Unverhofft kommt oft – dieses Motto gilt ganz besonders für die Pharma-Forschung. Denn immer wieder entpuppen sich Substanzen, die ursprünglich für ganz andere Dinge vorgesehen waren, in Labortests als heiße Kandidaten für neue Arzneimittel. So auch das Glatirameracetat (Handelsname: Copaxone) gegen Multiple Sklerose (MS). Als die Forscher den Wirkstoff Mitte der siebziger Jahre synthetisierten, wollten sie damit bei Mäusen künstlich MS-artige Schübe auslösen. Sie erreichten das genaue Gegenteil: Tiere, die mit Glatirameracetat gespritzten wurden, erwiesen sich als immun gegen andere Schub-auslösende Substanzen. Seit 1977 wurde die Substanz auch an Patienten getestet. In den USA ist der Wirkstoff schon seit 1996 zugelassen, seit Herbst 2001 auch in Deutschland. Der Effekt von Glatirameracetat: Es lenkt das Immunsystem ab. Multiple Sklerose gilt als Autoimmunkrankheit: Das Nervensystem wird von den körpereigenen Abwehrkräften angegriffen – warum ist noch unklar. Möglicherweise ist die Ursache eine Infektion mit einem bisher unbekannten Virus. Zwillingsstudien sprechen zudem für eine genetische Veranlagung. Die Folge des Angriffs: Entzündungen im Gehirn und Rückenmark, die die biologische Isolierschicht der Nervenbahnen – die Markscheiden – zerstören. Die Erregungsleitung der Nervenfasern wird verlangsamt oder ganz unterbrochen, und es kommt zu neurologischen Ausfällen. In Deutschland sind etwa 60000 Menschen an MS erkrankt. Wie Glatirameracetat das Immunsystem ablenkt, ist noch nicht ganz geklärt. Am Krankheitsgeschehen entscheidend beteiligt sind Helferzellen des Immunsystems. Sie reagieren fatalerweise aggressiv gegen Proteine der Markscheiden. Dabei setzen sie entzündungsfördernde Botenstoffe wie Interleukin 2 oder Interferon-gamma frei. Das löst die für MS typischen Entzündungsschübe an den Nervenfasern aus. Glatirameracetat scheint das Abwehrsystem umzuprogrammieren. Unter seinem Einfluss bildet es eine andere Art von Helferzellen, die zwar immer noch die Markscheiden erkennen, aber Substanzen ausschütten, die Entzündungen unterdrücken können, unter anderem Interleukin 4. Dies zeigte vor kurzem eine kanadisch-europäische Studie, bei der 119 Patienten das Mittel neun Monate lang täglich unter die Haut gespritzt bekamen. Die Anzahl der Schübe sank im Vergleich zu einer Gruppe, die mit Placebo behandelt wurde, um ein Drittel. Glatirameracetat ist nicht zufällig entdeckt worden, es besitzt auch keine eindeutige chemische Struktur. Zur Synthese werden lediglich die vier Aminosäuren Glutamat, Lysin, Alanin und Tyrosin zusammengegeben. Ihr biochemisches Kürzel ist G-L-A-T. Diese Bausteine bilden in zufälliger Reihenfolge Ketten mit einer Länge von bis 100 Aminosäuren. Wegen der stets wechselnden Zusammensetzung muss der Hersteller jede Charge im Tierversuch neu auf ihre Wirksamkeit testen. Die vier Aminosäuren finden sich besonders häufig in dem Protein der Markscheide, gegen das sich die körpereigenen Angriffe bei MS-Kranken richten. Zwar kann wegen der zufälligen Zusammensetzung das Glatirameracetat diesem Protein nur sehr grob ähneln, doch die Ähnlichkeit scheint auszureichen, um die Entwicklung der entzündungshemmenden Helferzellen zu stimulieren.
INTERNET
Infos der Internationalen Multiple-Sklerose-Gesellschaft www.msif.org
Patientenratgeber und Fachforum in einem: www.ms-network.com
Lesen
Ulrike Schäfer, Sigrid Poser MULTIPLE SKLEROSE Ein Leitfaden für Betroffene Blackwell, 1999 , € 12,95
Günter Krämer, Roland Besser MULTIPLE SKLEROSE Antworten auf die häufigsten Fragen Trias-Verlag, 2000, € 17,95
Kontakt
Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband e.V. Küsterstr. 8 30519 Hannover Telefon: 0511 / 9 68 34-0 Telefax: 0511 / 9 68 34-50 www.dmsg.de
Thomas Wilke