligen Bezirks – für die archäologischen Arbeiten abgetragen – werden nun wieder an ihren ursprünglichen Platz zurückversetzt. In der Lotharpassage, so Marion Witteyer, soll „Geschichte in Szene gesetzt werden“.

GÖTTER AUS ALLER WELT

Die römische Götterwelt war allumfassend – zu den alteingesessenen Göttern kamen die Überirdischen der eroberten Gebiete hinzu. Nicht alle wurden in den zentralen Pantheon aufgenommen. Magna Mater allerdings, die „Große Mutter“-Göttin aus Kleinasien, hatte keine Schwierigkeiten bei ihrer Etablierung in Rom. Nach einer Befragung der sibyllinischen Bücher wurde ihr Kult im 3. Jahrhundert v.Chr. offiziell eingeführt. Sie sollte den Römern im Zweiten Punischen Krieg gegen Hannibal helfen. Weit umstrittener im Römischen Reich war die ägyptische Isis. Ihr schlechter Leumund rührte aus der Zeit, als Kleopatra den Römern den Kopf verdrehte. Die Pharaonin wurde mit der Göttin Isis gleichgesetzt – das war in Rom verpönt. Hier konnten Kaiser erst nach ihrem Tod zu Göttern werden. Wer sich vorher so verehren lassen wollte, galt als anmaßend und lebte gefährlich. Antonius, der mit der Göttin Kleopatra-Isis verheiratet war, wurde von Octavian zum Staatsfeind erklärt. In dieser Zeit wäre ein Isiskult in Rom undenkbar gewesen. Erst ein Jahrzehnt später führte Caligula (37 bis 41 n.Chr.) das orientalische Gottkönigtum in Rom ein. Mit Vespasian (69 bis 79 n.Chr.) wurden die ägyptischen Götter auch in Rom und den westlichen Provinzen endgültig populär.

Almut Bick

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