Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

GEISTERTEILCHEN ALL-ÜBERALL

Astronomie|Physik

GEISTERTEILCHEN ALL-ÜBERALL
Sie stammen aus der ersten Sekunde nach dem Urknall, und sie sind überall: kosmische Neutrinos. Forscher haben ihre Spuren entdeckt.

In seinen ersten Minuten war unser ganzes Universum ein einziger Kernreaktor. Temperatur und Dichte waren so groß, dass viele der mit dem Urknall entstandenen Protonen zu Deuterium, Tritium, Helium-3, Helium-4 und Lithium verschmolzen. Solche Prozesse finden heute nur noch im Zentrum der Sterne statt sowie bei Sternexplosionen und mitunter in der Nähe von Neutronensternen und Schwarzen Löchern. Doch vor 13,7 Milliarden Jahre spielten sich Kernfusionen überall im All ab.

Dabei müssen, so die Theorie, auch Myriaden von Neutrinos entstanden sein. Diese gespenstischen Partikel, deren Erforschung der Schwedischen Akademie der Wissenschaften schon mehrere Physik-Nobelpreise wert war (zuletzt 2002), sind elektrisch neutrale Elementarteilchen. Bei den Fusionsprozessen im Zentrum der Sonne tragen sie etwa drei Prozent der freigesetzten Energie davon. Es gibt drei Sorten (Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos) und deren Antiteilchen. Mit Materie wechselwirken Neutrinos kaum. „Für sie ist die Erde einfach ein Ball, leicht zu durchdringen auf dem Weg durchs All“, reimte der amerikanische Schriftsteller John Updike einmal. Tatsächlich schießen rund 66 Milliarden Neutrinos aus dem Sonneninneren pro Sekunde durch jeden Quadratzentimeter der Erdoberfläche – einschließlich des menschlichen Körpers –, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie wären selbst durch Lichtjahre dicke Bleimauern nicht aufzuhalten. Nur sehr selten verwandeln Neutrinos ein Atom in ein anderes oder lösen bei Streuprozessen einen schwachen Lichtblitz aus. Doch die Neutrinos aus der Urzeit des Alls lassen sich auf diese Weise nicht erhaschen. Denn sie haben nur ein Millionstel der Energie eines typischen Sonnenneutrinos. Sie können daher heute selbst mit den raffiniertesten Technologien nicht im Einzelnen nachgewiesen werden. Nicht einmal eine Bleimauer so dick wie das beobachtbare Universum würde sie stoppen.

Doch im sehr jungen Universum war die Urmaterie noch so dicht, dass die Winzlinge dauernd mit anderen Partikeln interagierten. Bereits zwei Sekunden nach dem Urknall war die Temperatur des Weltraums freilich so weit gefallen – auf immer noch imposante zehn Milliarden Grad (entsprechend einer Energie von rund einem Megaelektronenvolt) –, dass sich die Neutrinos „entkoppelten“, wie die Physiker sagen. Das heißt, ihre Wechselwirkung mit anderen Teilchen nahm drastisch ab. Und so zogen sie fortan mit fast Lichtgeschwindigkeit ihrer Wege. Mit der weiteren Ausdehnung des Weltraums verloren sie den Großteil ihrer Energie.

300 NEUTRINOS pro kubikzentimeter

Noch immer durchfluten die kosmischen Geisterteilchen das All. Bis heute sind aus der Urzeit des Universums rund 300 Neutrinos in jedem Kubikzentimeter Weltraum übrig geblieben. Sie schwirren nicht nur in den intergalaktischen Leerräumen, sondern auch um unserem Kopf herum – und ständig mitten durch ihn hindurch. Heute spielen die kosmischen Neutrinos in der Gesamtenergiebilanz des Universums praktisch keine Rolle mehr. Aber 380 000 Jahre nach dem Urknall, als das Universum für Licht durchsichtig wurde, weil sich die elektromagnetische Strahlung von der Materie entkoppelte, machten die Neutrinos einen beachtlichen Teil der Gesamtenergie aus: rund zehn Prozent. Und ihr Schwerkrafteinfluss – der von jedem einzelnen Teilchen extrem gering ist, aber in der Summe damals eben doch wirksam war – führte dazu, dass die mit dem Urknall entstandenen zufälligen Dichteschwankungen der Urmaterie geringfügig „geglättet“ wurden, zumindest auf relativ kleinen Skalen.

Anzeige

Dieser Effekt konnte nun erstmals gemessen werden. Der Schlüssel dazu ist die Kosmische Hintergrundstrahlung – das erste Licht, das entstand, als das Universum 380 000 Jahre nach dem Urknall durchsichtig wurde, und in Form von gut 400 Photonen pro Kubikzentimeter bis heute durch den Weltraum flutet. Es hat inzwischen eine Temperatur von nur 2,7 Grad Celsius über dem Absoluten Nullpunkt und strahlt im Mikrowellenbereich.

Es gibt winzige Temperaturschwankungen von wenigen Hunderttausendstel Grad. Sie gehen auf Dichteunterschiede in der Urmaterie zurück und auf Schallwellen, die sich durch diese ausbreiteten, ähnlich wie Musik durch die Luft. Wie beim Klang einer schwingenden Gitarrensaite gab es dabei nicht nur einen Grundton, sondern auch eine Reihe von Obertönen. Diese Obertöne zu messen ist extrem schwierig. Doch der Raumsonde Wilkinson Microwave Anisotropy Probe (WMAP) gelang das Kunststück. Sie konnte den dritten Oberton inzwischen ausreichend genau charakterisieren. In ihm sind die Auswirkungen der Neutrinos gleichsam codiert.

Die Sonde kartiert seit ihrem Start im Jahr 2001 sehr präzise die Temperaturverteilung der Kosmischen Hintergrundstrahlung. 2005 deuteten die Daten zusammen mit anderen Messungen und etlichen Annahmen über die Kenngrößen unseres Universums erstmals auf einen kosmischen Neutrino-Hintergrund hin. Aber erst 2008, als die Astronomen die WMAP-Daten der ersten fünf Jahre Messzeit ausgewertet hatten, waren die Indizien hinreichend unabhängig und statistisch signifikant, um als Entdeckung gelten zu können. Die Fehlerwahrscheinlichkeit beträgt weniger als 0,5 Prozent. „Unsere Messungen bestätigen die theoretischen Voraussagen“, freut sich Eiichiro Komatsu von der University of Texas in Austin, dessen Team die WMAP-Daten akribisch analysiert hat.

Auch über die nur ungenau bekannten Ruhemassen der drei verschiedenen Neutrino-Arten geben die WMAP-Messungen Aufschlüsse. Die Summe der drei Einzelmassen kann nicht größer als 1,3 Elektronenvolt sein. Wenn man noch andere kosmologische Daten berücksichtigt, liegt sie sogar unter 0,67 Elektronenvolt. Zum Vergleich: Die Ruhemasse eines Elektrons beträgt 510 999 Elektronenvolt oder 9,1 ·10–28 Gramm. Die Neutrinos sind also wahre Leichtgewichte. Die Masse aller Neutrinos im All beträgt aufgrund der hoher Zahl dennoch mindestens 0,1 und höchstens 2 Prozent der gesamten Masse beziehungsweise Energiedichte vom heutigen Universum.

WIE FÄNGT MAN GEISTERTEILCHEN?

Ob es jemals gelingt, die Neutrinos aus der kosmischen Frühzeit direkt nachzuweisen, ähnlich wie die der Sonne oder von explodierenden Sternen, ist schwer zu sagen. Bis vor Kurzem hielten die meisten Physiker das für unmöglich. Aber Pijushpani Bhattacharjee vom Goddard Space Flight Center der NASA in Greenbelt, Maryland, hat berechnet, dass man Signaturen der energieärmsten Neutrinos aufspüren könnte – durch ihre Wechselwirkung mit den energiereichsten Neutrinos, die das All durchkreuzen und wahrscheinlich aus der Umgebung Schwarzer Löcher stammen. Das ist zwar noch Zukunftsmusik, aber der Sound in der Urmaterie hat ja gezeigt, dass mit den Mitteln der modernen Wissenschaft selbst die Partitur von geisterhaften Melodien gelesen werden kann. Und so besteht kein Grund daran zu zweifeln, dass in diesem Moment einige Tausend der ätherischen Relikte vom Urknall durch die Seite rasen, auf der dieser Text steht – eine erstaunliche Allgegenwärtigkeit des Unsichtbaren! ■

Von Rüdiger Vaas

KOMPAKT

· Da die kosmischen Neutrinos mit Atomen und Licht fast nicht in Kontakt treten, sind sie extrem schwer nachzuweisen.

· Doch bei der Kartierung der Kosmischen Hintergrundstrahlung haben sie sich jetzt verraten.

Energie statt Materie

Das Verhältnis der verschiedenen Bestandteile unsers Universums hat sich im Lauf der Zeit drastisch geändert. Heute dominieren die mysteriöse Dunkle Energie und Dunkle Materie, deren Natur die Astronomen nicht kennen. Die gewöhnliche Materie macht nicht einmal fünf Prozent der Gesamtenergiedichte aus. Vor 380 000 Jahren, als die jetzt noch messbare Kosmische Hintergrundstrahlung freigesetzt wurde, waren die Verhältnisse ganz anders. Photonen und die bereits in der ersten Sekunde des Alls „befreiten“ Neutrinos hatten damals einen signifikanten Anteil an den Ingredienzen der Welt. Inzwischen sind sie äußerst verdünnt. Die Dichte der Dunklen Energie scheint dagegen aus unerfindlichen Gründen konstant zu bleiben – dies erklärt, warum ihr prozentualer Anteil im Universum so stark gestiegen ist.

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Pho|to|vol|ta|ik|an|la|ge  〈[–vl–] f. 19〉 = Fotovoltaikanlage

Ver|fas|sungs|be|schwer|de  〈f. 19; Rechtsw.〉 außerordentliches Rechtsmittel (Beschwerde) gegen hoheitliche Akte, die verfassungswidrig sind od. den Bürger in seinen Grundrechten verletzen; Sy Verfassungsklage … mehr

Schwe|fel|koh|len|stoff  〈m. 1; unz.; Chem.〉 unangenehm riechende Flüssigkeit

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige